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Bertolt Brechts Hauspostille als Kontrafaktur lyrischer Zyklen des frühen 20. Jahrhunderts
Bertolt Brechts Hauspostille als Kontrafaktur lyrischer Zyklen des frühen 20. Jahrhunderts




Karoline Sprenger

Königshausen & Neumann Verlag
EAN: 9783826068294 (ISBN: 3-8260-6829-7)
360 Seiten, hardcover, 16 x 24cm, 2019

EUR 48,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Bis heute wird Bertolt Brechts Hauspostille sowohl als „lyrischer Zyklus“ als auch als „Sammlung“ bezeichnet, wobei die beiden Begriffe fälschlicherweise synonym verwendet werden. Tatsächlich verfügt der idealistisch verstandene Zyklus über eine höhere formale wie inhaltliche Qualität: Die Gedichte weisen einen inneren Zusammenhang auf, so dass sich durch den Blick auf das große Ganze ein „Mehrwert“ über die Einzelgedichte hinaus ergibt.

Brecht plante bereits als Sechzehnjähriger, einen Zyklus zu schreiben und beschäftigte sich u.a. mit den Zyklen des „Meisters“ Stefan George, Ludwig Ganghofers, Rainer Maria Rilkes und Gottfried Benns.

Eine genaue Untersuchung von Form und Inhalt dieser Werke sowie der Hauspostille förderte Erstaunliches zu Tage: Zwar ließ Brecht sich durchaus inspirieren und übernahm verschiedene formale und inhaltliche Elemente für sein eigenes Werk. Dabei jedoch verfremdete er seine Vorlagen, schrieb gegen sie an und entwickelte sie vor dem Horizont seines eigenen, nüchternen und materialistischen Weltbildes weiter. Zwar schuf er so mit seiner Hauspostille einen Zyklus, aber er zerbrach dabei die alte idealistische Form und ersetzte sie durch eine neue, flexible, anpassbare – in ähnlicher Weise wie er später Drama und Theater revolutionierte.

PD Dr. Dr. h.c. Karoline Sprenger promovierte 2002 über Jean Pauls Erziehlehre Levana. Seitdem publizierte sie zahlreiche Studien zu Novalis, Bertolt Brecht, Ödön van Horváth, Thomas Mann, Günter Grass und zur Kinder- und Jugendliteratur.
Rezension
Eigentlich bezeichnet man als Hauspostille eine Sammlung von Predigten oder ein Predigtbuch, das zur häuslichen Erbauung oder zum Vorlesen in der Kirche bestimmt war. Bertolt Brecht verfasste eine Sammlung bzw. einen Zyklus von Gedichten zwischen 1916 und 1925 unter dem Titel Hauspostille, der dabei eine parodistische Anspielung auf Predigtsammlungen allgemein, insbesondere die gleichnamige Predigtsammlung von Martin Luther aus der Mitte des 16. Jahrhunderts darstellt. Brecht selbst notierte 1940 über die Hauspostille in sein Journal: "Der Großteil der Gedichte handelt von Untergang und die Poesie folgt der zugrundegehenden Gesellschaft auf den Grund. Die Schönheit etabliert sich auf Wracks, die Fetzen werden delikat." Die hier anzuzeigende Arbeit bevorzugt den Terminus Zyklus statt Sammlung; denn Zyklus hat einen Mehrwert ggegenüber dem Einzelgedicht und weist einen geplanten Zusammenhang auf. Zugleich hat Brecht bereits früh einen Zyklus in Kontast zu den Vorgaben von Stefan George, Ludwig Ganghofer, Rainer Maria Rilkes und Gottfried Benn geplant und diese bewußt verfremdet. - Für alle Brecht-Liebhaber und solche, die im Unterricht Werke Brechts behandeln, sei auf diese Reihe "Brecht – Werk und Kontext" hingewiesen: eine Schriftenreihe der Brecht-Forschungsstätte Augsburg, die Ende 2016 ihr 25-jähriges Bestehen feiern konnte. Bert Brecht (1898 Augsburg - 1956 Berlin), Begründer des Epischen Theaters, eines analytischen Theaters, das den Zuschauer zum distanzierten Nachdenken und Hinterfragen anregt, zählt unbestritten zu den schaffensreichsten deutschen Dramatikern und Lyrikern des 20. Jhdts. und gehört im schulischen Unterricht zum regelmäßigen Lektüre-Kanon.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Dank 9

1 Einleitung — Der „Meister" und die „Vollendung des zyklischen Prinzips" 11

1.1 Der „glückliche Fund": Brechts Arbeitsweise der Materialverwertung 14
1.2 Die „Ursprünglichen": Brechts Rezeption literarischer Zyklen von 1914-1916 22
1.3 „Weisheit, Gelahrtheit": Ziel und Vorgehensweise der Arbeit 27
1.4 Die „hohe Dichtung": Der Zyklus in der deutschen Literatur und Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert 31
1.5 Die Form — „jenes tief Erregende in Maß und Klang": Die strukturellen Merkmale des lyrischen Zyklus 37
1.5.1 „Das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander": Linearer Verlauf und Kreisform 39
1.5.2 „Die notwendige Folge des einen aus dem andern": Inspiration versus Verfahren 41
1.6 Die Winterreise in Brechts Hauspostille 47
1.7 Arthur Schnitzler und Thomas Mann über Zyklisches 51

