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Menschenrechte - Integration - Inklusion
Aktuelle Perspektiven aus der Forschung
Petra Flieger, Volker Schönwiese (Hrsg.)
Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781517936 (ISBN: 3-7815-1793-4)
256 Seiten, paperback, 15 x 21cm, 2011
EUR 19,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen orientiert sich konsequent an Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung von Mädchen und Buben sowie Frauen und Männern mit Behinderung.
Die Auseinandersetzung über die damit verbundenen Konsequenzen für Politik und Gesellschaft hat eben erst begonnen. Auch für die Integrations- und Inklusionsforschung stellt das internationale Übereinkommen eine Herausforderung dar, wie die vielfältigen Beiträge zu folgenden vier Schwerpunkten zeigen:
• Inklusive Gesellschaft
• Inklusive Schule
• Inklusive Forschung
• Arbeiten mit dem Index für Inklusion
Die Herausgeberinnen Petra Flieger, Mag.a, freie Sozialwissenschaftlerin; Schwerpunkte: Gleichstellung und Inklusion von Menschen mit Behinderungen in allen Gesellschaftsbereichen, partizipatorische Forschung.
Volker Schönwiese, A.Univ.-Prof. Dr., Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck; Aufbau des Lehr- und Forschungsbereichs der Inklusiven Pädagogik und Disability Studies.
Rezension
Nach Meinung der Herausgeber gilt: Die UNO-Regeln sind ein wichtiges Gesetz für Menschen mit Behinderungen. Sie gelten auch für die Forschung. Wissenschaftler und Forscherinnen müssen nun überlegen, was die UNO-Regeln für ihre Arbeit bedeuten. - Schulen und Universitäten sollen wirklich für alle Menschen offen sein. Alle sollen beim Lernen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Das nennt man inklusive Bildung. - Menschen mit Behinderung sollen überall miutwirken können. Auch in der Forschung sollen sie dabei sein. Das ist nicht einfach und kann Angst machen. Es ist wichtig, dass man über diese Angst nachdenkt und redet. Dann werden die Ergebnisse der Forschung besser.
Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
Marianne Schulze
Menschenrechte für alle: Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 11
Petra Flieger und Volker Schönwiese
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Eine Herausforderung für die Integrations- und Inklusionsforschung 27
2 Aspekte inklusiver Gesellschaft
Bettina Bretländer und Ulrike Schildmann
Geschlechtersensible Inklusionsforschung vor dem Hintergrund der neuen UN-Konvention (vor allem Artikel 6, 23, 24, 27, 28) 39
Marion Sigot
Die UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen und ihre Auswirkungen auf die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten 47
Natalia Postek
Die UN-Konvention und politische Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten 53
Petra Flieger
Zum Stand der Umsetzung von Artikel 19 der UN-Konvention in Österreich 59
Alina Kirschniok
Analyse sozialräumlicher Behinderungen und Ressourcen 67
Imke Niediek
Das Subjekt in der Hilfeplanung 75
Kirsten Puhr und Wolfgang Rathke
Unterstützung selbstbestimmter Teilhabe durch ein Persönliches Budget!? 83
3 Aspekte Inklusiver Schule
Natascha Korff und Katja Scheidt
Inklusive (Fach-)Didaktik und LehrerInnenexpertise: Ergebnisse zweier Pilotstudien 91
Tanja Sturm
Differenzkonstruktionen in unterrichtlichen Praktiken 99
Bernadette Hörmann und Stefan T. Hopmann
Marginalisierungsprozesse von Menschen mit Behinderungen im Rahmen von „School-Accountability“-Maßnahmen 105
Helga Fasching
Beiträge der Forschung zu inklusiven Übergangsprozessen von der Schule in Ausbildung und Beruf 111
Anette Hausotter
UN-Konvention und Inklusion – Aktuelle Entwicklungen und Ergebnisse im Rahmen inklusiver Bildung in Europa 119
Lea Schäfer
Inklusion International. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Spanien 125
Reinhard Markowetz
Inclusive Education: Schulentwicklung in Burkina Faso/Westafrika 131
4 Aspekte Inklusiver Forschung
Oliver Koenig und Tobias Buchner
unter Mitarbeit von
Filiz Cay, Franz Hoffmann, Michaela Koenig, Wolfgang Orehounig,
Daniela Pittl, Simon Prucker und Monika Rauchberger
