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Das Versprechen mobiler Freiheit Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy
Das Versprechen mobiler Freiheit
Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy




Heike Weber

Transcript
EAN: 9783899428711 (ISBN: 3-89942-871-4)
368 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2008, zahlr. Abb.

EUR 29,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Am Beginn des 21. Jahrhunderts fungieren MP3-Player, Handy oder Laptop als stete Begleiter des Menschen. Jedoch fanden bereits zuvor zahlreiche elektronische Geräte als »Portables« ihren mobilen Platz in Transport- und Kleidungstaschen oder direkt am Körper. Ihr ortsunabhängiger Gebrauch veränderte Vorstellungen von »privat« und »öffentlich«, von Körper, Technik und Identität. Anhand der Produktkultur und Aneignungsgeschichte von Kofferradio, Kassettenrekorder und Walkman sowie dem Handy analysiert dieses Buch die mit Portables eingeübten neuen Formen des Technikgebrauchs, des sozialen Miteinanders und der Mobilität und stellt damit die aktuelle Debatte um eine »mobile Revolution« erstmals in eine historische Perspektive.
Rezension
Wie kaum etwas zweites prägen uns und unsere Gesellschaft die Massenmedien; sie bringen nicht nur technische Veränderungen mit sich, sie verändern auch uns selbst, unsere Kommunikationsformen, unseren Lebensalltag, unsere Kultur ... Technikgeschichte ist mithin immer Kulturgeschichte. Dieser informative Band erläutert das am Beispiel der tragbaren Geräte (Portables) von Kofferradio, Walkman und Handy, die die zweite Hälfte des 20. Jhdts. geprägt haben. Ihr ortsunabhängiger Gebrauch veränderte Vorstellungen von »privat« und »öffentlich«, von Körper, Technik und Identität. Anhand der Produktkultur und Aneignungsgeschichte von Kofferradio, Kassettenrekorder und Walkman sowie dem Handy analysiert dieses Buch die mit Portables eingeübten neuen Formen des Technikgebrauchs, des sozialen Miteinanders und der Mobilität und stellt damit die aktuelle Debatte um eine »mobile Revolution« erstmals in eine historische Perspektive.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Konsum, Technik, Medien, Mobilität, Kultur
Adressaten:
Technik-, Konsum- und Kulturgeschichte, Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaften
Heike Weber (Dr. phil.) ist Technikhistorikerin und forscht und lehrt zurzeit an der TU Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Technik-, Konsum- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts.
WWW: www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=tdt-weber

Interview mit Dr. phil. Heike Weber:
1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Angeblich befinden wir uns derzeit inmitten einer ›drahtlosen‹, ›mobilen‹ Revolution und werden durch Laptop oder Handy zu ›postmodernen Nomaden‹. Was in der aktuellen Debatte fehlt, ist der Blick zurück: Drahtlosgeräte wie das Kofferradio oder der Kassettenrekorder prägten bereits in den vergangenen fünf, sechs Jahrzehnten neue Freizeit- und Sozialformen, und mit dem Walkman wurde es sogar normal, sich im Öffentlichen per Kopfhörer einen abgekapselten Privatraum zu kreieren.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Über diese Debatte zur ›mobilen Revolution‹ hinaus zeigt das Buch, dass es nicht einseitig die Technik ist, die unser Leben verändert. Vielmehr partizipieren wir selbst als Konsumenten und Techniknutzer am technischen Wandel. Denn indem wir z. B. iPod oder Handy in unseren mobilen wie häuslichen Alltag integrieren, entstehen neue Praxen und Bedeutungen, von denen die Produzenten oft nichts geahnt haben. Technikentwicklung geschieht im Zusammenspiel von Produktion und Konsumtion.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Von der Handynutzung aufgerüttelt, entwickeln Soziologen derzeit neue Gesellschaftstheorien. Getrennt davon arbeiten Innovations- und Technikforscher an Konzepten zum ›aktiven‹, die Technik mitformenden Nutzer. Das Buch verbindet diese Debatten. Es arbeitet die Ähnlichkeiten, Kontinuitäten und Unterschiede zwischen der mobilen Musikhör- und der Mobilfunkkultur heraus. Zugleich zeigt es, dass nicht etwa Transistor oder Digitalfunk den technischen Wandel bestimmten, sondern Nutzervorstellungen und Nutzungen.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit sämtlichen Technikpropheten, die davon ausgehen, dass wir uns ›jederzeit und überall‹ per Technik vernetzen und mobil konsumieren wollen. Und die dabei zumeist verdrängen, dass die angeblich ›mobile Freiheit‹, die ein solcher Technikeinsatz verspricht, zugleich mit Zuständen höchster Unfreiheit, Starrheit und Immobilität einhergeht, worauf Paul Virilio bereits mit dem Begriff des ›rasenden Stillstands‹ verwies.

