lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Der Gegner als Mitmensch Michael Walzer, Jeff McMahan und die moralphilosophische Kritik am Humanitären Völkerrecht
Der Gegner als Mitmensch
Michael Walzer, Jeff McMahan und die moralphilosophische Kritik am Humanitären Völkerrecht




Bernhard Koch

Aschendorff
EAN: 9783402117422 (ISBN: 3-402-11742-8)
589 Seiten, hardcover, 17 x 24cm, Mai, 2023

EUR 98,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Im vergangenen Jahrzehnt hat die philosophische Debatte zum sogenannten "ius in bello", also den Normen, die angeben, welche Gewalt in bewaffneten Konflikten erlaubt ist - und in welchem Ausmaß - Fahrt aufgenommen. Maßgeblich dafür war die einflussreiche Kritik Jeff McMahans an den Thesen Michael Walzers "Gibt es den gerechten Krieg?" von 1977 (dt. 1982), dem modernen Klassiker der Debatte. Diese Studie zeichnet die Argumente nicht nur nach, sondern bettet sie auch in den breiteren Kontext der Diskussion in sozialwissenschaftlicher, völkerrechtlicher, moralphilosophischer und moraltheologischer Hinsicht ein. Drei Anwendungsbeispiele - neue Waffentechnologien, angeworbene Söldner und Probleme in der Militärmedizin - versuchen zu zeigen, dass die Debatte nicht nur theoretischer Art ist.

Bernhard Koch, Studium der Philosophie in München und Wien. Von 1999 - 2004 an der PH Weingarten tätig; Promotion 2006. Seit 2007 am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg; seit 2014 als stellv. Direktor. Diverse Lehraufträge in Frankfurt u. Hamburg; 2020 Habilitation im Fach Moraltheologie in Freiburg.
Rezension
Dies ist Band 71 der Reihe "Studien zur Friedensethik / Studies on Peace Ethics)". Krieg und Frieden sind seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und den neuen Nahost-Krieg wieder ins Zentrum öffentlicher Wahrnehmung gerückt. Das Institut für Theologie und Frieden hat die Aufgabe, die ethischen Grundlagen menschlicher Friedensordnung zu erforschen und in den aktuellen friedenspolitischen Diskurs hineinzutragen. Mit den "Studien zur Friedensethik" wird eine friedensethische Vertiefung der außen- und sicherheitspolitischen Debatte angestrebt. Dabei geht es letztlich um die Frage: Durch welche Politik wird den heute von Gewalt, Armut und Unfreiheit bedrohten Menschen am besten geholfen und zugleich der Errichtung einer zukünftigen friedlichen internationalen Ordnung gedient, in der Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte für alle gewährleistet werden? - In der Friedensethik wird traditionell zwischen "ius ad bellum" (Recht zum Krieg) und "ius in bello" (Recht im Krieg) unterschieden. Dieser Band thematisiert "ius in bello", also die Normen, die angeben, welche Gewalt in bewaffneten Konflikten erlaubt (oder verboten) ist (Genfer Konvention). Maßgeblich fü die jüngere Debatte war die einflussreiche Kritik Jeff McMahans an den Thesen Michael Walzers "Gibt es den gerechten Krieg?" von 1977 (dt. 1982). U.a mit drei Anwendungsbeispiele (neue Waffentechnologien, angeworbene Söldner und Probleme in der Militärmedizin) zeichnet der Autor die Diskussion nicht nur nach, sondern aktualisiert sie und bettet sie in einen größeren Kontext ein.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
VORBEMERKUNG UND DANK 13

1 FRAGESTELLUNG 16

1.1 Einleitung 16
1.2 Kann ein Zivilist über das ius in bello schreiben? 18
1.3 Was diese Arbeit thematisieren will 22
1.4 Was diese Arbeit nicht thematisiert 23
1.5 Das ius in bello in neueren kirchlichen Dokumenten und Stellungnahmen 26
1.6 Andeutungen zum handlungstheoretischen Problem: Der Luftangriff bei Kunduz 2009 32