Die Bedeutung von Lebensgeschichten für die UN-Konvention 139
Wiebke Curdt
Integrativ oder inklusiv: Integration in ein Forschungsvorhaben 153
Markus Eichinger und Gertrude Kremsner
Vier Semester inklusive Forschung in einem Seminar an der Universität Wien: Rück- und Ausblick 161
5 Arbeiten mit dem Index für Inklusion
Ines Boban und Andreas Hinz
„Index für Inklusion“ – ein breites Feld von Möglichkeiten zur Umsetzung der UN-Konvention 169
Maria-Luise Braunsteiner und Stefan Germany
Wiener Neudorf und United Nations aus dem Blickwinkel des begleitenden ForscherInnenteams – ausgewählte Ergebnisse der Begleitforschung zum Projekt „INKLUSION – Vernetzung der Bildungseinrichtungen der Gemeinde Wiener Neudorf“ 177
Jo Jerg, Sabine Kaiser und Stephan Thalheim
Organisatorische, pädagogische und gemeinwesenorientierte Inklusionsentwicklungen in Kindertageseinrichtungen: Modellprojekt IQUAnet 197
Clemens Dannenbeck und Carmen Dorrance
Inklusion in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit – ein Fortbildungsmodul 205
Andreas Hinz
Eine Region Schleswig-Holsteins auf dem inklusiven Weg 213
Ines Boban und Andreas Hinz
Arbeit auf der Basis des Index für Inklusion mit Schulen im Land Sachsen-Anhalt 219
Edith Brugger-Paggi
Projekt „Index für Inklusion“
Eine Ressource zur Entwicklung einer inklusiven Schule, eines inklusiven Kindergartens und ein Instrument zur Selbstevaluation 227
Dietlind Gloystein
Gesucht werden …
Pankower Schulen auf dem Weg zur Inklusion 231
Barbara Brokamp
Ein kommunaler Index für Inklusion – oder:
Wie können sinnvoll kommunale inklusive Entwicklungsprozesse unterstützt werden? 237
Andrea Platte und Christian-Peter Schultz
Inklusive Bildung an der Hochschule – Impulse für LehrerInnenbildung und Soziale Arbeit 245
Liste der Autorinnen und Autoren 253
Leseprobe:
1 Einführung
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VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2011
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Marianne Schulze
Menschenrechte für alle: Die Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen
Zusammenfassung in Leichter Sprache
Menschenrechte sind die Rechte, die man hat, weil man Mensch ist.
Die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen werden oft übersehen.
Deshalb gibt es eine Konvention. Eine Konvention ist eine Vereinbarung
von Regeln zwischen Staaten.
In der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen vereinbart. Der folgende
Text erklärt die Geschichte und die Regeln der Konvention.
Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
hat den Zweck, die „… volle und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte
und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu
fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung ihrer angeborenen
Würde zu fördern“ (Artikel 1 CRPD).
Menschenrechte sind jene Rechte, die man kraft Menschseins hat. Sie sind
die Grenze, die das Individuum vis-à-vis dem Staat zieht und die der Staat
mit dem Ziel, ein Leben in Würde für jeden und jede zu ermöglichen, zu
beachten und zu wahren hat. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht in irgendeiner
Form von den mehr als 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte erfasst ist. Die Lektüre der Morgenzeitung – ein Produkt der
Meinungsfreiheit, der morgendliche Kaffee – ein Aspekt des Menschenrechts
auf Nahrung, das Recht durch die Teilnahme an Wahlen die politische Vertretung
zu bestimmen ... Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
„Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren“, beginnt die oft
zitierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung
der Vereinten Nationen beschlossen wurde. Seither wurde in
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12 Marianne Schulze
zahlreichen anderen Verträgen, Verfassungen und auch Gesetzen in verschiedensten
Varianten darauf hingewiesen, dass alle gleich an Rechten sind und
dieselben Chancen haben sollen, diese zu verwirklichen. Was auf dem Papier
vielversprechend aussieht und wohl klingt, ist im Alltag oft ein schlecht oder
gar nicht erfüllter – moralischer – Anspruch.
