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Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung
Neuromythologie
Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung




Felix Hasler

Transcript
EAN: 9783837615807 (ISBN: 3-8376-1580-4)
264 Seiten, paperback, 15 x 22cm, 2012

EUR 22,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Alle machen Hirnforschung. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin kann sich wehren, mit dem Vorsatz »Neuro-« zwangsmodernisiert und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredelt zu werden. Die Kinder der Neuroinflation heißen Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Der gegenwärtige Neurohype führt zu einer Durchdringung unserer Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung. Bin ich mein Gehirn? Nur ein Bioautomat?

Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.
Rezension
Überall begegnen uns z.Zt. die Ergebnisse der Hirnforschung; wir werden geradezzu damit überschwemmt. Kaum ein Thema etwa, zu dem die Hirnforschung nichts zu sagen hätte, kaum mehr eine Lehrerfortbildung, wo nicht Manfred Spitzer direkt oder indirekt zugegen ist; alles läßt sich scheinbar sicher mit der Hirnforschung belegen ... Diese Streitschrift entlarvt dieses naive Sich-Verlassen auf die Hirnforschung als Mythos, als "Neuromythologie" (Titel!) - und das ist überfällig! Denn insbesondere auch in der Pädagogik ist keineswegs alles und keineswegs primär biologisch bedingt und ausschließlich vom menschlichen Hirn gesteuert ... Der klassische Anlage-Umwelt-Disput scheint aber derzeit eher in Richtung Anlage gedeutet zu werden; es ist ja auch so schön einfach, wenn alles biologisch gesichert und beweisbar erscheint ... Um so bedeutsamer ist - gerade auch im pädagogischen Kontext - ein Buch wie dieses, das endlich einmal gegen den Neuro-Wahn streitet!

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Stopp dem Neurowahn! Felix Haslers scharfsinnige Streitschrift gegen den brachialen Reduktionismus der Neurowissenschaften räumt auf mit dem Mythos, die Hirnforschung könne unsere gesamte Lebenswelt erklären.

Editorial zur Reihe:
Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Autoreninfo
Felix Hasler (Dr. pharm.) ist Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin und Wissenschaftsjournalist.
WWW: www.neuroculturelab.com

Schlagworte
Neurowissenschaften, Hirnforschung, Neurobiologie, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte
Adressaten
Soziologie, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Neurowissenschaften, Hirnforschung, Neurobiologie und die interessierte Öffentlichkeit

Medienecho
»Gegen die irreführende modulare Denkweise und andere Verkürzungen und falsche Versprechungen auf dem Feld der Neurowissenschaften tritt Felix Hasler an.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2012

»Die Lektüre von Haslers Buch [ist] wohl für die meisten gewinnbringend, da es das weit gefächerte Thema Neurowissenschaften ziemlich umfassend auf Bruchstellen abklopft und den aktuellen Stand der Auseinandersetzung faktengestützt darstellt.«
Christa Tamara Kaul, www.frauenrat-nrw.de, 15.11.2012

Besprochen in:
GMK-Newsletter, 11/12 (2012)
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung | 7