2 BEGRIFFLICHES 37

2.1 Moralphilosophie 37
2.2 Gewalt 39
2.2.1 Christliche Theologie und Kirchen 40
2.2.2 Philosophisch-ethisch 43
2.2.3 Latente Gewalt 46
2.2.4 Die Gefahr der Substantivierung 47
2.2.5 Die Spezifika militärischer Gewalt 48
2.3 Krieg und bewaffneter Konflikt 50
2.3.1 Begriff und Realität des Krieges 50
2.3.2 Bewaffneter Konflikt 52
2.3.3 Der Sprachgebrauch in der aktuellen moralphilosophischen Debatte 55
2.3.4 „Cyber-war" 56
2.4 Kollektives Gewalthandeln 59
2.5 Angriff— Verteidigung 62

3 HISTORISCH-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNG 66

3.1 Kriegserklärungen 66
3.2 „Neue Kriege" 69
3.3 Privatisierung und Kommerzialisierung 72
3.4 Asymmetrisierung 73
3.5 Medienöffentlichkeit 74
3.6 Moralische Grenzen als Kriegsmittel 77
3.7 Terrorismus 78
3.8 Weitere Asymmetriefaktoren 79
3.9 „Bruchlinienkriege" 82
3.10 „Western Way of War" 84
3.11 Humanitäres Völkerrecht als Feigenblatt? 88
3.12 Resümee für Ethikerinnen und Ethiker 91

4 DIE VÖLKERRECHTLICHE HERAUSFORDERUNG 93

4.1 Normativ diskriminierender Kriegsbegriff und indiskriminierendes ius in bello 95
4.2 Die Unterscheidung von (humanitär-völkerrechtlich angeleiteter) militärischer und (menschenrechtlich angeleiteter) polizeilicher Gewalt 103
4.2.1 Verhältnismäßigkeit 1 110
4.3 Erosion des Humanitären Völkerrechts? 111
4.4 Afghanische Aporien 113
4.4.1 Verhältnismäßigkeit 2 115
4.5 Was ist ein militärisches Ziel? 120
4.6 Die Auslegungshilfe des IKRK zum Begriff der „unmittelbaren Beteiligung an Feindseligkeiten" 121
4.6.1 Notwendigkeit als Begrenzungsprinzip von Gewalt 130
4.7 Die Entwicklung von Gewohnheitsrecht 132
4.7.1 Allgemeines zum Völkergewohnheitsrecht 134
4.7.2 Schwierigkeiten 135
4.7.3 Besondere Schwierigkeiten im Hinblick auf die Gewohnheitsrechtsstudie des IKRK 136
4.7.4 ius cogens 139
4.7.5 Exkurs: IKRK-Studie zur Stärkung des rechtlichen Schutzes von Kriegsopfern 141
4.8 Lesarten des Kriegs-, Konflikt- oder Humanitären Völkerrechts 143
4.9 Die Martens'sche Klausel 148
4.10 Grundrechtsschutz und Töten im Krieg 151

