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Fröhliche Scholastik Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters
Fröhliche Scholastik
Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters




Frank Rexroth

Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406725210 (ISBN: 3-406-72521-X)
505 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, September, 2018, mit 8 Abbildungen in Farbe und 6 Karten

EUR 29,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Im mittelalterlichen Europa ereignete sich eine Revolution, die bis heute unser Leben bestimmt: Gelehrte befreiten sich von den Glaubensgewissheiten der Vergangenheit und gingen ihren eigenen Fragen nach. Frank Rexroth lässt in seinem Buch so anschaulich und quellennah wie nie zuvor das Leben der mittelalterlichen Gelehrten, ihre neuartigen Schulen, ihre Emotionen, Ideen und Entdeckungen lebendig werden und zeigt, wie schließlich das entstand, was wir heute Wissenschaft nennen.

Als Peter Abaelard im 12. Jahrhundert den Vorrang der Vernunft in allen Fragen verkündete (und noch dazu ein Verhältnis mit seiner Schülerin Heloise begann), war das ein Skandal. Doch er war nicht der Einzige, der eigensinnig sein Wissen selbst erforschen und sein Leben dem neuen Projekt des «scholastischen» Wissens verschreiben wollte. Frank Rexroth erzählt, wie sich Schüler zu neuen Gruppen und Schulen zusammenfanden, beobachtet ihre Treue zum Lehrer, ihre Rangstreitigkeiten und ihre lebenslangen Bindungen. Er zeigt auf faszinierende Weise, wie Hand in Hand mit der neuen Lebensweise intellektuelle Veränderungen vor sich gingen, die bis heute fortwirken: Gelehrtes Wissen fächerte sich in unterschiedliche Disziplinen auf, es musste strengen Wahrheitsansprüchen genügen – und sollte auch noch nützlich sein. Am Ende dieser epochalen Wende europäischer Intellektualität steht die Geburt der Universität.

Frank Rexroth ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
Rezension
Im Mittelalter findet eine Wissenschaftsrevolution statt, die mit dem Begriff Scholastik gefasst wird, die mit der Ausprägung der großen christlichen Lehrsysteme einhergeht, wie sie in Thomas von Aquins „Summa“ wohl ihren Höhepunkt erfahren haben. Es handelt sich um den Versuch, den christlichen Glauben mit Mitteln der Vernunft darzustellen. Gelehrte befreiten sich von den Glaubensgewissheiten der Vergangenheit und gingen ihren eigenen Fragen nach incl. des Vorrangs der Vernunft in allen Fragen. Die sog. Scholastische Theologie bringt im Hochmittelalter eine einzigartige Synthese aus (griechischer) Philosophie und (abendländischer) Theologie hervor; sie wird die (römisch-katholische) Kirche bis heute prägen mit herausragenden Vertretern wie Thomas von Aquin, Albertus Magnus oder Anselm von Canterbury. Aber auch das Mönchtum (Bernhard von Clairvaux) und die Mystik (Meister Eckhart) bringen entscheidende Anregungen. Gelehrtes Wissen fächerte sich in unterschiedliche Disziplinen auf, es musste strengen Wahrheitsansprüchen genügen – und sollte auch noch nützlich sein. Am Ende dieser epochalen Wende europäischer Intellektualität steht die Geburt der Universität.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 13

I. Gegen die Zeit 19

1. Ein produktiver Anachronismus 20
Bisherige Erklärungen: Heroisierende Meistererzählungen 21
epochale Grenzsteinversetzungen 23
... und lehrhafte Parabeln 27
2. Die Scholastik: Gelehrtes Wissen bezieht sich
erstmals auf sich selbst 33
Gelehrter Eigensinn 33
Scholastik als die Kultur von Schulen 37

II. Schule der Loyalität: Lehren und Lernen im früheren Mittelalter 43

1. Studieren, um ein guter Christ zu sein? Schulen im früheren Mittelalter 44
Lesen lernen 44
Kloster- und Kathedralschulen 50
2. Lieben müssen: Normen für das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern 53
Alles richtig machen: Wissen wird vom Lehrer an den Schüler weitergegeben 53
Körper-Sprache und ein überforderter Pädagoge 61
3. Soziale Gruppen und Intimität 65
Esoterik, Agon und Gruppenbildung 65
Freundschaft und Liebe 70
Intimität 74

III. Gruppen von Enthusiasten: Die Schule als utopischer Ort in der Ära der Kirchenreform 79

1. Ein dritter Weg: Die freien Schulen 80
Verknappung von Aufmerksamkeit 80
Die Sieben freien Künste unterwegs 83
Wanderlehrer und was so verwerflich an ihnen erschien 88
2. Leben in Gruppen: Persönliche Bedürfnisse und kollektive Lösungen in der Umwelt der Schulen 98
Die Apostel der Ordnung und der Verlust der klaren Kategorien 98 Persönliche Entscheidungen, Folgen für das Kollektiv: Gruppen von Eremiten 108
Meister und Schüler — ein utopisches Projekt 111