»Ein Traum von Unabhängigkeit steht im Mittelpunkt eines neuen Buches über die ›Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy.‹ Als Dissertation vorgelegt von der Berliner Technikhistorikerin Heike Weber, befasst sich die etwa 350 Seiten starke Abhandlung, so der Titel des Buches, mit dem ›Versprechen mobiler Freiheit‹.
Tragbare Konsumelektronik, so eine Leitthese der Autorin, verbindet sich in der Zeitgeschichte wie in der Gegenwart immer wieder mit dem Wunsch nach Autonomie, Ortsunabhängigkeit und Beweglichkeit - Idealvorstellungen, die sich im Kennbegriff der ›Mobilität‹ verkörperten und hier als eine doppelte Mobilisierung von Technik wie Nutzern angesprochen werden. Wird dieser Wunsch nach Mobilität in den gegenwärtigen Diskursen rund um Handy, Laptop und MP3-Player einer aufgeschlossenen Konsumentenschar gleichsam als neu erfunden präsentiert, so hat er doch, wie Weber zeigen kann, seine historischen Wurzeln.
Die Untersuchung konzentriert sich auf Radioportables der 1950er und 1960er Jahre, die Kassettenrekorder der 1970er und 1980er und den Mobilfunk vorwiegend der 1990er Jahre, wobei auch deren Sonderformen wie der Walkman, der Pager oder das Autotelefon Berücksichtigung finden. Anhand von Quellen der Nutzer- wie der Produzentenseite sowie aus dem Bereich des Mediating, die hier als aussagekräftig für ›anonyme‹ Technisierungsprozesse betrachtet werden, werden unterschiedliche Nutzer- und Nutzungsvorstellungen portabler Konsumelektronik, ausgewählte Debatten und Kontroversen sowie technische Vorbedingungen und Eigenarten der betrachteten Geräte dargestellt.
Als methodisch-theoretische Rahmensetzung nutzt die Autorin den Begriff der ›user de-signs‹. An theoretische Debatten und Großtheorien aus dem Bereich Technikgeschichte und STS anknüpfend, argumentiert Weber für einen neuen Ansatz, die soziale Konstruiertheit technischer Entwicklungen (Stichwort: ›social shaping of technology‹) zu analysieren: Gleichwohl unter dem Schlagwort der ›nutzerzentrierten‹ Analyse angeboten, versucht Weber dem Konsumenten auf eine eher vermittelte Art und Weise nahe zu kommen. Denn indem Prozesse der Technisierung und Technikentwicklung in ihrer Komplexität kaum mehr einzelnen Nutzern, Produzenten oder Konsumenten direkt zuzuordnen sind, verliert eine auf einzelne Personen fokussierte Analyse an Plausibilität. Stattdessen versteht Weber Technikentwicklung als ›Wechselwirkung zwischen user de-signs der Produktions- und Konsumtionssphäre‹, wobei auch die Objekte selber als ›Vermittler von user-de-signs‹ in die Analyse mit einbezogen werden. Der Begriff der ›user-de-signs‹ wurde in Zusammenarbeit mit Gwen Bingle bereits in einem Vorläuferprojekt zum technischen Konsum entwickelt.
Auf diese Weise nähert sich Weber ausgewählten portablen Elektronikgeräten von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. Räumlich konzentriert sich die Untersuchung auf die Bundesrepublik Deutschland. Sowohl im Bereich der eher produzentenseitigen technischen Entwicklung wie im Bereich der konkreten Nutzungsweisen und Adaptionen werden aber auch transnationale Kontextualisierungen immer wieder gesucht.
Neben der grundsätzlichen Frage nach der Formung technischer Geräte im Wechselspiel von Produzenten, Nutzern und Mediating verfolgt die Studie auf einer theoretischen Ebene eine Vielzahl weiterer Interessen. Angesprochen werden so unter anderem Veränderungen von Raum-Zeit-Verhältnissen durch die Nutzung portabler Elektronikgeräte und die Hybridisierung von Räumen, die Beziehung technischer Geräte und Körperllichkeit unter der Frage der ›wearability‹ und dem Technik-Mensch-Verhältnis unter dem Begriff der Cyborgisierung.
›Das Versprechen mobiler Freiheit‹ - Bleibt noch zu fragen: Wird es eingelöst? Die Autorin vermag hier auf Grund des ambivalenten Charakters tragbarer Konsumelektronik keine eindeutige Antwort zu geben. Als Mobilitätsermöglicher auf der einen, als Garanten der Stabilität in der Fremde wie im eigenen Haus erfüllten und erfüllen Portables unterschiedlichste Funktionen, die dem hochgradig normativ aufgeladenen Mobilitätsdiskurs keine direkte Entsprechung bieten. Geformt im Wechselspiel von Nutzerbildern der Produzenten, Konsumenten und Mediating-Instanzen, kristallisierten sich nach Weber in den Portables letztlich widersprüchliche Ziele, Wunschvorstellungen und Praktiken. Als Tendenz freilich hebt die Autorin die Statik der Portable-Nutzung eher hervor als ihre Dynamik: Nicht das Auto, nicht der Vogel als Leitbilder der Portable-Produzenten, sondern eher das Laufband verkörperten die Lebenswirklichkeit tatsächlicher Portable-Nutzung. Praxis und Anspruch, Projektion und Alltagswirklichkeiten werden in diesem Buch auf geschickte Art und Weise ineinander verflochten und formen sich zu einem umfassenden Bild historischer wie gegenwärtiger Portable-Kulturen.«
Susanne Schregel
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 9

1.1. Mobilisierung und Raum- und Zeit-Überlagerungen:
Kernprozesse der Normalisierung des mobilen Technikkonsums 12

Mobilität als Mobilisierung von Technik und Nutzer 13
Miniaturisierung der Portables 17
Individualisierung des Konsums bis hin zum Mensch-Technik-Cyborg 21
Mobiler Technikkonsum und die Raum-Zeit-Regimes einer Gesellschaft 24

1.2. Gegenstand, Ansatz und Leitfragen der Arbeit 31

Nutzerkonstruktionen als Untersuchungsperspektive für „anonyme“ Technisierungsprozesse 32
Leitlinien der Untersuchung 33

1.3. Überblick zur Geschichte der Konsumelektronik 35

Skizzierung des (west)deutschen Konsumelektronik-Markts 36
Forschungsbeiträge für eine Geschichte der Portables 39

2. User de-signs – Eine neue Untersuchungsperspektive für
historische Studien zur Technikentwicklung 43


2.1. Herleitung des user de-sign-Ansatzes 44

Ausgangspunkte: Consumption Junction, Mediating, reale und konstruierte Nutzer 45
Der user de-sign-Ansatz – eine erste Annäherung 47
Die Seite der praktizierten user de-signs (I):
Zur Vielschichtigkeit der Konsumentenpraxen 49
Die Seite der praktizierten user de-signs (II):
Zur Normativität praktizierter user de-signs 51
Die Seite der prospektiven user de-signs (I):
Explizite und implizite Nutzerkonstruktionen der Produzenten 52
Die Seite der prospektiven user de-signs (II):
Zur Eigendynamik und Wirkmächtigkeit prospektiver user de-signs 57
Produkte als Vermittler (I): Die Dinge und ihr Design im
Spannungsfeld von Materialität und Dingsemantik 58
Produkte als Vermittler (II):
In den Dingen eingelassene Nutzerkonstruktionen 62
Der Ansatz im Überblick 65

2.2. „Follow the users and user confi gurations!“: Quellen für die Analyse von user de-signs 69

