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Wörterleuchten Kleine Deutungen deutscher Gedichte
Wörterleuchten
Kleine Deutungen deutscher Gedichte




Peter von Matt

Deutscher Taschenbuch Verlag
EAN: 9783423346658 (ISBN: 3-423-34665-5)
224 Seiten, paperback, 13 x 19cm, 2011

EUR 9,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Sechzig Gedichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart stellt Peter von Matt vor. Elegant bringt er die Texte zum Leuchten, seine geschliffenen Interpretationen machen den Leser unangestrengt mit den jeweiligen Besonderheiten vertraut, unterhalten blendend und regen zu eigenen Deutungen an.



»Ein reines Lektürevergnügen.« Die Welt

»Die Deutungen neben den Gedichten werden selbst zu kleinen Meisterwerken.« Leipziger Volkszeitung
Rezension
Sechzig Gedichte erschließt Peter von Matt in diesem Buch, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von Klassikern wie Goethe, Heine, Hölderlin oder Brecht bis zu lyrischen Funden von kaum bekannten Dichtern. Den Originaltexten folgt eine geschliffene Interpretation, die das Metrum, die Sprache, die Zeitgeschichte ausleuchtet und nicht mehr Lektürezeit in Anspruch nimmt als das jeweilige Gedicht. So wird der Leser unangestrengt mit den Besonderheiten der Texte vertraut gemacht, blendend unterhalten und nicht zuletzt zu eigenen Gedanken angeregt: über die Schönheit der Natur, die Politik, die Gesellschaft, über Vergänglichkeit und Tod und immer wieder über die Liebe in ihren vielen Formen.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Lyrik lesen!

»Das Gedicht vermag so unmittelbar zu faszinieren und zu irritieren, zu begeistern und zu verärgern wie keine andere literarische Form«, sagt Peter von Matt. Daher hat er sich daran gemacht, eine umfassende Auswahl der besten Gedichte zusammenzustellen: Sechzig kleine Meisterwerke, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von Klassikern wie Goethe, Heine, Hölderlin oder Brecht ebenso wie von kaum bekannten Dichtern. Elegant bringt Peter von Matt die Texte zum Leuchten mit einer geschliffenen Interpretation, die nicht mehr Lektürezeit in Anspruch nimmt als das Gedicht. So wird der Leser in ›Wörterleuchten‹ unangestrengt mit den jeweiligen Besonderheiten vertraut gemacht, blendend unterhalten und nicht zuletzt zu eigenen Deutungen angeregt.

Zu den weniger bekannten Dichtern, die Peter von Matt neben den Klassikern erschließt, zählen zum Beispiel Heinrich Hetzbold von Weißensee, Theodor Kramer oder Monika Rinck. Solche kaum bekannten Lyriker werden hier so präsentiert, dass es eine wahre Freude ist, sie nun endlich kennenzulernen. Der Leser bekommt aber nicht nur einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Gedichte aus Vergangenheit und Gegenwart. Sondern er wird in ›Wörterleuchten‹ auch über die je individuellen Ausprägungen von Sprache, Metrum, historischen oder biografischen Bezügen informiert. Gleichzeitig wird er bestens unterhalten. Und nicht zuletzt zu eigenen Gedanken angeregt: über die Schönheit der Natur, über Gesellschaft und Politik, Vergänglichkeit, Liebe in ihren vielfältigen Formen. So bekommen die Worte, ob in jüngerer oder schon vor langer Zeit geschrieben, ihren ganz eigenen Glanz und leuchten in unseren Alltag hinein.

Peter von Matts ›Wörterleuchten‹ ist ein kleines Meisterwerk über lyrische Meisterwerke. So verwundert es nicht, dass das Buch durchwegs hoch gelobt wurde:

»Mit Begeisterung und begeisternd geht von Matt zu Werke, ohne je pädagogisch-oberlehrerhaft zu wirken ... Ob er den biographischen, politischen, theologischen oder ästhetischen Aspekt betrachtet, immer ist von Matts Perspektive originell oder zumindest informativ und unterhaltend. Auch sein Stil bleibt stets flexibel, elegant und bescheiden. Es gibt wohl kaum einen anderen Gelehrten, der solch leichthändige, geradezu journalistische Formulierungen findet.« Süddeutsche Zeitung