IV. Die Renaissance des wissenschaftlichen Denkens und Wissens (um 1070 — 1115) 119

1. Das gelehrte Wissen wird eigensinnig 120
Lehren, ein Lebensentwurf Wilhelm von Champeaux um im 120
2. Höheres Wissen: Neu verstanden, neu gebraucht 127
Schul-Betrieb 127
Anfänge wissenschaftlicher Kommunikation 132
3. Eine neue Episteme im Werden 136
Reflexivität, Disziplinarität, Zeitindex, operativer Begriff von «Wahr» und «Falsch» 136
Wahrheitstreue und ritualisierter Widerspruch:
Transformationen der Schüler-Lehrer-Intimität 146

V. Peter Abaelard und die neue Wissenschaft 153

1. Traditionen beschleunigen 154
Der Ausnahme-Magister 154
Leben und Werk 159
2. Das neue Wissen und seine erneuerten Bedingungen 167
Übernahmen und Katalysen 167
Neue Zuordnungen: Begabt gegen fleißig, jung gegen alt, wahrheitstreu gegen lehrertreu 173
3. Sie et Non: Die Domestizierung des Irrtums und die Apologie des Zweifels 178
Verschieden und durchaus gegeneinander gerichtet 178
Theorie und Praxis der Respektlosigkeit 183

VI.Abaelards Schulen: Eine Sozialgeschichte der Wahrheit 185

1. Schulen, lebenslang 186
Die Anfänge 186
Wie entstehen die Schulen? 189
Was tun Lehrer und Schüler, was tun Schüler unter sich? 192
2. Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Frechheit: Disputative Annäherung an das Unerreichbare 194
Am Ardusson 194
Philosophieren, eine Lebensform 197
Frechheit in Demut: Die Intimität zwischen Schülern,
Lehrern und dem Gegenstand des Forschens 199
3. Die neue Wissenschaft in der Kritik 205
Walter von Mortagne und Abaelard 205
Wilhelm von Saint-Thierry und Bernhard von Clairvaux 206

VII. Das Milieu der Schulen in Paris 215

1.Andere Köpfe, andere Horizonte 216
Alternative Wege des Denkens und Arbeitens 216
Abschied vom eremitischen Ideal: Stadt, Antiken-Imaginationen und die Einsamkeit unter den Menschen 223
2. Die erstaunlichste Stadt des scholastischen Universums 226
Doppelter Aufschwung: Zentrum der Monarchie, Zentrum der Wissenschaft 226
Paris, ein Mnemotopos 235
Eine Außenperspektive: Die Deutschen und die neue Wissenschaft 239
3. Europa nach 1150: Wissen wird dienstbar und anschlussfähig 245
Generationenwechsel: Die Macht fängt an, mit der Wissenschaft zu rechnen 245
Die Schulen und das jüdisch-muslimische Wissen: Toledo 248

VIII.Wissen erzeugt und ordnet die Dinge der Welt 253

1. Gelehrte und Ungelehrte, Wissenschaft und Laienverstand 254
2. Schule und Kloster: Wechselseitige Zuschreibungen 257
Habituelle Nähe: Mönche und Gelehrte 257
Distanzgesten. Die Arroganten, die Naiven und die Oberflächlichen 261
3. Scholastischer Wissenschafts- und humanistischer Bildungsdiskurs 264
Eine «Renaissance des 12. Jahrhunderts»? 264
Humanismus, Bildung, Briefkultur 267
Zweierlei Lebensentwürfe 272
Die Humanisten und die scholastischen Techniken 278
Expertenbriefe, Experten, Expertenkulturen 280

IX.Wahrheit und Nützlichkeit 285

1. Experten der Nützlichkeit: Jura und Juristen 286
Reisen befremdet: Die Scholastiker und die neue Wissenschaft vom Recht 286
Funktionale Wissenschaft: Legistik und Kanonistik 291
2. Wechselseitige Wahrnehmungen prägen den Habitus 299
Nähe und Differenz 299
Abgrenzungsgesten: Die Kopfmenschen und die Schönlinge 304

X. «Wir, die Universität»: Die Gelehrtengilde 311

1. Paris, gleich nach 1200 312
Zellteilungen und Amalgame 312
Die Gilde der Magister und der Scholaren 315
2. Die Universität der Gegensätze 320
Die konservative Revolution: Ordnung, Gruppenzwang, Präsenzpflicht 320
... und innere Freiheit 325
Bologna, Oxford und die Ausbreitung der Universitäten 329
Exzellenzwettbewerbe 338
Epilog 343

Anhang

Dank 352
Anmerkungen 355
Abkürzungen 435
Quellen 437
Literatur 448
Nachweis der Abbildungen und Karten 495
Personenregister 496
Ortsregister 502