Verbraucher- und Populärmagazine als konsumentennahe Quellen 69
Fach(handels)zeitschriften, Produkt- und Versandhauskataloge als produzentennahe Quellen 74
Zwischen dem Erfassen vorherrschender und dem Erstellen
zukünftiger Nutzerbilder: Nutzer- und Marktforschungsstudien 75
Werbung als Vermittler prospektiver user de-signs 78
Bilder und Objekte als Quellen 79
Abschließende Anmerkungen zu den Quellenbeständen der jeweiligen Fallstudien 83

3. Die Mobilisierung des Radios: Vom Reise- zum Alltagsbegleiter 85

3.1. Radioportables der „Röhren“-Zeit 87

Vom ortsbeweglichen Amateurgerät zum stationären Radiomöbel: Radiohören als häusliche Praxis 87
Tragbare Designs der frühen 1950er Jahre und ihre Nutzerbilder 90
Engpass Energieversorgung: Batterien und Hörkosten der Kofferradios 96
„Hinaus ins Freie“: Kofferradios als saisonale Reisebegleiter 98
Leitlinien der Kofferradio-Gestaltung der 1950er Jahre 103
„Personal“-Designs vor dem Transistor-Taschenradio 105

3.2. Universal- und Taschenempfänger als Erst-, Zweit- und Drittgeräte 109

Eckdaten zur Produktion und Verbreitung von Radioportables 109
Die Transistorisierung des Kofferempfängers (1956 – 1960) 111
„1=3“: Der „Universalempfänger“ als Auto-, Reise- und Heimsuper 113
Die „Brücke zur Heimat“: KW-Radios als Begleiter der Auslandsreise 117
Der Boom der Transistor-Taschenempfänger 119
Ein neuer Markt entsteht: Teenager und die Musik zum Mitnehmen 126
Der Rundfunk als Alltagsbegleiter – Zur Radiohörkultur der 1960er und frühen 1970er Jahre 133

3.3. Radios auf Rädern 142

Der fahrende Hörer der 1950er und 1960er Jahre 143
Verkehrsfunk: Das Autoradio als Sicherheitsfaktor 146
Radiomusik und das „Car-Cocooning“ 149

3.4. Elektronik-„Wearables“ der 1950er und 1960er Jahre 151

Miniaturisierte Bastler-Radios und Hörprothesen 151
„Hören ohne zu stören“ oder „schwer“ hören? Ohrhörer für den Massenmarkt 155
Elektronik in Brille, Armbanduhr oder Kleidung – Zum Leitbild der Wearability 157

4. Kassettenrekorder, Walkman und die Normalisierung des mobilen Kopfhörer-Einsatzes 161

4.1. Der Walkman im Produktkontext der Zeit 162
Zwischen „Musikbox“ und HiFi-Turm: Musikhören in den 1960er und 1970er Jahren 163
Das Tonband für unterwegs: Von der Compact- zur MusiCassette 167
Der Radiorekorder für den Nebenbei-Hörer und den „Hit-Jäger“ 170
Car-HiFi und Stereo-Sound am Henkel für den „mobilen“ Lebensstil 172
Sonys erster Walkman: Der TPS-L2 von 1979 176
Die Pocket Stereos der Einführungsjahre 179
Sonys Produktmanagement 183

4.2. Zwischen Wahrnehmungserweiterung und Eskapismus –
Deutungen des frühen Walkman-Gebrauchs 186

Der Kopfhörer-Träger außer Haus: Erste Momentaufnahmen 187
Das „Walkman-Gefühl“: Der Walkman als Wahrnehmungsprothese 189
„Technik für eine Generation, die nichts mehr zu reden hat“: Der
Walkman als Inbegriff einer Atomisierung durch Konsumelektronik 191
Die „Disco für unterwegs“: Zum Klischee des jugendlichen Walkman-Autisten 195

4.3. Vom „Autismus“ zur „Autonomie“:
Der Kopfhörer als portabler Schutz- und Entspannungsraum 202

Die „feine Art des Musikhörens“: Walk- und Discmans für Klangpuristen 202
Jugendlicher Walkman-Gebrauch am Ende der 1980er Jahre 207
Walkman und Kopfhörer am Ende des 20. Jahrhunderts 209

4.4. Die Kassettenkultur der 1980er Jahre 215

Kassetten und Rekorder für zu Hause, unterwegs und zwischendurch 215
Boombox und Walkman im deutsch-amerikanischen Kulturvergleich 219

5. Mobilfunk: Der lange Weg zum Westentaschentelefon 225

5.1. Kulturen der fernmündlichen Kommunikation vor der
Liberalisierung des Telekommunikationssektors 227

Häusliches Telefonieren vor der Verbreitung von Drahtlosgeräten 228
Zum Leitbild der elitären Autotelefonie im A-, B- und C-Netz 231
„Jedermann-Funk“: Zu den Nutzerkulturen des CB-Hobbyfunks 235

5.2. Telepoint, Pager, Schnurlostelefon – Erste Mobilisierungen der Alltagskommunikation der 1990er Jahre 239

Telepoint: Das Scheitern der öffentlichen Schnurlostelefonie 239
Ständige Erreichbarkeit als Fessel, Freiheit oder Fun?
Funkrufsysteme der 1980er und 1990er Jahre 242
„Schnurlose Freiheit“ beim Haustelefon 248

5.3. GSM und das multifunktionale Handy für „Jedermann“ 250

5.3.1. GSM-Planungen und die Rolle des Handys um 1990 252
Der GSM-Standard: Planungsarbeit und Hauptmerkmale 252
GSM-Dienste und ihre prospektiven Nutzer 256
Gefangen im Netz? Handys in 1G-Mobilfunknetzen 258
Zur Rolle des Handgeräts in den geplanten GSM-Netzen und in PCN 260
5.3.2. D- und E-Netze und die Handy-Ausbreitung in der BRD 262
Überblick über die deutschen GSM-Netze (1992 - 2000) 262
GSM als europaweite professionelle Mobiltelefonie (1992 – 1994) 266
Ein Massenmarkt entsteht: Vertragspakete, Tarife und Prepaid-
Karten der zweiten Hälfte der 1990er Jahre 270
„Schick“ und „handlich“: GSM-Handys um 1995 273
Lifestyle, Ästhetik, Fun: Handy-Designs am Ende der 1990er Jahre 277
Exkurs: Nokias Produktmanagement zwischen globaler
Produktion und regionaler Nutzerorientierung 282
Vom „Yuppie-Equipment“ über die „Notrufsäule“ zur „virtuellen
Nabelschnur“: Die Normalisierung des Handys um 2000 284
„Jeder braucht ein Handy, eigentlich!“ – Teenager und Handys 290
Die SMS: Vom Kult zum Kommerz 292
Mit dem Handy unterwegs: Zu den neuen Raum-Zeit-Regimes des „Handymenschen“ 300
Ausblick: „Any service, anywhere, at any time“ im 3G-Mobilfunk 307