Die Durchsetzung von Menschenrechten ist ihrer Natur nach schwierig und
eine Herausforderung, die niemals endet. Wiewohl es in allen Ländern der
Welt – teilweise dramatischen – Verbesserungsbedarf für die Umsetzung von
Menschenrechten gibt, ist eine stetige Verbesserung der Behauptung der
Rechte des Einzelnen – und der Einzelnen – gegenüber dem Staat in den
letzten Jahrzehnten eindeutig festzustellen. Vor allem gesetzliche Verbesserungen
sind oft auf eine wachsende Anerkennung von Menschenrechten
zurückzuführen, man denke z.B. an die Verbesserung des Gleichstellungsrechts
oder den Schutz des und der Einzelnen im Bereich Datenschutz.
1 Der mangelnde Schutz der Menschenrechte von
Menschen mit Behinderungen
Eine kritische Betrachtung des Menschenrechtsdiskurses der letzten 60 Jahre
macht unter anderem deutlich, dass Menschen mit Behinderungen und die
Barrierefreiheit von Menschenrechten wenig Beachtung gefunden haben. Ein
wesentlicher Faktor dafür ist die Tatsache, dass der Anfangsklausel der Menschenrechtserklärung
– „Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde
geboren“ – eine unvollständige Anti-Diskriminierungsklausel folgt. Die
Gründe, nach denen nicht diskriminiert werden soll, erfassen unter anderem
Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft, nicht jedoch Behinderungen bzw.
Beeinträchtigungen. In einer Auffangklausel wird auf „andere Gründe“ verwiesen,
jedoch ist dieses Auffangnetz über die Jahrzehnte ungenutzt geblieben.
Auch deshalb wurde Menschen mit Behinderungen vielfach die ausdrückliche
Anerkennung ihrer Menschenrechte verwehrt. Darüber hinaus
wird in Dokumenten aus den 1960er- bis 1980er-Jahren deutlich, dass es an
Bewusstsein über Barrieren jedweder Natur – sozialer, kommunikativer oder
intellektueller sowie baulicher – mangelte. Auch deshalb sind Menschen mit
Behinderungen in den meisten Menschenrechtsverträgen, die seit 1948 beschlossen
wurden, nicht erwähnt. Ein seit 1966 – und in Österreich seit 1978
– verbindlicher Vertrag über politische und bürgerliche Rechte (CCPR) erwähnt
Menschen mit Behinderungen genauso wenig wie der im selben Jahr
beschlossene Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
(CESCR) oder die Menschenrechtskonvention gegen Rassismus (CERD), die
auch in dieser historischen Phase beschlossen wurde. Vielfach zitiert ist auch
eine ca. zehn Jahre später beschlossene Konvention über die Rechte von
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Menschenrechte für alle 13
Frauen (CEDAW) – auch diese erwähnt „Behinderungen“ bzw. Beeinträchtigungen
nicht. Eine Ausnahme ist die Kinderrechtskonvention (CRC), die
1989 beschlossen wurde und die in einem eigenen Artikel (23 CRC) auf die
Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen eingeht. Sie sieht unter anderem
die Förderung der Selbstständigkeit von Kindern mit Behinderungen vor.
Auch das Recht von Kindern mit Behinderungen, die für die Betreuung notwendigen
Mittel auf Antrag zu erhalten, wird in dieser Konvention anerkannt
(Artikel 23 Abs. 2 CRC). Weiters sind Ausbildung, Gesundheitsversorgung,
Rehabilitation, die Vorbereitung auf das Berufsleben in Hinblick auf eine
möglichst umfassende soziale Integration1 und individuelle Entfaltung des
Kindes in dieser Konvention als Rechte verbrieft, die explizit auch für Kinder
mit Behinderungen Wirklichkeit werden sollen.
Die Kinderrechtskonvention ist in fast allen Staaten der Welt anerkannt; die
unrühmliche Ausnahme sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Jedoch
blieb der erhoffte Effekt in Sachen Barrierefreiheit für und Inklusion von
Kindern mit Behinderungen – sowie von Menschen mit Behinderungen generell
– aus: Die Umsetzung dieser Bestimmung ist in fast allen Ländern –
wenn überhaupt – Stückwerk geblieben. Die erhoffte Etablierung von
Barrierefreiheit als notwendigen Aspekt der Umsetzung von Menschenrechten
blieb völlig aus.