»Ein Buch voller Überraschungen, dass sehr bekannte Gedichte sehr bekannter Autoren gedeutet werden ... ist eher die Ausnahme. Manchmal erweist sich, dass wir es gar nicht richtig gekannt haben, das bekannte Gedicht.« Tages-Anzeiger, Zürich

»Lesen Sie das Gedicht, dann das, was Matt dazu schreibt und dann noch einmal das Gedicht. Sie werden sich wundern, wie es aufblüht! Ein Lieblingsbuch.« TZ, München

»Ein reines Lektürevergnügen.« Die Welt

»Die Deutungen neben den Gedichten werden selbst zu kleinen Meisterwerken.« Leipziger Volkszeitung

»Peter von Matts ›Wörterleuchten‹ ist mehr als ein Buch mit klugen und elegant geschriebenen Interpretationen ... Das Schöne, wie es in den Interpretationen aufscheint, ist mehr als ein ästhetisches Phänomen, ein Produkt von Inspiration und Kunstfleiß. Es hat mit Wirklichkeit und Wahrheit zu tun.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Inhaltsverzeichnis
Auge in Auge mit dem Gedicht. Ein Vorwort 11

Das Glück des Ungeküßten
Heinrich Hetzbold vonWeißensee:
Wol mich der stunde 15

Pfeilschnell ins Glück
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau:
Sonnet.Vergänglichkeit der schönheit 18

Das seltsame Brautgeschenk
Johann Christian Günther:
Als er der Phillis einen Ring mit einemTotenkopfe überreichte 21