6. Zusammenfassung und Ausblick: „Mobil sein“ in einer „Überall-und-Jederzeit“-Kultur 311

Erklärungswert der user de-signs und Forschungsausblick 312
Spezifi ka der Mobilisierung von Rundfunk, Musik und Ferngespräch 315
Die langzeitige „Evolution“ der „mobilen Revolution“ 323
Portables als Ikonen einer neuen Mobilitätskultur 327

Literatur- und Quellenverzeichnis 333
1. Unveröffentlichte Quellen 333
2. Verwendete zeitgenössische Periodika 334
3. Literatur 334
4. WWW-Links 361
Abbildungsverzeichnis 363
Dank 365

Leseprobe:
1. Einleitung
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fungieren tragbare elektronische Geräte wie
MP3-Player, Handy oder Laptop als stete Begleiter des Menschen. Viele Nutzer
sehen sich kaum mehr im Stande, ihren Alltag ohne solche mobilen Mediengeräte
zu meistern. Denn mit diesen ist das Versprechen einer „mobilen
Freiheit“ verbunden: Der Laptop beispielsweise wird mit dem Bild des zufriedenen
Nutzers vermarktet, der auch am Urlaubsstrand oder im Grünen
arbeiten kann. Tragbare Geräte sollen ihren Nutzern die Freiheit geben, die
Grenzen ihres angestammten Wohn- oder Arbeitsraums zu überschreiten und
auch abseits dieser hoch technisierten Orte Gleiches tun und leisten zu können.
Die vermehrte Verwendung drahtloser Digitaltechniken in den Jahren
um 2000 hat manche Autoren sogar dazu bewogen, eine „mobile Revolution“
zu diagnostizieren; andere prognostizieren gar den Ausbruch eines neuen „nomadischen“
Zeitalters.1
Das Versprechen einer mobilen Freiheit sowie die konstatierte „mobile Revolution“
haben jedoch ihre historischen Vorläufer und Wegbereiter. Durch ein
tragbares Design verloren bereits zahlreiche elektronische Mediengeräte der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre einstige Verankerung im Haushalt.
Als so genannte „Portables“ – der Begriff diente bereits zur Bezeichnung von
Kleinstradios der 1950er Jahre – fanden sie ihren mobilen Platz in Transportund
Kleidungstaschen oder direkt am Körper ihrer Besitzer. Portables bilden
damit einen Gegenstrang zur pauschal als „Privatisierung“ oder „Verhäuslichung“
beschriebenen Alltagstechnisierung. Indem die privaten Haushalte
über mehr und mehr Technik verfügten, wurden nach dieser Beschreibung
einst öffentlich-kollektiv ausgeübte Praxen durch den häuslichen Technikgebrauch
ersetzt – das Hören öffentlich aufgeführter Musik beispielsweise durch
das Hören am eigenen Radio, der Kinobesuch durch das heimische Fernsehen.
Allerdings gerät in der Privatisierungsthese allzu leicht aus dem Blick, dass
privat besessene Technik ebenfalls in den öffentlichen Raum drang. So wurde
1 | Vgl. z. B. Steinbock, Dan: The mobile revolution. The making of mobile services
worldwide. London, Sterling 2005; Rheingold, Howard: Smart Mobs. The Next Social
Revolution. Cambridge 2002; Reischl, Gerald; Sund, Heinz: Die mobile Revolution. Das
Handy der Zukunft und die drahtlose Informationsgesellschaft. Wien, Frankfurt a. M.
1999. Vom nomadischen Zeitalter spricht: Makimoto, Tsugio; Manners, David: Digital
Nomad. Chichester 1997.
10 | DAS VERSPRECHEN MOBILER FREIHEIT
mit Audioportables das Hören von Musik teils auch wieder zurück an die Öffentlichkeit
„getragen“. Portables wurden letztlich sowohl zu Hause als auch
mobil und zudem zunehmend individuell eingesetzt; sie steigerten also die
Technisierung und Medialisierung aller Lebensbereiche.
In der BRD verbreiteten sich in den späten 1950er und den 1960er Jahren
zunächst Radios „ohne Schnur“. Ihre Diffusionsrate liegt bis heute weit
über derjenigen anderer Portables. Sie wurden üblich, um im Freien, im Auto
oder zu Hause abseits des stationären Heimgerätes Radio zu hören, und hatten
entscheidenden Anteil daran, dass der Rundfunk zum paradigmatischen
„Begleitmedium“2 des Alltags wurde. Dem folgten in den 1960er und 1970er
Jahren der batteriebetriebene Kassetten- und der Radiorekorder. Schließlich
wurden sogar einzelne Generationen nach jenen Portables benannt, welche
die Zeit ihres Aufwachsens offensichtlich nachhaltig prägten: Der „Walkman-
Generation“ der 1980er Jahre folgte so die „Gameboy-Generation“ der frühen
1990er Jahre, die um 2000 von der „SMS-Generation“ abgelöst wurde.
Dieses Buch behandelt die Kultur- und Technikgeschichte solcher tragbaren
Geräte. Dabei konzentriert es sich auf das Kofferradio, den Kassettenrekorder,
und zwar insbesondere in seiner Sonderform des Walkmans, sowie
auf das Handy samt seiner SMS-Funktion (Kapitel 3 bis 5).
Die Entwicklung der Portables und ihrer Aneignungsweisen war keineswegs
geradlinig oder gar eine unabwendbare Folge technischer Inventionen wie
etwa des miniaturisierten Transistors oder des Mikrochips. Vielmehr lassen
sich sowohl die dominanten Produktformen als auch die vorherrschenden
Verwendungspraxen als Ergebnis vielschichtiger gesellschaftlicher Aushandlungen
beschreiben, an denen die Massenkonsumenten ebenso Anteil hatten
wie die Anbieter einer Technik. Um diese gegenseitige Formung von Technik
und Gesellschaft zu erfassen, verbindet das vorliegende Buch die Produktgeschichte
der Geräte mit ihrer Aneignungsgeschichte, und zwar über den Blick
auf so genannte „Nutzerkonstruktionen“ („user de-signs“) und deren Wechselwirkungen
(Kapitel 2). Hiermit sind produzentenseitige Vorstellungen zum
Nutzer, wie sie im technischen Angebot und dessen Vermarktung und Vermittlung
