lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Groove – Kultur – Unterricht Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik
Groove – Kultur – Unterricht
Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik




Heinrich Klingmann

Transcript
EAN: 9783837613544 (ISBN: 3-8376-1354-2)
440 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2010, zahlr. Abb.

EUR 34,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
»Groove« bezeichnet eine rhythmische Qualität populärer Musik. Dem multidimensionalen Groove-Phänomen als zentralem Element alltäglicher Musikrezeption standen bislang disparate wissenschaftliche Erklärungsansätze gegenüber, ohne den für die Pädagogik nötigen Überblick zu ermöglichen.

Heinrich Klingmann liefert erstmals eine profunde, transdisziplinäre Analyse des Grooves als Gegenstand der Rhythmusforschung, Musikethnologie, Kulturwissenschaft und Pädagogik. Auf dieser Grundlage entwirft er eine »Kontextkritische Musikdidaktik«, die es erlaubt, das Bildungspotential populärer Musik zu erschließen, ohne ihre Eigengesetzlichkeit zu vernachlässigen.
Rezension
Diese Arbeit möchte das pädagogische Potential afroamerikanischer Rhythmik ausloten - und betritt damit Neuland; denn Groove wurde zwar bislang aus verschiedenen, disparaten Perspektiven wissenschaftlich behandelt, aber bis dato nicht zusammenfassend pädagogisch beerbt. Der Autor bietet erstmals eine profunde, transdisziplinäre Analyse des Grooves als Gegenstand der Rhythmusforschung, Musikethnologie, Kulturwissenschaft und Pädagogik. Groove bezeichnet einerseits eine für ein Musikstück typische Rhythmusfigur, andererseits meint Groove aber auch ein bestimmtes Gefühl, das durch Rhythmus, Spannung und Tempo erzeugt wird. Groove meint im amerikanischen Englisch die Ackerfurche, bei Schallplatten die Rille. Als Ostinato bezeichnet Groove eine sich ständig wiederholende musikalische Phrase. Groove wirkt psychomotorisch stimulierend, weil der Groove ein rhythmisches Grundmuster vorgibt, das in der Folge variiert werden kann und gegen das die übrigen Musiker anspielen. Das bildet ein reizvolles Spannungsverhältnis.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Groove, Populäre Musik, Kultur, Musikpädagogik, Didaktik
Adressaten:
Musikpädagogik, Musikwissenschaft, Kulturwissenschaft

Heinrich Klingmann ist freischaffender Musiker und unterrichtet an der Staatlichen Hochschule für Musik Nürnberg die Fächer Latin Percussion, Jazz-Rhythmik und Didaktik von Populärer Musik und Jazz.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsübersicht:

Vorwort und Danksagung 7
Einführung 8

I. DER GROOVE IM WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS 11

Beiträge empirischer Rhythmusforschung 13

Zum Verstehen des Grooves aus musikethnologischer Sicht 82

Kulturwissenschaftliche Perspektiven 225

II. MUSIKPÄDAGOGIK UND GROOVEMUSIK 291

Die Macht des Faktischen: afroamerikanische Grooves im Bildungswesen 292

Afroamerikanische Rhythmik im Kontext ausgewählter musikdidaktischer Positionen 310

III. VERZEICHNIS DER VERWENDETEN QUELLEN 393

IV. ANHANG 427



Inhaltsverzeichnis:

Vorwort und Danksagung 7 Einführung 8

l. DER GROOVE IM WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS 11

1.1 Beiträge empirischer Rhythmusforschung 13
1.1.1 Grundlegende Ergebnisse 14
Rhythmus als Konstruktion des Rezipienten 15
Zur Wahrnehmung und Verarbeitung musikalischer Rhythmen 19
Rhythmus, Bewegung und Emotion 33
1.1.2 Der Groove als Gegenstand empirischer Rhythmusforschung 41
Expressives Timing in der Groovemusik 43
Pattern- und Pulsationsgestaltung als Bewegungsabbild 61
Grooveparameter und Groovegestaltung 63
1.1.3 Zusammenfassung der Ergebnisse empirischer Rhythmusforschung 75
1.2 Zum Verstehen des Grooves aus musikethnologischer Sicht 82
1.2.1 Einsichten auf der Grundlage strukturalistisch geprägter Arbeitsweisen 87
Einblicke in kulturelle Bedingungen traditioneller Grooverezeption und Grooveproduktion 94
Zur Beziehung zwischen Groovegestaltung, stimmbezogenem Ausdruck und sprachbezogener Mitteilung 107
Zum Verhältnis von Groovemusik und Körperlichkeit aus musikethnologischer Perspektive 120
1.2.2 Zur Entwicklung von Groove-Strukturmodellen auf der Grundlage interkultureller Studien 179
Musikethnologisch geprägte Groovebegriffe und Groove-Modelle 182
1.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse musikethnologischer Zugänge 220
1.3 Kulturwissenschaftliche Perspektiven 225
1.3.1 Kulturwissenschaftliche Reflexionen 227
Was meint „Kultur"? 231
Kulturwissenschaft als Meta-Perspektive 259
Einordnung empirischer und musikethnologischer Grooveforschung 272
1.3.2 Groove-Kultur aus der Perspektive praxeologischer Kulturtheorie 276
Groove und Hybridität 280
Systematisierung kultureller Kontexte und Praktiken 281
1.3.3 Zusammenfassung zur kulturwissenschaftlichen Perspektive 288

II. MUSIKPÄDAGOGE UND GROOVEMUSIK 291

2.1 Die Macht des Faktischen: afroamerikanische Grooves im Bildungswesen 292
2.1.1 Entwicklungen in der Instrumentalpädagogik 293
2.1.2 Groovemusik im allgemein bildenden Unterricht 294
2.2 Afroamerikanischer Rhythmik im Kontext ausgewählter musikdidaktischer Positionen 310
2.2.1 Orientierungspunkte in der musikdidaktischen Theoriebildung 312
2.2.2 Afroamerikanische Rhythmik und die Vermittlung musikalischer Erfahrung 319
2.2.3 Afroamerikanische Rhythmik und die Einführung in Musikkulturen 325
2.2.4 Afroamerikanische Rhythmik und die Ermöglichung musikalischer Bildung 347
2.2.5 Zur Ermöglichung musikalischer Bildungsprozesse in der praktischen Auseinandersetzung mit afroamerikanischer Rhythmik 378
2.2.6 Resümee und Ausblick 388

III. VERZEICHNIS DER VERWENDETEN QUELLEN 393

Literaturverzeichnis 393
Sonstige Medien: Tonträger, Videos, etc. 423
Internetquellen 424

IV. ANHANG 427

Umrechnung von Metronomschlägen in Millisekunden und Herz 427
Tabelle: Swing Ratio und Swing Percentage 428
Rhythmusdefinitionen 429
Groove-Definitionen 430
Gegenüberstellende Darstellung von „Western and non-Western teaching methods" 432
Legende zur Conganotation 433


Leseprobe:

»Genau genommen ist nicht die Scheibe das Ziel,
sondern so zu schießen,
dass die Scheibe getroffen wird.«
(aus: Demokratie und Erziehung)
John Dewey (1859-1952)
7
VORWORT UND DANKSAGUNG
Seit ich als Teenager mit Manuel Medel-Martí das erste Mal trommelte, hat es
mich in höchstem Maße fasziniert. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass beim
Spielen eines Grooves1 in meinem Erleben körperliche, emotionale und geistige
Präsenz eine wundervolle Verbindung eingehen. Die Motivation für meine wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Potential afroamerikanischer
Rhythmik und mit den Möglichkeiten, diese eigenständige musikalischästhetische
Ausdrucksweise als legitimen Gegenstand musikalischer Bildungsprozesse
zu profilieren, speist sich aus dieser Quelle.
Die vorliegende Studie entstand vor dem Hintergrund einer langjährigen Auseinandersetzung
mit dem „Gegenstand“ Groove als Schüler und Student sowie als
Lehrer und Musiker. In diesen Zusammenhängen durfte ich Erfahrungen mit Menschen
sammeln, die mich prägten und die zum Teil ausdrücklich, zum Teil aber
auch nur indirekt und ohne Nennung der Beteiligten, in meine Darstellung eingeflossen
sind.
Ich möchte an dieser Stelle all jenen danken, die das Entstehen dieser Untersuchung
durch ihr Interesse und ihre Diskussionsfreude unterstützt haben. Mein
besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Werner Jank und Herrn Prof. Dr. Volker
Schütz, die meine wissenschaftliche Arbeit sowohl mit wohltuender Bestärkung
und tatkräftigem Engagement begleitet als auch mit kritischen Kommentaren und
wertvollen Hinweisen geprägt haben.
1 Die Schreibung der Worte „Groove“, „Beat“ und „Pattern“ folgt den Duden-
Vorgaben, vgl.: Duden (2004, 23. Auflage)
8
EINFÜHRUNG
Afroamerikanische Rhythmik eignet sich – nicht trotz ihrer Eigengesetzlichkeit,
sondern gerade durch deren Beachtung – zur Initiierung musikalischer Bildungsprozesse.
Dies ist der Kerngedanke, der im Folgenden zur Diskussion steht.
Diese Aussage verweist auf zwei Fragenkomplexe, nämlich:
• Fragen nach der Eigengesetzlichkeit afroamerikanischer Rhythmik und
• Fragen nach dem Verhältnis der Musikpädagogik im Allgemeinen und musikalischer
Bildung im Besonderen zur afroamerikanischen Rhythmik, deren
besondere Qualität im Rahmen dieser Arbeit mit dem Begriff „Groove“ umschrieben
wird.
Das Wort „Groove“ hat bis heute einen Klang, der sich nicht reibungslos in einen
nüchternen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch einfügt. Bei informellen Gesprächen
über den Gegenstand dieser Arbeit war daher auch (fast) immer die erste
Frage, die mir gestellt wurde: Was ist eigentlich ein Groove? oder: Was verstehst
Du unter Groove? Dabei „wissen“ diejenigen, die diese Frage stellen, in aller Regel
was „Groove“ meint. Die mit diesem Wort verbundenen Assoziationen, die
insbesondere auf eine körperlich vermittelte Emotionalität verweisen, passen allerdings
nicht in das herkömmliche Bild von Wissenschaftlichkeit. Man geht daher
verständlicherweise davon aus, im Zusammenhang mit meiner wissenschaftlichen
Arbeit, endlich eine allgemeingültige und den „Gegenstand“ verfügbar machende
Antwort zu erhalten. Es sei vorweggenommen: Diese Antwort kann nicht geliefert
werden.
„Groove“ ist ein Wort des alltäglichen Sprachgebrauchs. Der Duden aus dem
Jahr 2004 gibt uns eine Kurzdefinition und klärt seine korrekte Schreibung. Ich
selbst habe seit dem Jahr 2004 verschiedentlich Lehramtstudierende, die von mir
geleitete Kurse an den Hochschulen für Musik in Mannheim und Würzburg besuchten,
zu Beginn des Semesters anonym eine Kurzdefinition notieren lassen.
Hier zwei Beispiele:
„Mit dem Groove lebt die Musik und wenn man selbst mit der Musik lebt, groovt es auch.
Groove entsteht, wenn der Rhythmus nicht stur nach Noten gespielt wird, sondern wenn der
Einführung
9
Rhythmus lebendig wird und zu der Art und Spielweise des Stückes bzw. der Stilrichtung
passt.“
„Ein Groove ist ein rhythmisches Pattern, das charakteristisch für eine bestimmte Stilistik
ist. Dadurch ist es nicht nur ein rhythmisches Schema, sondern erzeugt auch ein für diese
Stilistik eigenes Feeling.“
Diese beiden Definitionen beinhalten bereits sehr viel von dem Bild, das die Wissenschaft
aus unterschiedlichen Blickwinkeln und naturgemäß recht detailliert vom
Groove zeichnet. Von zentraler Bedeutung ist, dass „Groove“ für rhythmischmusikalische
Praktiken steht, die eigenverantwortlich und situationsabhängig im
