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"Schwierig oder krank?"
ADHS zwischen Pädagogik und Psychiatrie




Nicole Becker

Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781519664 (ISBN: 3-7815-1966-X)
341 Seiten, paperback, 17 x 24cm, 2014

EUR 32,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Im praktischen Umgang mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehören Eltern zu den wichtigsten Akteuren:

Sie entscheiden, ob eine diagnostische Abklärung durchgeführt wird und welche weiteren Schritte gegebenenfalls nach der Bestätigung eines ADHS-Verdachts eingeleitet werden. Dennoch sind deren Sichtweisen bislang kaum untersucht.

Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die Rekonstruktion der Übergänge zwischen Pädagogik und Psychiatrie, jener Prozesse also, in deren Verlauf darüber entschieden wird, ob das Verhalten eines Kindes noch als schwierig durchgeht oder ob es als Ausdruck einer psychischen Störung gedeutet wird. Diese Rekonstruktion erfolgt ausgehend von den Erfahrungen betroffener Eltern: Mittels problemzentrierter Interviews wurden Mütter oder Väter befragt, die ihr Kind zur diagnostischen Abklärung einer ADHS in der Ambulanz einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie angemeldet hatten.

Die Autorin

Dr. Nicole Becker hat an verschiedenen Universitäten Allgemeine Erziehungswissenschaft gelehrt, unter anderem als Gastprofessorin an der Technischen Universität Berlin. 2006 erschien ihr Buch „Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik". Zu ihren Arbeitsgebieten gehören die Popularisierung pädagogischen Wissens und die Rezeption der Neurowissenschaften in pädagogischen Diskursen.
Rezension
Die Neurowissenschaften werden z.Zt. in der Pädagogik breit rezipiert; manche schätzen das als Nachholbedarf ein, andere als Überbewertung ... Sicher ist: Es gibt deutliche Berührungen und Schnittmengen; eine von ihnen stellt jedenfalls die z.Zt. in aller Munde befindliche Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) dar. Auf der Schnittstelle zwischen Pädagogik und Psychiatrie (vgl. Untertitel) kommt ADHS zunächst im Bewußtsein der Eltern betroffener Kinder zu stehen; denn sie entscheiden zunächst, ob ein auffälliges Kind diagnostiziert werden soll. Dieser Bereich elterlicher Entscheidung ist aber bislang kaum wissenschaftlich untersucht. Hier setzt diese Studie an mittels problemzentrierter Interviews von Müttern oder Vätern, die ihr Kind zur diagnostischen Abklärung einer ADHS in der Ambulanz einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie angemeldet haben, um klären zu lassen: Sind ihre Kinder einfach nur schwierig oder schon krank? (vgl. Titel).

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung 9

Erster Teil: Problemaufriss und Forschungsstand 11

1 Schwierig oder krank? 13
1.1 Diagnostik: Das Problem der Grenzziehung 16
1.2 Ursachen- und Behandlungsmodelle: Das Problem der Verschränkung 20
1.3 Aufbau der Arbeit 28
1.4 Klassifikation und Diagnostik der ADHS 31
1.4.1 Forschungskriterien für Hyperkinetische Störungen nach der ICD-10 32
1.4.2 Kriterien für die ADHS nach dem DSM-V 33
1.5 Der Forschungsstand zum Thema ADHS aus Sicht von Eltern 37
1.6 Resümee: Die Themen der Eltern 55