an den Konsumenten zum Ausdruck kamen, ebenso gemeint wie jene
„Konstruktionen“ der Nutzer selbst, die sich durch die Nutzungen und Bedeutungen
der Portables im Alltag der Konsumenten ergaben. Im Zentrum stehen
also nicht die Erfi ndungen im Entwicklungslabor, und es fehlen Elemente
einer klassischen Produktions geschichte wie etwa die Arbeitsbedingungen in
der – inzwischen global verteilt produzierenden – Konsumelektronik-Industrie.
Stattdessen geht es um den Wandel von Technik und Gesellschaft, nachdem
eine Technik am Markt eingeführt wurde.
Die Rede vom „Nutzer“ verweist darauf, dass Konsumieren immer auch
ein aktiver Akt ist: Anders als der Begriff suggerieren mag, beinhaltet „Kon-
2 | Vgl. Kursawe, Stefan: Vom Leitmedium zum Begleitmedium. Die Radioprogramme
des Hessischen Rundfunks 1960 – 1980. Köln 2004.
EINLEITUNG | 11
sum“ nicht nur den Kauf eines Artefakts, sondern die mannigfaltigen Aneignungsformen
in der alltäglichen Verwendung, die über einen funktional
gedachten Zweck-Mittel-Einsatz weit hinausreichen und vor allem auch den
Gebrauch von Dingen als Zeichen berühren.
Indem der technische Wandel aus der Perspektive der Nutzer heraus untersucht
wird, wird auch deren Gestaltungsmacht – ihre Mitwirkung an der Technikformung
und der Technikkultur – deutlich. So waren es in der Geschichte
der Portables die Nutzer, welche die zunächst als temporäre „Reisebegleiter“
konzipierten Geräte zu beinahe ubiquitär eingesetzten „Alltags“- oder gar
„Lebensbegleitern“ werden ließen. Als Pioniere dieser neuen Mobilitätskultur
erwiesen sich dabei weniger die üblicherweise hierfür verantwortlich gemachten
Geschäftsmänner, sondern die Großstadtjugendlichen, die mit ihren
„objets nomades“3 in die Öffentlichkeit zogen, um der Erwachsenen welt ihre
jugendspezifi sche Kultur entgegen zu setzen.
Die nachfolgende Darstellung verfolgt mithin zweierlei Ziele: Auf theoretisch-
methodischer Ebene wird die Entwicklung technischer Konsumgüter als
eine Wechselwirkung zwischen unter schiedlichen „Nutzerkonstruktionen“
gefasst. An solchen Nutzerkonstruktionen richteten die Akteure ihr Handeln
aus. Dem Historiker helfen sie im Rückblick, die überwiegend anonym verbleibenden
Technisierungsprozesse beschreiben zu können. Auf empirischer
Ebene geht es um eine erste Beschreibung der Entwicklung des mobilen Technikkonsums
in der BRD, wobei jede der Fallstudien für sich gelesen werden
kann.
Eine historische Untersuchung, welche die Entwicklung und Verwendung
mehrerer Portables in Bezug zueinander setzt, fehlt bisher. In einer solchen
Geschichte der Portables treffen Techniken der Beschleunigung in Form von
Kommunikations- und Verkehrstechniken aufeinander. Verkehr und Transport,
Kommunikation und die davon geprägten Raum-Zeit-Regimes einer Gesellschaft
wurden bisher allerdings erst selten im Zusammenhang betrachtet.4
Daher ist in Kapitel 1.1. zunächst eine Herausarbeitung jener Spezifi ka zu leisten,
welche die Mobilitätskultur der Portables kennzeichnen, um die besondere
Kombination von Mobilität, der Allgegenwart tragbarer technischer Geräte
und ihrer körpernahen Verwendung zu fassen. Kapitel 1.2. stellt die Auswahl
der Fallbeispiele und die Leitlinien der Untersuchung vor, und Kapitel 1.3.
schließlich gibt einen Überblick zur Geschichte der Konsumelektronik.
3 | Vgl. Attali, Jacques: Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique. Paris 2001
(1. Aufl . 1977), hier S. 199.
4 | Als erste Ansätze vgl. Sheller, Mimi; Urry, John (Hg.): Mobile Technologies of the
City. London, New York 2006; Urry, John: Mobilities. Cambridge 2007; Kellerman,
Aharon: Personal Mobilities. London, New York 2006. Für den Begriff des „Raum-Zeit-
Regimes“ vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie
des Raums. Frankfurt a. M. 2006.
12 | DAS VERSPRECHEN MOBILER FREIHEIT
1.1. Mobilisierung und Raum- und Zeit-Überlagerungen:
Kernprozesse der Normalisierung des mobilen
Technikkonsums
Tragbare Musik- wie auch weitere Unterhaltungs- und Kommunikationsgeräte
sind im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart selbstverständlich
geworden, dass die Veränderungen, die mit ihrem Gebrauch einhergingen,
kaum mehr refl ektiert werden. Die über die Zeit hinweg hergestellte
Vertrautheit alltäglicher Routinen lässt das Hören von Musik im Garten
oder das Tragen eines Walkmans in der U-Bahn „normal“ erscheinen. Für
solche Effekte der Gewöhnung an eine Technik hat die Techniksoziologie
den Begriff der „Normalisierung“ geprägt – auch, um darauf aufmerksam zu
machen, dass ein „normaler“ Technikgebrauch erst das Ergebnis eines längerfristigen
und oft konfl iktreichen Prozesses der gesellschaftlichen Aneignung
und Aushandlung ist, in dessen Verlauf sich eine Gesellschaft über Technikform
und -verwendung verständigt. Erst der historische Rückblick durchbricht
das Selbstverständnis der „ordinary consumption“;5 das Neue oder Umstrittene
eines Produktangebots sowie nicht genommene Wege geraten ebenso
wieder in den Blick wie solche Aushandlungsprozesse.
Auch die Mobilitätsformen und Konsumpraxen, die mit der Portable-Verbreitung
einhergingen, waren zunächst sehr wohl ungewohnt und teilweise
auch umstritten, und sie restrukturierten auf lange Sicht manche gesellschaftlichen
Koordinaten wie auch die jeweilige Technikkultur. Erst im Prozess der
Normalisierung der Portables wurde ausgehandelt, wo und wann ein Gebrauch