Der bittere Verdacht
Matthias Claudius:
Kriegslied 24

Lessings Not
Gotthold Ephraim Lessing:
Lied. Aus dem Spanischen 27

Diese unheimlichen Diminutive
Johann Wolfgang Goethe:
Heidenröslein 30

GefährlicheVollkommenheit
Johann Wolfgang Goethe:
Mignon 33

Die Nacht, die Frauenzeit
Johann Wolfgang Goethe:
Philine 36

Selbstbewußte Demut
Johann Wolfgang Goethe:
Grenzen der Menschheit 40

Hochgemut und chancenlos
Jakob Michael Reinhold Lenz:
Willkommen 44

Wovon soll der Dichter leben?
Friedrich Schiller:
Die Teilung der Erde 47

Die Pflicht erwürgt das Glück
Friedrich Schiller:
Der spielende Knabe 51

Die Heimkehr des Geschundenen
Friedrich Schiller:
Odysseus 54

Die verborgene Flamme
Friedrich Schiller:
Punschlied 57

Todernste Heiterkeit
Johann Peter Hebel:
Wie heißt des Kaisers Töchterlein? 60

Der Schatten Hamlets
Friedrich Hölderlin:
An die Deutschen 63

Sisyphos in preußischer Uniform
Adelbert von Chamisso:
Tragische Geschichte 66

Wie Liebe auf den Teufel kommt
Ludwig Uhland:
FräuleinsWache 69

Der Sturmwind und die bleierne Welt
Joseph von Eichendorff:
Herbstklage 73

Die Loreley im Walde
Joseph von Eichendorff:
Waldesgespräch 76

Von alter Unanfechtbarkeit
Ferdinand Raimund:
Das Hobellied 79

Liebesnot und Gegenwehr
Annette von Droste-Hülshoff:
Lebt wohl 82

Knalleffekt und Raffinesse
Heinrich Heine:
Belsatzar 85

Heine in extremis
Heinrich Heine:
Der Scheidende 89

Aus der Zeit getreten
Eduard Mörike:
Die schöne Buche 92

Die letzten Blumen
Hermann von Gilm zu Rosenegg:
Allerseelen 96

Armer Sieger
Friedrich Hebbel:
David und Goliath 99

Humanität und Fortpflanzung
Theodor Storm:
Von Katzen 103

Im Weltwind
Gottfried Keller:
Waldlied 108

Der Meermensch
Conrad Ferdinand Meyer:
Nicola Pesce 111

Liebesglück im Zwielicht
Conrad Ferdinand Meyer:
Dämmergang 114

Narkotische Fahrt
Stefan George:
Vogelschau 117

Wer spricht aus dem Mund der Dichter?
Rainer Maria Rilke:
Eine Sibylle 120

Zweideutige Melancholie
Hermann Hesse:
Im Nebel 123

Dschungelliebe in Berlin
Else Lasker-Schüler:
Giselheer dem Tiger 126

Eine letzte Hoffnung
Karl Kraus:
An den Schnittlauch 129

Schweres Scheitern, hohe Fahrt
Regina Ullmann:
Alles ist sein 132

Modernes Hohelied
Kurt Schwitters:
An Anna Blume. Merzgedicht 1 135

Weltverfinsterung
Robert Walser:
Was fiel mir ein? 139

Eine Liebesgeschichte
Gertrud Kolmar:
Salamander 142

Das Glück jenseits der Sprache
Silja Walter:
Tänzerin 145

Auf schwankenden Füßen
Günter Eich:
Latrine 148

Trümmermärchen
Günter Eich:
Brüder Grimm 152

Die Nacht des Emigranten
Theodor Kramer:
Oh, wer geht mit mir rasch noch ins Kino vor Nacht 155

Der Körper als Kunstwerk
Bertolt Brecht:
Der Bauch Laughtons 159

Wie ist das Gold so gar verdunkelt
Paul Celan:
Todesfuge 162

Nah am tödlichen Rand
Alexander Xaver Gwerder:
Ich geh unter lauter Schatten 166

Die unersättlichen Augen
Ingeborg Bachmann:
An die Sonne 169

Von einer anderen Melodie
Gottfried Benn:
Restaurant 173

Aufforderung zum Verdacht
Hans Magnus Enzensberger:
Ins Lesebuch für die Oberstufe 176

Die Krippe am Eismeer
Christine Lavant:
Wieder Nacht ... 179

Vom Sonnenschicksal
Friedrich Dürrenmatt:
Siriusbegleiter 182

Skrupellos glücklich
Peter Rühmkorf:
Außer der Liebe nichts 185

Unverhoffte Herrlichkeit
Friederike Mayröcker :
an eineMohnblume mitten in der Stadt 189

Lautgedicht und Schmerzensmann
Ernst Jandl:
waunsas wissn woiz ... 192

Schöner Ort mit unsichtbarer Hexe
Sarah Kirsch:
Beginn der Zerstörung 196

Ein Talisman gegen die Vergänglichkeit
Michael Krüger:
Die Schlüssel 200

Die Dichter und die Macht
Heiner Müller:
Geschichten von Homer 203

Gefahr als Droge
Durs Grünbein:
Krater des Duris 207

Poesie und Blitz und Donner
Monika Rinck :
i had a pony (her name was lucifer) 210

Nachweise 213


Leseprobe:

11
Auge in Auge mit dem Gedicht
Ein Vorwort
Sechzig Solitäre. Sie sind über Jahre hin zusammengekommen, genau
genommen über sechsundzwanzig Jahre. Stets als einzelne. Was sie verbindet,
ist die Zuneigung des Deuters. Von jedem dieser Gedichte war er
beim Schreiben tagelang wie besessen. DieVerse wühlten ihm im Gehirn.
Er fürchtete sich vor dem Weiterschreiben am nächsten Morgen, fürchtete,
auf den gegebenen zwei Seiten das Entscheidende zu verpassen. Und
er freute sich doch wieder beinahe sportlich auf die stilistische Schußfahrt.
Mit vielen Stücken war er seit langem vertraut, befreundet darf
man wohl sagen. So etwa mit Lessings kaum beachtetem »Lied. Aus dem
Spanischen«.Andere sprangen ihm beim Suchen plötzlich entgegen, verschlugen
ihm fast denAtem, und imMoment dieser intellektuellen Kollision
begann schon die Arbeit. So etwa, im Oktober 2007, Eichendorffs
»Herbstklage«.
Auch wenn hier keine Poesiegeschichte angestrebt wird, merkt man
wahrscheinlich, daß sich die deutsche Literatur der letzten dreihundert
Jahre imKopf des Deuters als vielgestaltig-gewaltige Landschaft erstreckt,
zusammenhängend, mit Nebelzonen, gewiß, und mit schärfer besonnten
Gebieten, aber als erlebte Einheit, durch Straßen und Ströme erschlossen,
die Gebirge mit den Ebenen verbunden und dieUrwälder mit den Boulevards.
An den literaturgeschichtlichen Signalen, die dadurch in die einzelnen
Deutungen gelangen, ist demVerfasser viel gelegen. Denn aus dieser
Landschaft nährt sich elementar das kulturelle Gedächtnis der deutschsprachigen
Länder.
Es gibt deren mehrere.Daran darf gelegentlich erinnert werden. Deutsche
Gedichte kommen nicht nur aus Deutschland. Die Landschaft der
deutschen Literatur dehnt sich über vieleGrenzen hinweg, geographische
und geschichtliche, über die von Preußen, Sachsen und Bayern wie von
12
Österreich und der Schweiz, auch Herders Königsberg liegt noch darin
und Keyserlings Kurland, das Böhmen Kafkas, Celans Czernowitz und
Celans Paris, das Kalifornien, London, Jerusalem der Emigranten. Der
Vertriebene, der in der Fremde ein deutschesGedicht schreibt,macht den
Exilort zu einem Teil dieser Landschaft, auf immer. Für den Schweizer,
der das vorliegende Buch geschrieben hat, ist sie Heimat, so selbstverständlich
und lebensnotwendig wie die Confoederatio Helvetica.
Sechzig Solitäre. Sechzig Begegnungen. Der Akt des Lesens fällt zusammen
mit dem Akt des Schreibens. Wichtige Nuancen des Textes offenbaren
sich dem Interpreten erst im Denkgerangel seines Formulierens.
Die Exegese auf kleinstem Raum ist einWerben um das Gedicht, um die
Sinnzusammenhänge im Wörterleuchten, und zugleich ein Werben um
die Leser für das Gedicht. Ein brauchbarer Germanist ist immer auch
ein matchmaker. Er bedarf der Geschicklichkeit der alten Heiratsvermittler.
Er will nicht sich selbst darstellen, sondern das Zusammenfinden
von Leser und Werk ermöglichen, mit Tricks gegebenenfalls, mit
Schmeicheleien, faustdicken Lobreden, diskreten Hinweisen auf versteckte
Reize, mit schnellem Schimpfen zwischendurch und hartnäckigem
Aufdecken des Scharfsinns im Text, des Gedichts als einer philosophischen
Tat.
Im Gedicht gewinnt die deutsche Sprache die äußerste Verdichtung
ihrer sinnlichen und intellektuellen Möglichkeiten. Es geschieht auf einmal,
so wie uns ein Gesicht auf einmal erscheint. Das Nacheinander der
Verse wird ebenso rasch zu einem Zugleich wie das Nacheinander von
Stirn und Augen, Nase, Mund und Kinn. Das merkwürdig archaische
Gesetz, das vom Gedicht einen graphischen Umriß verlangt, der es von
allen andern Texten der Schriftkultur unterscheidet, eine optische Gestalt,
die selbstgewiß Raum greift und Raum verschwendet, sich damit für
einzigartig erklärend, zum Solitär eben – wie man den einzeln gefaßten
Diamanten einen Solitär nennt oder den Baumriesen allein auf seinem
Hügel –, dieses Gesetz nähert das Gedicht tatsächlich dem begegnenden
menschlichen Gesicht an. Beider Merkmal ist die begrenzte Fläche, gegenwärtig
auf einen Blick, aber mit einem unendlich sprechenden Inhalt.
13
Daß die zwei Wörter Gedicht und Gesicht sich nur in einem Laut unterscheiden,
ist ein schöner Zufall der deutschen Sprache.
Zum Gesicht gehört, daß es erschrecken kann. Seinem Wesen nach