2 Karl Lieblich: Trautelse 57

2.1 Jugendliche Gegnerschaft 57
2.2 Karl Lieblich als Kriegsdichter 1914-1916 64
2.3 Karl Lieblichs „Frühlingsreise": der Zyklus Trautelse 70
2.3.1 Locus amoenus 74
2.3.2 Die Winterreise in der Frühlingsreise 77
2.3.3 Trautelse als Folie für Brechts Dichtung 86

3 Ludwig Ganghofer: Eiserne Zither 89

3.1 Ein Musikinstrument wird zur Waffe. Ganghofers „Kriegsdienst" und Brechts Repliken 89
3.2 Die Dynamik des Zyklus: „Immer feste druff!" 96
3.3 Der Kreis wird zur Ellipse 105
3.4 Brechts Angriff auf Ganghofers hermetisches Idyll 108

4 Analoge Strukturen: Der lyrische Zyklus, Nietzsches Verständnis des modernen Individuums und das Theorem von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" 115

4.1 Zertrümmerte Metaphysik und überwundener Genius 118
4.2 Wiederkunft als Basis zyklischen Geschichtsverständnisses 124

5 Stefan George: Der Siebente Ring 129

5.1 Eigenwillige Jüngerschaft: Die beiden Freundeskreise des jungen Brecht 129
5.2 Sakrale Nietzsche-imitatio im Zeichen ,ewiger Wiederkunft': Der Ästhetizist wird zum Gesellschaftskritiker 143
5.3 Nietzsche-Variationen: Von Georges Der Widerchrist zu Brechts Luzifers Abendlied 161

6 Gottfried Benn: Morgue 175

6.1 Das Bild des Janusgesichts als Deutungsschablone der Beziehung zwischen Gottfried Benn und Bertolt Brecht 175
6.2 Von Georges Der Siebente Ring zur zyklischen Kleinform: Benns Morgue-Gedichte 178
6.3 Am Anfang war das Sakrileg: Morgue 179
6.4 Im Wirbel der Materialisierung 182
6.4.1 Der Bräutigam der „kleinen Aster" 182
6.4.2 Ophelia und ihre Kinder: Schöne Jugend 186
6.4.3 Die Mitte des Zyklus: Kreislauf 189
6.4.4 Ophelia wird geschändet: Die Negerbraut 193
6.4.5 Liturgische Generalanalyse: Requiem 198
6.5 „Eine Leiche ist was Kaltes!" Verwesung und gesellschaftliche Komplexität in der Ballade vom Liebestod 201
6.6 Zyklische Form als Destruktion — Ichdissoziation im Tagesrhythmus 206
6.7 Die Anmut der Auflösung: Vom ertrunkenen Mädchen 213
6.8 Defektes Requiem: Von der Freundlichkeit der Welt 215

7 Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch 219

7.1 Die Trompete ohne Ton und das Sprechen von Gott 219
7.2 Fähnrich versus Cornet — Brechts früher Gegenentwurf zu Rilkes Erzählung 222
7.3 Rilkes Das Stunden-Buch, der „tautologische" Zyklus 226
7.4 Ich und Du — Betender Mönch und Gott als Zentren der Ellipse 229
7.5 Ewige Wiederkunft des Gleichen und Vitalismus: Nietzsche in der Mönchszelle 243
7.6 Luzifer bei Rilke und Brecht: Ich komme aus meinen Schwingen heim und Gegen Verführung 249
7.7 Voranschreitende Profanisierung und Destruktion der Form: Vom Stunden-Buch zur Hauspostille 256

8 Bertolt Brechts Hauspostille 265

8.1 Die Entstehungsgeschichte von Taschen- und Hauspostille 265
8.2 Der „Bau": geometrische Struktur versus Versatzstückbauweise 269
8.3 Luther und Brecht: Vorbild und Weiterführung 271
8.4 Weiser, Egomane und Kunstfigur in der Großstadt: Der „arme B.B." als Zentrum des Zyklus 274
8.5 Vom Zentrum des Zyklus zur „ewigen Wiederkehr des Gleichen", zur Destruktion des klassischen Individuums und zur Sprachskepsis: Nietzsche in der Hauspostille 282
8.6 Die „ewige Wiederkehr" als Strukturelement der lyrischen Großform: Das Rundgedicht im Bau der Hauspostille 287
8.6.1 Von der Freundlichkeit der Welt 288
8.6.2 Lied der drei Soldaten 289
8.6.3 Erinnerung an die Marie A. 290
8.6.4 Choral vom Manne Baal 293
8.6.5 Legende vom toten Soldaten 297
8.7 „Zyklus im Zyklus" 300
8.7.1 „Er stammte aus einem Wald ..." — Durchbrechung der Gattungsgrenzen 300
8.7.2 Der Baal-Zyklus der Hauspostille 306

9 Schluss 321

Literaturverzeichnis 333
Quellen 333
Sekundärliteratur 336
Personenregister 357