als sinnvoll oder als unangemessen galt. Solche gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse
bestimmten zum einen den Gebrauch der Portables, die längst
nicht „überall und jederzeit“, wie es die gängige Vermarktungsfl oskel für Portables
suggerierte, verwendet wurden; zum anderen beeinfl ussten sie auch das
Gerätedesign und dessen Miniaturisierungsstufe.
Die tragbare Gestaltung von Technik ist zwar keine Erfi ndung des elektronischen
oder digitalen Zeitalters. Verkleinerte Instrumente sind für wissenschaftliche
Expeditionen stets unabdingbar gewesen; die Taschenuhr begleitete
den Eisenbahnreisenden des 19. Jahrhunderts, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
gelangte die Standardzeit mit der Armbanduhr an das Handgelenk eines
Jeden.6 Dennoch stellt der Gebrauch mobiler elektronischer Mediengeräte
eine neue Qualität von Mobilität und Technikgebrauch in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts dar. In seiner Beschreibung mobiler Internet-Nutzer,
5 | Vgl. Gronow, Jukka; Warde, Alan (Hg.): Ordinary Consumption. London, New York
2001.
6 | Baudrillard sah die Armbanduhr gar als „bezeichnend für die irreversible Tendenz
der modernen Gegenstände: Miniaturisierung und Individualisierung“, vgl. Baudrillard,
Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt. Wien 1974, S. 121.
Zur Armbanduhr vgl. auch Stephens, Carlene; Dennis, Maggie: Engineering time: inventing
the electronic wristwatch. In: British Journal for the History of Science 33, 2000,
S. 477 – 497.
EINLEITUNG | 13
die er „Smart Mobs“ nennt, spricht so etwa Howard Rheingold von „blurred
places“, „softened time“ und „colonized lives“, um die Folgen der poten tiell
ubiquitären Verwendung von Computer und Internet zu kennzeichnen.7 Der
Blick zurück zeigt, dass bereits die vorhergehende Portable-Verbreitung
an diesen grundsätzlichen gesellschaftlichen Ordnungskategorien – Raum-,
Zeit- sowie Körper- und Identitätsvorstellungen – gerüttelt hat. Diese Veränderungen
werden im Folgenden als einzelne Prozesse herausgearbeitet. Sie
bedingten sich gegenseitig, werden hier aber analytisch getrennt und vor der
Folie erster Forschungsergebnisse erörtert; aus ihnen ergeben sich die in Kapitel
1.2. gebündelt vorgestellten Leitlinien der Untersuchung.
Mobilität als Mobilisierung von Technik und Nutzer
Mobile elektronische Medien stehen am Schnittfeld von Transport- und Kommunikationstechniken:
Portables wurden entwickelt, um in der Ferne oder
während der Zeit des Fortbewegens Kommunikations- und Medientechniken
nutzen zu können. Ihre Verbreitung fand entlang des steigenden Verkehrsaufkommens
statt, und sie ergab sich in Teilen auch als Folge des wachsenden Stellenwerts
von Transport und Tourismus, die am Ende des 20. Jahrhunderts die
weltweit bedeutendsten Wirtschaftszweige darstellten.8 Anhaltspunkte auch
für die Mobilitätskultur der Portables geben daher die zahlreichen Stu dien
zur Geschichte der Fortbewegungstechniken sowie die historischen, sozialund
kulturwissenschaftlichen Bestandsaufnahmen zur Überwindung von Zeit
und Raum in der Moderne und zu den Beschleunigungs erscheinungen der
Postmoderne.9 Darüber hinaus sind jene Strömungen in den Sozialwissenschaften
von Belang, die „Mobilität“ als eine zentrale Kategorie der Gesellschaftsanalyse
zu etablieren suchen.10
Distanzen lassen sich am Ende des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu
vorhergehenden Dekaden mit mehr Transportmitteln, schneller und weniger
kostspielig überwinden. Global gesehen kam es durch die Zunahme der Be-
7 | Vgl. Rheingold, S. 190.
8 | Nach Larsen et al. entfallen auf Verkehr und Tourismus 11,7 % der weltweiten Wirtschaftsleistungen,
vgl. Larsen, Jonas; Urry, John; Axhausen, Kay (Hg.): Mobilities, Networks,
Geographies. Aldershot 2006, S. 49.
9 | Vgl. u. a.: Märki, Christoph Maria: Der holprige Siegeszug des Automobils, 1895 –
1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der
Schweiz. Köln 2002; Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung
von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München u. a. 1977; Borscheid,
Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a. M.
2004; Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen
Moderne. Frankfurt a. M. 2004; Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum.
Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt a. M. 1995;
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne.
Frankfurt a. M. 2005.
10 | Vgl. v.a. Urry, John: Sociology beyond societies. Mobilities for the twenty-fi rst
century. London, New York 2000; Urry 2007.
14 | DAS VERSPRECHEN MOBILER FREIHEIT
völkerung, ihre vermehrte tatsächliche Bewegung und ihr verändertes Konsumverhalten
zu einer geradezu explosions artigen Zunahme an Personenverkehr
und Gütertransport. Betrachtet man nur die BRD, so stieg die Verkehrsleistung
recht kontinuierlich von durchschnittlich 1.754 Personenkilometern
pro Einwohner 1950 auf 11.385 Personenkilometer pro Einwohner im Jahr
2000,11 wobei die meisten Wege inzwischen auf die Freizeit und nicht auf den
Beruf entfallen. Das tägliche Pendeln zur Arbeit ist in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts ebenso normal geworden wie das eigene Auto, das die Eisenbahn
als wichtigstes Reisemittel verdrängte und mit dem stets höhere Strecken