Zweiter Teil: Forschungsmethodik 61

2 Forschungsdesign und methodische Grundlagen der Datenerhebung und -auswertung 63

2.1 Ausgangsüberlegungen zum Forschungsansatz 63
2.1.1 Der Zugang zum Feld 65
2.1.2 Die Entscheidung für einen institutionellen Zugang 66
2.1.3 Der Zugang zur Institution: Eine Frage der Disziplin'? 68
2.1.4 Der Zugang zur Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Stuttgart 69
2.1.5 Akquise und Auswahl der Interviewpartner 70
2.2 Datenerhebung: Problemzentrierte Interviews 73
2.2.1 Methodologische Grundlagen 73
2.2.2 Methodisches Vorgehen 75
Problemzentrierung als Ausgangspunlafür die Leeadenentwicklung 75
Themenbereiche im Leitfaden und Bezug zur ADHS-Diskussion 76
Prozessorientierung 77
Gegenstandsorientierung 78
Instrumente 78
2.2.3 Vom Anfangsverdacht zur diagnostischen Abklärung: Der reguläre diagnostische Ablauf in der Ambulanz 79
Erster Schritt: Telefonische Kontaktaufnahme 79,
Zweiter Schritt: Erstgespräch 80,
Dritter Schritt: Persönliche Vorstellung des Kindes/Jugendlichen beim zuständigen Therapeuten 81, Vierter Schritt: Persönliche Vorstellung des Kindes/Jugendlichen in der „Therapiewerkstatt" und zeitlich parallel, aber räumlich getrennt: Gespräch mit den Eltern 81,
Fünfter Schritt: Diagnostischer Eindruck und Aussprechen einer Empfehlung 82,
Verortung der Interviews im diagnostischen Ablauf 82
2.2.4 Beschreibung des Samples 84
2.3 Datenauswertung: Vergleichsstudie mit anschließender empirisch begründeter Typenbildung 84
2.3.1 Methodologische Grundlagen 84
Erster Schritt: Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen 89,
Zweiter Schritt: Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten 89,
Dritter Schritt: Erklärung und Verstehen von Sinnzusammenhängen 90,
Vierter Schritt: Charakterisierung der gebildeten Typen 90
2.3.2 Methodisches Vorgehen 91
Erster Schritt: Kodierung der Gesamttranskripte 92,
Zweiter Schritt: Verfassen verdichteter Falldarstellungen 94,
Dritter Schritt: Kodierung der Falldarstellungen 94,
Vierter Schritt: Erstellung von Synopsen für den Fallvergleich 98,
Fünfter Schritt: Auswahl und Kombination von Merkmalen 98,
Sechster Schritt: Typenbildung und Charakterisierung der Typen 100
2.4 Anmerkungen zur Darstellung der Ergebnisse 100

Dritter Teil: Empirie 105

3 ADHS aus Sicht von Eltern 107

3.1 Die Kontexte des ADHS-Verdachts 107
3.1.1 Der medizinische Kontext 107
3.1.2 Der pädagogisch-institutionelle Kontext 111
3.1.3 Der familiäre Kontext 117
3.1.4 Resümee: „Einiges passt, aber vieles auch nicht" — ADHS-Verdacht und Ungewissheit 121
3.2 Zum Verhältnis von schwierigen Verhaltensweisen und pädagogischen Problemen 122
3.3 Schwierige Verhaltensweisen als Verdachtsmomente 124
3.3.1 Schwierigkeiten im Umgang mit dem eigenen Körper 126
Das unruhige (Klein)Kind: Bewegung als Beruhigungsstrategie 126,
Schwierigkeiten mit der Feinmotorik 130,
Häufige Verletzungen 131
3.3.2 Schwierigkeiten im Umgang mit der sachlichen Umwelt 133
Sachen: vergessen, verlieren, verschenken 133,
Gefahren nicht erkennen 134
3.3.3 Schwierigkeiten mit der Regulation der eigenen Gefühle 135
3.3.4 Schwierigkeiten in sozialen Kontexten 137
Gestörtes Nähe-Distanz-Verhalten 138,
Schwierigkeiten zwischen Kindern und Eltern 139,
Schwierigkeiten im Umgang mit Geschwistern und Gleichaltrigen 141,
Nicht mit anderen auskommen können 142,
Nicht ohne andere auskommen können 145
3.3.5 Schwierigkeiten bei der Bewältigung schulischer Anforderungen 146
Schwache Leistungen 147,
Die abwesenden Anwesenden 151,
Die störenden Anwesenden 152,
Das Hausaufgaben-Déjá-vu 153,
Verletzung rechtlicher Normen 157
3.3.6 Resümee: Die Vielfalt der Schwierigkeiten und die Einheitlichkeit des Verdachts 159
3.4 Pädagogische Probleme und Lösungsversuche 161
3.4.1 „Du erklärst es eine Stunde und dann kann's dir passieren, er macht's am nächsten Tag genau wieder" — Alim kann nicht anders 163
3.4.2 „Dann mache ich einfach mal Tabula rasa" — Marcel schafft keine Ordnung 166
3.4.3 „Ich scheiter' an meinem Bemühen wahrscheinlich" — Bei Armin versagt alles 171
3.4.4 „Vernünftigerweise müssen wir ja jetzt irgendwie mit etwas handeln" — Jonas wird zur Gefahr 175
3.4.5 „Das war schon immer ganz schwierig (...) sie zu erziehen, jetzt mal ganz banal" — Der lange Kampf mit Sarah 179
3.4.6 „Da müssen wir dann irgendwie auch hart durchgreifen" — D6sirne ist unerreichbar 185
3.4.7 Die Strategien der Eltern: Ausgangsüberlegungen zur Klassifikation von Lösungsversuchen 189
3.4.8 Die Entscheidungsebene als Unterscheidungsmerkmal 190
3.4.9 Entscheidungsebene Familie: Interaktion, Modifikation und Delegation 192
Interaktion 193, Modifikation 197,
Delegation 200
3.4.10 Entscheidungsebene Gesundheitssystem: Pharmakotherapie, Ergotherapie und Psychotherapie 201
3.4.11 Entscheidungsebene System sozialer Hilfe: Hilfe zur Erziehung 209
3.5 Informationen und Lesarten 213
3.5.1 Wen Eltern fragen und wo sie suchen: Informationsquellen 214
3.5.2 ADHS-Symptome: Information und Erfahrung 215
Die zustimmende Lesart: Alles passt 216,
Die relativierende Lesart: Einiges passt, einiges passt nicht 220,
Die zurückweisende Lesart: Nur wenig passt 224
3.5.3 Ursachen der ADHS: Informationen und Modelle der Eltern 227
„Ein vererbter Gendefekt": Biologische Erklärungsmodelle 228,
„Ein Zusammenspiel von biologischen und sozialen Faktoren": Interaktionistische Erklärungsmodelle 231,
Zwischen Gen, Gehirn und Umwelt: die Unentschiedenen 233
3.5.4 Resümee: Der Primat der Praxis 236
3.6 Mit Problemen umgehen — eine Typologie elterlicher Handlungsmuster 240
3.6.1 Die Reformer 242
3.6.2 Die Pragmatiker 246
3.6.3 Die Konfliktbewußten 249
3.6.4 Die Desillusionierten 252
3.6.5 Resümee: Die Bedeutung der Differenzen 257
Entscheidbares: Abgrenzungen 257,
Nicht-Entscheidbares: Übergänge 261
3.7 Nachlese: Zum Verhältnis von Verdacht und Diagnose 263