5 DIE MORALPHILOSOPHISCHE HERAUSFORDERUNG 156

5.1 Moralphilosophische Rekonstruktionsformen des Rechts des bewaffneten Konflikts 157
5.1.1 John Ford und Elizabeth Anscombe 157
5.1.1.1 Vernichtungsbombardement und das Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung
(John C. Ford SJ) 157
5.1.1.2 Schuld — Unschuld — Autorität (G.E.M. Anscombe) 160
5.1.1.3 Wert und Last des Prinzips der Handlung mit doppelter Wirkung 166
5.1.2 Utilitarimus 167
5.1.2.1 Richard Mervyn Hare 168
5.1.2.1.1 Fünf Ansätze in der Ethik 169
5.1.2.1.2 Regelutilitarismus für die ethische Bildung der Soldaten 172
5.1.2.2 Richard Booker Brandt 175
5.1.2.2.1 Normrechtfertigung und Handlungsrechtfertigung 180
5.1.2.3 Kritik der utilitaristischen Ansätze 181
5.1.3 Konventionalismus/Kontraktualismus 186
5.1.3.1 George I. Mavrodes 186
5.1.3.2 „Todernste Konventionen" 190
5.1.4 „Absolutismus" 192
5.1.4.1 Thomas Nagel 192
5.1.4.2 Kritik 199
5.1.4.3 Exkurs: Autonome Gründe 202
5.1.4.4 Bernard Williams: Jim und Pedro 207
5.2 Sozialempirische Rekonstruktion mit ethischem Anspruch bei Michael Walzer 211
5.2.1 Warum auch Krieg nicht moralfrei ist — gegen den politischen Realismus 212
5.2.1.1 Der Melierdialog 213
5.2.2 Trennung von ius ad helium und ius in hello 221
5.2.3 Die moralische Gleichstellung der Kombattanten 223
5.2.4 Nützlichkeit und Verhältnismäßigkeit 225
5.2.5 Das Unterscheidungsgebot 228
5.2.6 Das modifizierte Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung 233
5.2.7 Angemessene Sorge 235
5.2.8 „Supreme Emergency" 237
5.2.8.1 Einige Schwierigkeiten 240
5.2.9 Zwei Arten moralischer Verantwortung 243
5.2.10 Was Walzers Ansatz ausmacht 245
5.2.11 lus ad vim 251
5.2.12 Henry Shue: Den Rechtsverfall stoppen 253
5.2.13 John Rawls: Auf dem Weg zum Recht der Völker 255
5.2.13.1 Der Staatsmann 259
5.2.13.2 Ist das Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung akzeptabel? 260
5.2.13.3 Nochmals: Äußerster Notfall 262
5.2.13.4 Eberhard Schockenhoff und das Töten im Krieg 264
5.3 Kriegerische Gewalt als Extension selbstverteidigender Gewalt 268
5.3.1 Zum Begriff der Notwehr 269
5.3.1.1 Notwehr 269
5.3.1.2 Notstand 276
5.3.2 Moralphilosophische Ansätze in der Diskussion um legitime Selbstverteidigung 278
5.3.2.1 „Hobbesianischer" Ansatz 279
5.3.2.2 Selbstpräferenzansatz 280
5.3.2.3 Rechtebasierter Ansatz (Judith J. Thomson) 284
5.3.2.3.1 Die Irrelevanz von Absichten 287
5.3.2.3.2 Kritik an Thomson 290
5.3.2.4 Verantwortungsbasierter Ansatz 293
5.3.2.4.1 Kritik 298
5.3.2.5 Schuldbasierter Ansatz 299
5.3.2.5.1 Kritik 301
5.3.2.6 Zusammenfassung der Debatte 302
5.3.2.6.1 Die Quellen der Reflexion 302
5.3.2.6.2 Spezifische Kritik 303
5.4 „Revisionistische Theorie des gerechten Krieges" bei Jeff McMahan 307
5.4.1 „Liability": Haftbarkeit/ legitime Angreifbarkeit 309
5.4.2 Gerechte und ungerechte Kombattanten 314
5.4.3 Typen von Bedrohern 315
5.4.3.1 Der teilweise entschuldigte Bedroher 316
5.4.3.2 Unschuldige Bedrohungen 318
5.4.3.3 Personen ohne Haftbarkeit 321
5.4.4 Zwei ergänzende Problemfelder 323
5.4.4.1 Die Lasten für gerechte Kombattanten 323
5.4.4.2 Humanitäre Intervention 324
5.5 Kritische Überlegungen zu Ansatz und Argumentation McMahans 327
5.5.1 Nähe und Ferne: das Problem des Universalismus 328
5.5.2 Exkurs: Das Kasher-Yadlin-Papier 331
5.5.3 Kognitivismus und Konsistenzprüfung 337
5.5.4 Rückwirkung des Rechts auf die Moral 338
5.5.5 Handlungsbegriff 338
5.5.6 Persönliche Haftbarkeit im Krieg? 340
5.5.7 Die Gerechten unter den ungerechten Kombattanten 342
5.5.8 Total isierung des Krieges? 344
5.5.9 Moralische Verantwortung im sozialen Kontext 350
5.5.10 Distributive Gerechtigkeit, Kostenkalkül, Risikomanagement und Normsetzung 353
5.5.11 Distributive Gerechtigkeit anstelle von retributiver 358
5.5.12 Gerechter Grund? 362
5.5.13 Verteidigende Gewalt 365
5.5.14 Bedrohung ist Ausdruck und Ergebnis einer Interpretation 366
5.5.15 Der problematische Begriff des Schadens 369
5.5.16 Gerechtfertigte Verteidigung gegen einen gerechtfertigten Angreifer: die McMahan-Steinhoff-
Debatte 376
5.5.17 Exkurs: Die Analyse der Rechte nach W. N. Hohfeld 381
5.5.18 Recht und Moral 382
5.5.19 Haftbarkeit — Immunität 384
5.5.20 Wie leistungsfähig ist McMahans ethischer Ansatz im Hinblick auf das Humanitäre
Völkerrecht? 386
5.5.21 Zwei Ebenen der Moral? Die Einwände Henry Shues und Seth Lazars 393
5.5.22 Anmerkungen zur Debatte 397
5.5.23 Aspekte der Bewährung — Kindersoldaten 401