für Freizeit- als für berufl iche Zwecke zurückgelegt wurden. Außerdem setzte
sich die jährliche – seit den 1980er Jahren sogar mehrmals jährlich und teilweise
auch per Flugzeug unternommene – Urlaubsreise durch. Das Städtische
wurde zum bevorzugten Wohnort: Lebte 1955 rund ein Viertel der Westdeutschen
in kleinen Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, so wohnten
Mitte der 1980er Jahre nur noch rund 6 % in solchen ländlichen Strukturen,
während der Bevölkerungsanteil der kleinen und mittelgroßen Städte stieg;
der Anteil der großstädtischen Bevölkerung – als Einwohner von Städten mit
über 100.000 Einwohnern – wiederum nahm nur schwach von unter 30 % auf
34 % zu.12 Die von den Zeitbudget-Studien des Statistischen Bundesamtes
erfassten Jugendlichen und Erwachsenen waren 2001/02 über zwei Stunden
am Tag unterwegs, sei es für Einkäufe, Freizeitaktivitäten oder berufl ich bedingt.
13 Dennoch dominierte in Deutschland – bedingt etwa durch die typische
Ausformung von Eigenheimbesitz und Vereinsleben – eine eher auf Sesshaftigkeit
denn steten Ortswechsel ausgerichtete Mobilitätskultur, und so wohnte
um 2000 fast die Hälfte der 40- bis 54-Jährigen im Ort der Eltern und nur 17 %
an einem Ort, der mehr als zwei Stunden Fahrtzeit entfernt war.14
Sowohl das Zurücklegen physischer Distanzen und die hierfür aufgebrachte
Zeit als auch die jeweiligen Verkehrstechniken und hier insbesondere das weit
verbreitete Auto und schließlich die spezifi sche Mobilität im dichten Stadtraum
bilden damit wichtige Fixpunkte für den Portablegebrauch. „Mobilität“,
die zu erreichen bereits Bezeichnungen wie der Reiseempfänger, der Walkman
oder der Mobilfunk versprachen, meint jedoch mehr als nur die physische
Fortbewegung und damit mehr als die quantifi zierbaren Verkehrsereignisse.
11 | Vgl. Kramer, Caroline: Zeit für Mobilität. Räumliche Disparitäten der individuellen
Zeitverwendung für Mobilität in Deutschland. Stuttgart 2005, S. 122.
12 | Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Von den zwanziger zu den achtziger Jahren. Ein
Vergleich der Lebensverhältnisse der Menschen. Wiesbaden 1987; Nolte, Paul: Jenseits
der Urbanisierung? Überlegungen zur deutschen Stadtgeschichte seit 1945. In: Lenger,
Friedrich; Tenfelde, Klaus (Hg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung
– Entwicklung – Erosion. Köln u. a. 2006, S. 477 – 492, hier S. 482.
13 | Ermittelt wurden 136 Minuten, vgl. Kramer, S. 195.
14 | Vgl. Schneider, Norbert F.; Hartmann, Kerstin; Limmer, Ruth: Berufsmobilität und
Lebensform. Bamberg 2001, S. 18.
EINLEITUNG | 15
Zwar bezieht sich Mobilität – sieht man von der „sozialen“ Mobilität als Aufund
Abstieg durch die sozialen Schichten hindurch ab – zunächst auf eine
Bewegung von einem Ort zu einem anderen, sei es in Form von Verkehr, Tourismus,
residentieller Mobilität oder Migration, und die dafür benötigte Zeit.
Mobilität bezeichnet darüber hinaus jedoch auch die damit einhergehenden
Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen, die historisch starken Veränderungen
unterlagen.15 Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Mobilität
durchaus negativ konnotiert: Die Denkfi gur des Nomaden beispielsweise
stand für Chaos und zeigte einen kulturlosen Charakter an, der unfähig war,
Wurzeln zu schlagen; Arbeiten zu Mobilität gingen außerdem implizit davon
aus, dass der Mensch sich lieber nicht bewege, soweit er es vermeiden könne.
Im Gegensatz dazu ist das Mobilsein inzwischen zu einem Leitbild geworden;
„Mobilität“ impliziert Vorstellungen von Autonomie und fl exibler Anpassung
an sich schnell ändernde Situationen, und die technischen Möglichkeiten der
Raumüberwindung werden zugleich auch als Freiheits- und Emanzipationsversprechen
wahrgenommen.
In der Umgangssprache meint der Begriff das körperliche sowie geistige
„fi t“ und „fl exibel Sein“ und die Offenheit, aber auch die Verfügbarkeit eines
Individuums für unge plante und unplanbare Ereignisse, sei es in der Freizeit
oder im Beruf.16 Im untersuchten Quellenmaterial fungierten die Begriffe
„mobil“ und „Mobilität“ am Ende des 20. Jahrhunderts als Schlagworte einer
Zukunft unbegrenzter Möglichkeiten und dienten kaum mehr der Referenz
auf eine physische Fortbewegung, die offensichtlich als selbstverständlich
galt. Damit hat sich das Bedeutungsfeld des Begriffes weit geöffnet17 und sich
dem lateinischen Ursprung angenähert, wo „mobilis“ „beweglich“ und „biegsam“,
„mobilitas“ „Schnelligkeit“, aber auch „Beweglichkeit“ und „Unbeständigkeit“
bezeichnet.
Diese Ausdehnung des Mobilitätsverständnisses lässt sich auch in der Geschichte
der tragbaren Konsumelektronik verfolgen. Die Form der mit Portables
verknüpften „Mobilität“ verschob sich von konkreten Reisesituationen
hin zum Versprechen, die jeweilige Technik „überall und jederzeit“ einsetzen
zu können und den Besitzer damit aus allen möglichen Abhängigkeiten
frei zu setzten. Diese einseitig-euphorische Interpretation von Mobi lität als
15 | Vgl. dies u. Folgendes: Cresswell, Tim: On the Move. Mobility in the Modern
Western World. New York, Milton Park 2006, S. 25 – 56 (Kap. 2).
16 | So wird Mobilität in einem Essay zum „Jobnomaden“ der Zukunft sogar zum Imperativ,
„(...) mental, sozial und emotional beweglich zu sein – Toleranz, Offenheit, Empathie
und Mut an den Tag zu legen, nach neuen Erfahrungen zu suchen und zu neuen