1. Neuro-Enthusiasmus. Alle machen Hirnforschung | 11

2. Neuro-Evidenzmaschinen. Bildgebende Verfahren in der Kritik | 39

3. Neuro-Essenzialismus. Bin ich mein Gehirn? | 61

4. Neuro-Philosophie. Jeder darf mitraten | 69

5. Neuro-Reduktionismus, Neuro-Manipulation und das Verkaufen von Krankheit | 81

6. Neuro-Doping. Ich, nur besser? | 177

7. Neuro-Determinismus. Was will, wenn wir wollen? | 187

8. Neuro-Forensik. Vom Umgang mit riskanten Gehirnen | 195

9. Neuro-Recht. Hirn-Scanner im Gerichtssaal | 215

10. Neuro-Skepsis statt Neuro-Spekulation | 225

Nachbemerkung | 235
Literatur- und Quellenverzeichnis | 237



Vorbemerkung
Muss das sein? Ja, leider. Wenn Wissenschaftler umfassende Erklärungsansprüche
weit jenseits der Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Fachs reklamieren,
ist eine Realitätsprüfung dringend notwendig. Umso mehr, wenn diese Erklärungsansprüche
nicht auf belastbaren naturwissenschaftlichen Fakten beruhen,
sondern auf unbewiesenen Annahmen, nicht hinterfragten Dogmen und
der endlosen Wiederholung kaum einlösbarer Zukunftsversprechungen. Die
schier unglaubliche Diskrepanz zwischen dem gegenwärtigen Welterklärungsanspruch
der Neurowissenschaften und den empirischen Daten aufzuzeigen,
ist Ziel dieses Buches.
Was ist geschehen? Seit der »Dekade des Gehirns« in den 1990er Jahren
haben die »neuen Wissenschaften des Gehirns« einen Siegeszug ohnegleichen
durchlaufen. Weit über die Grenzen der Naturwissenschaften hinaus durchdringen
Erklärungsmodelle aus der Hirnforschung ehemalige Hoheitsgebiete
der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Nichtexistenz des freien
Willens zu beweisen, biologische Marker für kriminelles Verhalten zu entdecken
oder neuromolekulare Ursachen von Angst, Zwang und Depression zu
finden: All dies traut sich die Hirnforschung unserer Tage mit großer Selbstsicherheit
zu. Zwar noch nicht gerade heute, aber schon in absehbarer Zukunft
sollen auch derart großkalibrige Probleme lösbar werden.
Wie tief die Neuro-Unternehmung bereits vorgestoßen ist, illustriert ein Zitat
des britischen Biologen Semir Zeki: »Mein Ansatz ist von einer Wahrheit
bestimmt, von der ich denke, dass sie unumstößlich ist: dass jede menschliche
Handlung von der Organisation und den Gesetzen des Gehirns bestimmt
ist und dass es deshalb keine wahre Kunst- und Ästhetik-Theorie geben kann,
außer wenn sie auf Neurobiologie beruht.«1 Selbst die Kunst, das Kulturprodukt
par excellence, muss offenbar modernerweise mit neurowissenschaftlichen
Konzepten erklärt werden. Auf der Suche nach den »neuronalen Korrelaten«
für dieses und jenes schieben heute auch Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler
ihre Probanden in den Kernspintomographen und suggerieren durch
1 | Vidal F (2009) History of the Human Sciences.
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derartiges Tun: Hier wird ein streng wissenschaftlicher Weg eingeschlagen, um
das Wesen des Menschen zu erklären.
Im Gegensatz zur begeisterten Neuro-Berichterstattung in den Medien ist
der real existierende Wissenschaftsalltag in den Hirnforschungsinstituten deutlich
prosaischer. Die meisten Hirnforscher sind sich der engen Grenzen ihrer
Wissenschaft sehr wohl bewusst und wollen auch gar nicht Geist und Bewusstsein
erklären, Gedanken lesen oder zukünftiges Verhalten voraussagen. Diese
höchst seriösen Vertreter der Neuro-Zunft sind schon zufrieden, wenn sie
nach jahrelanger Arbeit ein wenig mehr über visuelle Verarbeitung in der Sehrinde
oder neuro-adaptive Veränderungen beim Klavier spielen gelernt haben.
Dagegen wird auch niemand etwas einzuwenden haben. Da diese Art von Erkenntnissen
selten Neuigkeitswert hat, tauchen sie allerdings kaum in den Medien
auf. Ganz im Gegensatz zu den »weltbildgebenden Auftritten«,2 die einige
Hirnforschungsautoritäten in den letzten Jahren gerne gepflegt und damit zur