Wie Theresia Degener und Gerard Quinn (2002) in einer Studie für das
Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte feststellten,
sind Verweise auf Behinderungen in den allgemeinen Diskussionen der Menschenrechtsgremien
sehr sporadisch. Der – versuchten – Vollständigkeit
halber sei auch darauf verwiesen, dass Resolutionen der UN-Generalversammlung
und Beschlüsse anderer internationaler Gremien über hilflos wirkende
Versuche, die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zu thematisieren
– die fast ausschließlich auf dem medizinischen Modell aufbauen –
nicht hinauskamen (vgl. von Bernstorff 2007). Daran anknüpfend werden
Menschen mit Behinderungen in diesen Dokumenten überwiegend als wohlfahrtsbedürftige
Objekte dargestellt, von Rechten in einer umfassenden Form
ist nicht einmal ansatzweise die Rede.
Eine rühmliche Ausnahme bilden die Erläuterungen des Komitees zum Pakt
für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu Menschen mit Behinderungen:
„Sowohl die de iure als auch de facto Diskriminierung von Menschen
mit Behinderungen hat eine lange Geschichte und nimmt viele verschiedene
Formen an. Sie reicht von verletzenden Diskriminierungen, wie
z.B. der Verweigerung von Bildungschancen zu den eher ‚subtilen’ Formen,
wie z.B. Segregierung und Isolierung, bedingt durch physische und soziale
1 Die Übersetzung verwendet den Ausdruck „Integration“, da der Originaltext auch von „social
integration“ spricht, vgl. Artikel 23 (3) Kinderrechtskonvention (CRC).
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Barrieren ... Durch Gleichgültigkeit, Vorurteile und falsche Vorstellungen
sowie Exklusion bzw. Separierung werden Menschen mit Behinderungen
sehr oft daran gehindert, ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte
zu verwirklichen. Die Auswirkungen von behinderungsbedingter Diskriminierung
sind zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnung,
Verkehr, Kultur und Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen
besonders gravierend“ (Komitee 1994, 15).
2 Das Entstehen der Konvention
Nach zahlreichen, vor allem von Nichtregierungsorganisationen und besonders
von Behindertenorganisationen initiierten Anläufen machte 2001 Mexiko
einen Vorstoß, eine eigene Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen zu verhandeln. Wiewohl es Bemühungen gab, die Initiative
zu hintertreiben, war eine Staatengruppe rund um Mexiko – vor allem auch
Neuseeland – sehr erfolgreich, das einmal begonnene Projekt zügig und unter
großer Beteiligung der Zivilgesellschaft zu Ende zu bringen: Am 13.12. 2006
beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (A/RES/61/106).
Bevor es so weit war, gab es insgesamt neun Verhandlungsrunden, bei denen
in verschiedenen Formationen von allen 192 UN-Mitgliedsstaaten oder Arbeitsgruppen
am Text gefeilt wurde. Die Involvierung der Zivilgesellschaft
ging so weit, dass manche Staatendelegationen VertreterInnen von Behindertenorganisationen
aufnahmen; in manchen Fällen wurde die Delegation auch
von Menschen mit Behinderungen geleitet. Die anfängliche Ignoranz mancher
DiplomatInnen wurde vielfach mit lebensnahen Methoden durchbrochen:
Der Tradition der Vereinten Nationen folgend wurden in einer abendlichen
Verhandlungsrunde Dokumente mit dem Hinweis, dass am darauffolgenden
Tag die Übersetzung in den sechs offiziellen UN-Sprachen (Englisch,
Französisch, Spanisch, Russisch, Arabisch, Chinesisch) zur Verfügung stehen
würde, verteilt. Weil es keine barrierefreie Version auf einem Datenträger
für die sehbehinderten TeilnehmerInnen der Runde gab, wurde bei nächster
Gelegenheit ein Dokument in Braille – mit dem unerlässlichen Hinweis
auf die Übersetzung bis zum nächsten Tag – verteilt. Die Aktion verfehlte
ihre Wirkung nicht: Ab der nächsten Verhandlungsrunde gab es einen
Brailledrucker und barrierefreie Datenträger.
Um die Kraft dieser Konvention über den direkten Einflussbereich für Menschenrechte
von Menschen mit Behinderungen zu verstehen, muss man –
zumindest – zum Ende des Kalten Krieges Anfang der 90er-Jahre zurückschalten.