gedanklichen Horizonten aufzubrechen.“ Vgl. Englisch, Gundula: Das Ende der Sesshaftigkeit.
In: Grosz, Andreas; Witt, Jochen (Hg.): Living at Work. München, Wien 2004,
S. 186 – 191, hier S. 190.
17 | Dies kommt z. B. auch im Brockhaus zum Ausdruck: Wurde „Mobilität“ 1955 in
nur wenigen Zeilen und vor allem als residentielle Mobilität abgehandelt, waren dem
Stichwort 1998 über fünf Spalten gewidmet; Mobilität wurde als eine anthropologische
Grunderfahrung interpretiert.
16 | DAS VERSPRECHEN MOBILER FREIHEIT
„Freiheit“ vergisst jedoch, dass jede Mobilität immer auch mit Momenten der
Immobilität und Unfl exibilität einhergeht. Paul Virilio sprach in seiner Dromologie-
Lehre sogar von einem „rasenden Stillstand“, in dem die gesteigerte
Bewegung schließlich aufgehen werde.18 So über winden wir zwar erstaunliche
Distanzen, verharren aber zugleich im Cyberspace elektronischer Welten auf
der Stelle, und jede Zunahme an Verkehr und Verkehrstempo zeitigt auch eine
Zunahme an Verkehrsstaus und zeitlichen Verzögerungen. Aufgrund dieses
Mobilitätsparadoxes der Gleichzeitigkeit von Bewegung und Beharrung
grenzt die Mobilitätsforschung inzwischen das Potential zur Beweglichkeit
in sozialen und geographischen Räumen als so genannte „Motilität“ von der
physischen Bewegung ab und spricht außerdem von der „virtuellen Mobilität“
etwa des E-Commerce-Geschäfts, bei der Distanzen ohne jeden Anspruch
auf physische Bewegung vom heimischen Wohnzimmersessel aus überbrückt
werden.19
Auch der mobile Portable-Gebrauch wird letztlich mit technischen Abhängigkeiten,
starren Systemen und Zuständen von Immobilität erkauft. So
sind die Geräte zum einen in durchaus starre, zeit-, forschungs- und kostenaufwändige
technische Infrastrukturen eingebunden, die oft erst dann in den
Blick geraten, wenn sie etwa in Form von Funklöchern oder nicht kompatiblen
länder spezifi schen Standards ihren Dienst versagen. Die angebliche Ortsunabhängigkeit
währt also nur so lange, wie die Batterien reichen und eine lokale
Rundfunk- bzw. Mobilfunkversorgung gewährleistet ist. Selbst die eigenbestimmte
Musiktitelwahl beim Kassettenrekorder ist in starre Standards wie
die genormte Philipskassette eingebettet. Zum anderen können die wachsenden
Mobilitätsansprüche zugleich ein Zeichen von geistiger und kultureller
Infl exibilität sein. So dienten Reise-Radios dazu, sich auch in der Ferne in
die vertraute Klang- und Sprachwelt des „Heimat“senders einklinken zu
können und Walkmans dienten nicht nur dem Hören von Musik, sondern der
individuellen Ästhetisierung der durchschrittenen Räume, die mit der selbst
gewählten Klangkulisse unterlegt wurden. In beiden Fällen kompensierte
der mobile Portable-Gebrauch über die eigenkontrollierte Mitgestaltung der
akustischen Sphäre auch die Unwägbarkeiten der Mobilität. Nehmen Fernreisende
in Form von Souvenirs ein Stück der fremden Eindrücke der bereisten
Lebenswelt mit nach Hause, um sich auch später an die gemachten Reiseerfahrungen
erinnern zu können, so nehmen Portable-Nutzer mit ihren Geräten
geradezu in umgekehrter Weise ein Stück ihrer eigenen, häuslich-intimen
Lebenswelt als Wegbegleiter mit, um für die potentielle Fremde gerüstet zu
sein und die durchkreuzten Räume mittels vertrauter Routinen und Medieninhalte
zu domestizieren.20 Entgegen seines historisch-ethnologischen Vorbilds
18 | Vgl. Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Essay. Frankfurt a. M. 1997.
19 | Vgl. z. B. Kellerman, S. 7.
20 | Vgl. hierzu ausführlicher: Weber, Heike: Taking Your Favorite Sound Along: Portable
Audio Technologies. In: Bijsterveld, Karin; van Dijck, Jose (Hg.): Sound Souvenirs.
(Erscheint 2008, Amsterdam: Amsterdam University Press).
EINLEITUNG | 17
ist die Leitfi gur des „digitalen“ bzw. „urbanen“ Nomaden, die den Globus und
insbesondere seine Metropolen individuell mit Hilfe drahtloser Navigationsund
Kommunikationsgeräte bereisen soll,21 mithin von gewaltigen, erdumspannenden
technischen Systemen abhängig, und der mitgeführte Gerätepark
dient ihr zumeist dazu, gewohnten Routinen der Sesshaftigkeit auch auf der
Reise nachgehen zu können.
Wegen der Ablösung der Portable-Nutzung von konkreten Bewegungssituationen
zugunsten des Versprechens eines ubiquitären, selbst bestimmten
Einsatzes von Portables wird im Folgenden nicht der Mobilitätsbegriff als analytische
Kategorie genutzt, sondern von einer „Mobilisierung“ von Technik
und Nutzer gesprochen. Dieser Begriff entstammt dem militärischen Kontext
der Aktivierung und Aufstellung menschlicher und technischer Ressourcen
für den Kriegsfall; des Weiteren meint er die Aufwendung außergewöhnlicher
Anstrengungen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Auch wenn der
militärische Kontext, in dem Portables in der Tat immer wieder eine Rolle
spielten, im Folgenden nicht berücksichtigt wird, so sensibilisiert der Begriff
der „Mobilisierung“ für die Ressourcenaufwendungen wie auch für die Totalität,
die mit dem Mobilitätsversprechen der Portables verbunden sind.22
Mobilisierung bezeichnet also den Prozess, in welchem Nutzer wie Technik
zunehmend als „überall und jeder zeit“ verfügbar konstruiert wurden. Hierzu
sind auf technischer Seite die Miniaturisierung der Geräte Voraussetzung, und
auf Nutzerseite ging der Prozess mit einer tendenziellen Individualisierung
des Technikgebrauchs einher, die bis zur Entstehung eines Mensch-Technik-
Cyborgs reichte.