glorifizierenden Überhöhung neurowissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit
beigetragen haben. Diesen ungerechtfertigten Erklärungsansprüchen, für die
besonders die »sozialen, kognitiven und affektiven Neurowissenschaften« anfällig
sind, gilt die Hauptkritik meines Buches.
Der aktuelle Neuro-Hype geht nicht einfach nur auf die Nerven, sondern
hat ganz praktische Konsequenzen für das Leben einer Vielzahl von Menschen.
Schließlich wird der fundamental falsche Eindruck erweckt, die Hirnforschung
wisse genau Bescheid über die biologischen Vorgänge, die unserem Erleben,
Denken und Handeln zugrunde liegen. Und deshalb könne die Medizin »evidenzbasiert
« und zielgerichtet im Gehirn eingreifen, wenn etwas schief läuft.
Beispielsweise bei einer psychischen Störung. Im klassischen »bio-psychosozialen
Modell psychischer Erkrankungen« hat längst eine dramatische Verschiebung
hin zum Pol der Biologie stattgefunden. Auffälligstes Anzeichen
dieser wissenschaftsideologischen Ausrichtung ist die zunehmend außer Kontrolle
geratende Praxis der (Über-)Verschreibung von Psychopharmaka. Immer
mehr Fachleute halten dies für eine fatale Fehlentwicklung mit beträchtlichen
Konsequenzen für die Betroffenen. Das umfangreiche Buchkapitel »Neuro-Reduktionismus,
Neuro-Manipulation und das Verkaufen von Krankheit« ist der
Dekonstruktion des Mythos gewidmet, die biologische Psychiatrie sei eine Erfolgsgeschichte
wissenschaftlicher Ratio und ein Segen für die Patienten.
Für eine realistische Einschätzung der Lage ist es von Vorteil, auf einem
neurowissenschaftlichen Forschungsgebiet gearbeitet zu haben. Ich selbst tat
dies zehn Jahre lang in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain
Imaging an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, besser bekannt als Burghölzli.
Franz Vollenweider und seine Kollegen untersuchen dort schon seit den
2 | Der Begriff stammt von der Philosophin Petra Gehring, vgl. Gehring P (2004) Philosophische
Rundschau.
Vorbemerkung 9
1990er Jahren mit neurowissenschaftlichen Methoden, wie halluzinogene Drogen
auf Gehirn und Erleben des Menschen wirken.
Einer nahe liegenden Vermutung möchte ich hier gleich klar entgegentreten:
Es waren nicht die Erfahrungen während meiner Forschungstätigkeit in
jener Arbeitsgruppe, die mich zu einem Skeptiker der Neuro-Unternehmung
werden ließen. Denn obwohl auch die Halluzinogenforschung am Burghölzli
als Kind der Dekade des Gehirns geboren wurde, war und ist man sich dort im
Klaren, dass Bewusstsein weit mehr ist als nur eine Kaskade biochemischer
Prozesse im Gehirn. Im Entgrenzungszustand einer quasi-mystischen Halluzinogenerfahrung
muss schließlich auch dem hartgesottensten Hirnforscher klar
werden, dass ein solcher Zustand niemals mit neurowissenschaftlichen Methoden
adäquat beschrieben werden kann. Geschweige denn, abschließend erklärt.
Es lief eher umgekehrt. Häufig war ich selbst derjenige, der einer allzu
simplen mechanistischen Sichtweise aufgesessen ist und der den alles dominierenden
»neuro-talk« unreflektiert übernommen hat. Für ein gelegentliches
Zurechtrücken solcher Sichtweisen durch meine Kollegen bin ich heute dankbar.
Auch muss ich eingestehen, mehr als einmal der Verführung erlegen zu
sein, selbst die Ruhm und Ehre verheißende Neuro-Karte auszuspielen. Auf
Vorträgen habe ich zu eben dem Weltbild beigetragen, das ich heute kritisiere.
Kurzum – auch ich selbst war bis vor nicht allzu langer Zeit ein »zerebrales
Subjekt«,3 überzeugt davon, dass wir nur das Gehirn erforschen müssten, um
uns selbst zu verstehen. Von meinem damaligen Neuro-Enthusiasmus zeugen
noch ein paar wissenschaftliche Publikationen und journalistische Artikel.
Vieles davon würde ich heute anders schreiben, einige Aussagen gerne ganz
zurücknehmen.
Meine Zeit in der Hirnforschung war in anderer Hinsicht prägend für meine