Vierter Teil: Diskussion 269

4 Schwierig oder krank? Die Funktionen der Pädagogik auf der Suche mach Grenzbestimmungen 271
4.1 Pelaeogik als Definitionszusammenhang versus Pädagogik als Entdeckungszusammenhang 273
4.1.1 Die Definition der ADHS ausgehend von der pädagogischen Praxis:
Der pädagogische Bias der Klassifikationssysteme 274
4.1.2 Die Definition der ADHS in der pädagogischen Praxis:
Der pathologische Bias der Lehrerurteile 278
4.1.3 Resümee: ADHS-Verdacht und -Diagnose — wahrscheinlich und irrtumsanfällig 282
4.2 Erziehung als Ausgangs- und Endpunkt versus Erziehung als modulierender Faktor 284
4.2.1 Erziehung und pädagogisches Handeln: Alltagsdeutungen und erziehungswissenschaftliche Perspektiven 287
4.2.2 Erziehungstheorie als Heuristik: Grundannahmen der Operativen Pädagogik 289
4.2.3 Erziehungspraxis als Gegenstand: Die Frage nach den Grenzen der Erziehung 294
Erfahrene Grenzen: Pädagogisches Scheitern und Krankheitsverdacht 298, Psychoedukation: offizielle Programmatik und informelle Praxis 302, Beginn der Pharmakotherapie, Ende der Erziehung? 305
4.3 Resümee: Zwischen Pädagogik, Psychiatrie und Sozialpädagogik 308
4.4 Perspektivwechsel: Konsequenzen für die Praxis 311
4.4.1 Konsequenzen für Eltern 311
4.4.2 Konsequenzen für Lehrer 314
4.4.3 Limitationen und Forschungsperspektiven 316

Literatur 321
Abbildungsverzeichnis 327
Tabellenverzeichnis 327

Anhänge 329

Materialien zum Forschungsprojekt „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-
Störungen (ADHS) aus Elternsicht" 329
Prüfplan für wissenschaftliche Untersuchungen 329,
Informationen zum
Forschungsprojekt für Eltern 334,
Hinweise zum Datenschutz im Forschungsprojekt für Eltern 336,
Einwilligungserklärung zum Forschungsprojekt für Eltern 337,
Interviewleitfaden für ein Problemzentriertes Interview: Kernbereiche und Fragen 338
Übersicht 2: Ausgewählte Merkmale für die Bildung der Typen 340