6 EIN DREI-EBENEN-MODELL ALS ANSATZ 404

6.1 Drei normative Ebenen 404
6.2 Verteidigung des Naturrechts in der Ethik des ius in hello 414
6.3 Das Phänomen des moralischen Entschuldigt-Seins 420
6.4 Anmerkungen zur heuristischen Rolle von beabsichtigten und in Kauf genommenen Folgen 425
6.5 Ex-ante- und ex-post-Beurteilungen 432
6.6 Gewalt muss rechtlich geordnet sein mit dem Ziel, sie zu minimieren 435
6.7 Rechtliche Anreize zum illegitimen Handeln? 441
6.8 Die Notwendigkeit verbesserter internationaler Verrechtlichung 443

7 DREI ANWENDUNGSFELDER 447

7.1 Der Einsatz von militärischer Robotik 447
7.1.1 Bewaffnete Drohnen 447
7.1.2 Tödliche autonome Waffensysteme 455
7.1.2.1 Konsequentialismus 458
7.1.2.2 Nicht-konsequentialistische Problemstellungen 462
7.1.2.2.1 ,,Kann mit autonomen Waffensystemen das Humanitäre Völkerrecht befolgt werden?" 462
7.1.2.2.2 Die „Verantwortlichkeitslücke" 468
7.1.2.2.3 Darf mit autonomen Waffensystemen getötet werden? 473
7.1.2.2.4 Verletzung der Menschenwürde 475
7.2 Private Militärfirmen 479
7.2.1 Der „Blackwater-Skandal" im Jahr 2007 480
7.2.2 Das Montreux-Dokument des IKRK und der Schweizer Eidgenossenschaft 481
7.2.3 Die (militär-)ethische Debatte 483
7.2.4 Perpetuierung der Gewalt 486
7.3 Medizinische Ethik im bewaffneten Konflikt 488
7.3.1 Helen Frowe und Angriffe auf humanitäre Hilfsorganisationen 489
7.3.2 Die verschiedenen Rollen als Soldat und als Mensch 491
7.3.3 Haupt- und Nebenfolgen — Doppelwirkung 492
7.3.4 Sind Militärmediziner humanitäre Helfers 493
7.3.5 Die Problematik der Triage-Fälle 495
7.3.6 „Responsibilty account" in der (militär-)medizinischen Ethik 497
7.3.7 Erneut: Das Problem von Recht und Moral 498
7.3.8 Rollenspezifische Risiken 501
7.3.9 Rollenkonflikte 502
7.3.10 Verweigerung 504
7.3.11 Arzt als Überwacher von Folter? 505
7.3.12 Institutionelle Trennung als Lösung für den Rollenkonflikt? 506
7.3.13 Die Ermöglichung rollenspezifischer Moral durch das Recht 508
7.3.14 Grenzen von rollenspezifischer Moral 510
7.3.15 Die Panaitios-Cicero-Unterscheidung von vier personae 511
7.3.16 Rollenspezifische Rechte versus rollenspezifische Pflichten 513
7.3.17 Resümee zur Militärmedizin 514

8 FAZIT 517

8.1 Strafende Gewalt versus verteidigende Gewalt 522
8.2 Kollektivismus versus Individualismus 524
8.3 Die Sorge um den Gegner 529
8.4 Völkerrechtspolitische Konsequenzen 532

LITERATURVERZEICHNIS 538