Rahmen stil- bzw. kulturspezifischer Regeln vollzogen werden, um ein musikspezifisches
Gefühl zu erleben. „Groove“ bezeichnet damit eine eigen-artige musikalische
Gestaltungsweise, die in der Form afroamerikanischer Musik oder von dieser
beeinflusster Stilistiken weltweit rezipierbar ist.
Nicht zuletzt aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für die Populäre Musik
ist es heute keine Frage mehr bzw. völlig unstrittig, dass afroamerikanische
Rhythmik unterrichtet werden kann und muss. Dies erfolgt, aufgrund der traditionellen
Vernachlässigung dieser höchst verbreiteten musikalischen Gebrauchspraxis
durch die Musikdidaktik, bislang allerdings in einem weitgehend theoriefreien
Raum. Einige wenige Musikdidaktiker haben sich wohlwollend oder zumindest
vorbehaltlos und nachhaltig mit diesem Gegenstand befasst. An deren Arbeit
möchte ich anknüpfen.
Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zur wissenschaftlichen
Legitimierung der pädagogischen Arbeit mit dem rhythmischen Aspekt
afroamerikanischer Musik zu leisten. Die forschungsleitende Frage lautet:
Wie und mit welchen Zielen können bzw. sollen die mit dem Begriff „Groove“
umschriebenen rhythmisch-musikalischen Gestaltungsweisen in einem wissenschaftlich
begründeten Unterricht behandelt werden? Das zentrale Problem dieser
Arbeit besteht darin, dass diese Gestaltungsweisen anderen gesellschaftlichkulturellen
Traditionen entstammen und sich verpflichtet wissen als die wissenschaftlich-
akademisch begründete Reflexion und Planung von Unterricht.
Selbst die zuletzt genannte, scheinbar so eindeutige Grenzmarkierung, die für
gewöhnlich zwischen Schriftlichkeit bzw. Literalität und Mündlichkeit bzw. Oralität
verortet wird, eignet sich nicht ohne weiteres als Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung und die pädagogische Erschließung des Grooves.
Bei genauem Hinsehen erweist sich die besondere Qualität afroamerikanischer
Rhythmik als Produkt einer äußerst wandlungsfähigen und vielgestaltigen sozialen
Praktik. Ein Umstand, der sich in der Etymologie des Groovebegriffs widerspiegelt.
Hier begegnen uns zunächst die neutralen Bedeutungen „(Acker-)Furche“,
Groove – Kultur – Unterricht
10
„Rinne“ oder „Rille“ und negative Zuschreibungen wie „eingeschliffener Trott“
und „Routine“, die ab den 1930er Jahren im Umfeld der Jazzmusik in positive
Bedeutungen umgemünzt wurden. Mit den weiteren Bedeutungen „Plattenrille“
und „Vagina“ verweist das „in the groove“-Sein darüber hinaus einerseits auf eine
technologisch geprägte und vermittelte Welt und andererseits auf intimste und
unmittelbarste zwischenmenschliche Körperlichkeit (vgl.: Widmaier 2004).
Es ist der pädagogischen Verpflichtung für die Begründung und Verantwortung
der eigenen Tätigkeit nicht angemessen, vor dieser „Schlüpfrigkeit“ des Gegenstands
zu kapitulieren und Populäre Musik, die ohne Groove in ihrer heutigen Form
nicht denkbar ist, trotzdem zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Grooves sind
Teil einer Welt, die nur noch „in Stücken“2 gedacht werden kann und in der die
Akteure sich in den „Treppenhäusern“3 zwischen unterschiedlichen „Praxiswelten“
4 neue, „dritte Räume“ erschließen. In diesem Sinne verstehe ich die beschriebene
Mehrdeutigkeit des Groovebegriffs als einen Ausweis für seine Aktualität
und Zeitgemäßheit. Die eingangs formulierte These kann vor diesem Hintergrund
wie folgt erweitert werden:
Im „Groove“ als sozialer Praktik wird die gegenwärtige Vermischung, Überschneidung
und Koexistenz unterschiedlicher Weltdeutungen und die Wirksamkeit
dieser Deutungen im Medium der Musik erfahrbar und reflektierbar. Afroamerikanische
Rhythmik wird daher als eine eigenständige musikalisch-ästhetische Ausdrucksweise,
die in situierten sozialen Praktiken entsteht, durch die Beachtung
ihrer Eigengesetzlichkeit ein wertvoller Gegenstand einer zeitgemäßen musikalischen
Bildung.
Die Entfaltung und Diskussion dieses Standpunktes erfolgt in zwei Kapiteln,
von denen das erste der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand
gewidmet ist und das zweite nach pädagogischen Anschlussstellen und Perspektiven
fragt.
2 Vgl.: Schiffauer (2004, S. 514), siehe auch: S. 268
3 Die Metaphern vom „Treppenhaus“ und dem „dritten Raum“, die ihre Wirksamkeit
im Zusammenhang mit dem Begriff der „Hybridität“ entfalten, wurden von
Homi Bhabha eingeführt und finden sich z. B. in: Bhabha (2000, S. 5, S. 58), siehe
auch: S. 270 f., S. 284 ff.
4 Vgl.: Bourdieu (1987b, S. 100), siehe auch: S. 381 ff.