und mit biologischen Gründen. Lange vor dem Auftreten des Menschen
haben die Züge eines Gesichts auf Falterflügeln und Insektenrücken zur
Abschreckung gedient. Selbst die weiße Fläche am Hinterteil des Rehs,
der Spiegel, wie die Jäger sagen, simuliert das Auftauchen eines Gesichts.
Das verweist auf dessen merkwürdige Zeitstruktur, seine Plötzlichkeit.
Sie leitet sich her von der potentiellen Gefahr, die es verkörpert. Das
kleine Kind reagiert darauf schon nach wenigen Wochen. Auch die Erwachsenen
halten das volleAug-in-Auge kaum eine Sekunde lang aus; die
Blicke suchen sich und gleiten wieder weg.Nur die Gesichter derVerliebten
können endlos ineinander versinken. Aber auch dieser kostbare Zustand
hat seine zeitlichen Grenzen.
Soll das nun ebenso vom Gedicht gelten? Sicher nicht im erwähnten
biologischen Zusammenhang. Dennoch gibt es Analogien. Lichtenberg
hat das menschliche Gesicht »die unterhaltsamste Fläche auf der Erde
für uns« genannt. Die ebenso knapp umzirkte Fläche des Gedichts darf
damit wohl als einzige in Konkurrenz treten. Beide sind ähnlich komplex
in ihrer Organisation und wollen mit ähnlicher Dringlichkeit gelesen,
gedeutet, verstanden werden. Ob dies je ganz gelingen kann, ist hier so
fraglich wie dort. Beide verstecken ihre Wahrheit, melden aber deren
Vorhandensein energisch an. Deshalb vermag das Gedicht so unmittelbar
zu faszinieren und zu irritieren, zu begeistern und zu verärgern wie
keine andere literarische Form. Viele verwerfen es grundsätzlich und
rabiat. Die Gründe dafür sind zahlreich. Sie ergeben eine bedrohliche
Sammlung von Verdachtsmomenten, die sich abstecken läßt mit den
Stichworten: Nutzlosigkeit, Sentimentalität, Verlogenheit, Infantilität,
Nebel, Dusel, Luxus, Unverständlichkeit, Weltferne, Vorgestrigkeit, Eskapismus,
Täuschung, Affektiertheit, Abstrusität. Tatsächlich könnte jeder
dieser Begriffe ertragreich diskutiert werden und erbrächte ein tüchtiges
Stück Lyriktheorie.Denn jeder reagiert auf bestimmte Eigenschaften und
Tendenzen des Gedichts. Nur wischt das platte Urteil diese vorschnell
14
vom Tisch, statt sie in ihrer intellektuellen und ästhetischen Provokation
zur Kenntnis zu nehmen. Gerade das Phänomen der Abschreckung
müßte an der Lyrik so sorgsamuntersucht werden wie an den Flügeln des
Tagpfauenauges, auch wenn es hier um das Überleben einer Schmetterlingsart,
dort um die Gewinnung talentierter Leser geht.
Sechzig Solitäre. Die vielen Lyriktheorien undMusterinterpretationen,
die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, haben zu keinem Verfahren
geführt, das sich auf alle diese Texte gleichermaßen resultatsicher anwenden
ließe.Die Arbeit des Deutens, die das Gedicht nicht als Gerät für methodische
Kunstturner versteht, sondern als eine Aufgabe der Erkenntnis
und der Vermittlung zugleich, des Werbens um die Verse wie auch um
ihre Leser, muß sich von Mal zu Mal etwas einfallen lassen. Die vielerlei
Listen, mit denen das Gedicht seine Sinnzusammenhänge anzeigt und
versteckt, erfordern Gegenlisten. Einem Text, der sich als poésie pure versteht,
kann man unter Umständen biographisch beikommen und einem
Text, der sich als privates Bekenntnis gibt, mit formalen Kategorien.Was
zählt, ist allein das Resultat. Darüber entscheiden die Leser.
Die Form der Kleinen Deutung ist keine Erfindung des Verfassers. Sie
ist Marcel Reich-Ranicki zu verdanken, der 1974 die »Frankfurter Anthologie
« begründet hat und sie bis heute leitet. Die meisten Interpretationen
des vorliegenden Bandes wurden für diese wöchentliche Reihe in der
»Frankfurter Allgemeinen Zeitung« geschrieben. Auch wenn es noch
keine Theorie der Kleinen Deutung gibt, ist diese doch zu einer unverwechselbaren
Gestalt der literarischen Kritik und Auslegung geworden.
Sie zieht viele Literaturwissenschaftler an, andere lehnen sie grimmig ab.
Der Verfasser des vorliegenden Buches war dem Spiel verfallen, seit er
1982 mit Chamissos »Tragischer Geschichte« den ersten Versuch machte.
Er verdanktMarcel Reich-Ranicki manchen wertvollenHinweis, bald auf
einen Patzer, bald auf einen übersehenen Zusammenhang, auch viele
konkrete Text-Vorschläge. Wem, wenn nicht ihm, sollte dieses Buch gewidmet
sein?

Dübendorf bei Zürich, im Sommer 2008
Peter von Matt