jetzige wissenschaftskritische Sichtweise und damit auch für dieses Buchprojekt.
Auf den großen Neuropsychopharmakologie-Kongressen bin ich nicht
nur akademischer Arroganz von ungekanntem Ausmaß begegnet, sondern
auch den aggressiven Geschäftspraktiken der pharmazeutischen Industrie.
Lange ist es her, dass an den Pharma-Informationsständen ein paar Kugelschreiber
mit Firmenlogo zusammen mit einem Sonderdruck einer neuen Medikamentenstudie
verteilt wurden. In den Jahren um 2005 füllten die Pharmastände
auf Kongressen ganze Stockwerke. Bei Pharma-Quizshows – realistisch
den entsprechenden TV-Formaten nachempfunden – waren für die Kongressteilnehmer
BMW-Cabrios zu gewinnen. Nun wurde es ganz offensichtlich, dass
weite Teile der akademischen Psychiatrie von der pharmazeutischen Industrie
aufgekauft wurden. Die Sichtung einer Vielzahl von Büchern und Fachpublikationen
hat später bestätigt, was ich schon im Angesicht der Pharma-Quizshows
3 | Vidal F (2009) History of the Human Sciences.
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vermutete: dass so manche vermeintliche neurobiologische »Tatsache« sehr viel
mehr mit pharmazeutischem Marketing als mit Wissenschaft zu tun hat.
Vor allem aber lehrt die praktische Neuroforschung Bescheidenheit, was die
prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten zu Geist
und Bewusstsein angeht. Das Gehirn als Untersuchungsgegenstand ist enorm
komplex und die zur Verfügung stehenden Messverfahren zwar hoch technisiert,
vielleicht gerade deshalb aber auch besonders stör- und irrtumsanfällig.
Gerade die mit bildgebenden Verfahren gewonnenen – oder vielleicht eher hergestellten
– Untersuchungsergebnisse sind in hohem Maße interpretationsbedürftig.
Von der wissenschaftspraktischen Problemvielfalt der bildgebenden
Verfahren, die fälschlicherweise den Eindruck erwecken, fotoähnliche Abbildungen
des Geistes bei der Arbeit zu liefern, handelt das Buchkapitel »Neuro-
Evidenzmaschinen. Bildgebende Verfahren in der Kritik«.
Vielleicht ist aber auch nur die gefühlte Diskrepanz zwischen der medialen
Darstellung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und der tatsächlichen empirischen
Datenlage besonders schmerzhaft, wenn man selbst weiß, wie neurowissenschaftliche
Forschung in der Praxis funktioniert.
Dass eine radikal pessimistische Haltung zur Zukunft der Neurowissenschaften
genau so verfehlt wäre, wie es der ungezügelte Optimismus der letzten
Jahre war, versuche ich im Schlusskapitel aufzuzeigen. Die Problemwahrnehmung
nimmt nämlich schon deutlich zu – innerhalb wie außerhalb der Hirnforschung.
So werden neuro-skeptische Symposien abgehalten, entsprechende
Internet-Blogs betrieben und auch in renommierten Fachzeitschriften explizit
hirnforschungskritische Texte veröffentlicht. Zudem hat sich das Netzwerk der
»Kritischen Neurowissenschaften« gebildet, in dem Vertreter verschiedener
Fachdisziplinen bemüht sind, in einem konstruktiven Dialog dringend notwendige
Reformen anzustoßen. Anlass zur Hoffnung gibt auch die Tatsache, dass
gerade in der jüngsten Forschergeneration eine ganze Reihe gleichermaßen begeisterte
wie (selbst-)kritische Neurowissenschaftler auszumachen sind. Sollte
sich die Fachrichtung tatsächlich von innen her reformieren, werden es wohl
genau diese Akteure sein, welche die entscheidenden Impulse geben.
Noch aber hat die Neuro-Spekulation die Neuro-Skepsis fest im Griff. Wie
weit die modernen Neuro-Mythen bereits in der gesellschaftlichen Wahrnehmung
angekommen sind, wurde mir wieder einmal bewusst, als ich neulich
in Berlin an einem Kiosk vorbeiging. Im Aushang bewarb dort die deutsche
TV-Zeitschrift Hörzu ihre Wissen-Ausgabe: »Führende Forscher sind sich einig:
Der freie Wille ist eine Illusion«. Ganz abgesehen von der inhaltlichen Absurdität
sind Neuro-Thesen offenbar voll und ganz massentauglich geworden.
Höchste Zeit ...