In der Zeit der Rivalität zwischen Ost und West wurden Menschenrechte
vor allem als diplomatischer Spielball eingesetzt. Die eine Seite warf
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Menschenrechte für alle 15
der jeweils anderen Seite die Missachtung bestimmter Rechte vor, die eigentliche
Umsetzung wurde wenig diskutiert. Auch wurde infolge der politischen
Dimension des Themas die Zivilgesellschaft weitestgehend ausgeschlossen.
Das änderte sich nach dem Ende der politischen Eiszeit stetig. Ein erstes –
wichtiges – Signal war eine Weltkonferenz zu Menschenrechten, die 1993 in
Wien stattfand. Die sogenannte Wiener Erklärung untermauert die Notwendigkeit,
Menschenrechte, die auf internationaler Ebene beschlossen werden,
auf nationaler Ebene umzusetzen. Gleichzeitig wurde die Rolle der Zivilgesellschaft
bei der Umsetzung der Rechte unterstrichen.
Diese – und andere – Aspekte der „Wiener Erklärung“ haben sich sowohl in
den Verhandlungen der Konvention als auch im Text selbst bemerkbar gemacht.
Neben der beispiellosen Beteiligung der Zivilgesellschaft war es vor
allem die Involvierung von nationalen Menschenrechtsinstituten, die auffallend
war. Eine der Konsequenzen ist, dass die Konvention die erste ihrer Art
ist, die einen nationalen Überwachungsmechanismus vorsieht.
3 Die Konvention
Menschen mit Behinderungen nicht länger als Objekte zu sehen, die des
Mitleids und der Fürsorge bedürfen, sondern als Subjekte, die selbstbestimmt
alle Menschenrechte barrierefrei und – wo notwendig mit Unterstützung –
selbst verwirklichen können sollen, ist die Kernaussage der Konvention.
Dieser längst überfällige Paradigmenwechsel, der den Fokus von den medizinischen
Parametern – und einer vorgeblichen „Heilung“ von Beeinträchtigungen
– auf die sozialen Aspekte von Behinderung verschiebt, macht unter
anderem die Barrieren in den Verhaltensmustern der Mehrheitsbevölkerung
deutlich. Wie Simon Walker, der Experte des Büros der Hochkommissärin
für Menschenrechte der Vereinten Nationen, bei einem nicht publizierten
Vortrag im britischen Parlament pointiert formulierte: „It is not about fixing
people but about fixing society“.
Das multidimensionale Verständnis von Barrierefreiheit, das der Konvention
zugrunde liegt, betont vor allem die Bedeutung von sozialen Barrieren, wie
z.B. Stereotypen, Vorurteilen und anderen Formen von Stigma in der Exklusion
von Menschen mit Behinderungen. Die Konvention hält daher fest, dass
„… das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass
Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen
und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an
der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
hindern …” (Präambel (e) CRPD).
Das Dogma, wonach Menschen mit Behinderungen nicht behindert sind,
sondern behindert werden, drückt sich gerade auch in der Betonung der
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Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und der – vor
allem sozialen – Umwelt aus. Im klaren Bruch mit bislang üblichen medizinischen
Beschreibungen umschreibt die Konvention daher in einer nicht abschließenden
Formulierung Personen mit Behinderung als „… Menschen, die
langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen
haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der
vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern
können“ (Artikel 1 CRPD).
Wichtig zu betonen ist, dass die Konvention keine Definition von Behinderung
enthält, jedoch eine, auch die Versagung von angemessenen Vorkehrungen
umfassende Definition von „Diskriminierung“ (Artikel 2 CRPD). Im
neuen Paradigma, das in Teilen dem biosozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation
folgt, ist Inklusion der Schlüssel, um soziale Barrieren zu
überwinden und wird Inklusion zum Prinzip, das die Adaptierung von Strukturen
auf allen Ebenen erfordert (vgl. Hirschberg 2009).
In der Vielzahl von Barrieren, die Menschen mit Behinderungen überwinden
müssen, betont die Konvention auch die kommunikativen Barrieren. Die Definition
von Kommunikation (Artikel 2 CRPD) umfasst Brailleschrift, Gebärdensprachen
und anderen Formen assistierter Kommunikation, v.a. auch für
non-verbale Menschen; barrierefreie Kommunikation zieht sich wie ein roter
Faden durch den Vertrag. Ein weiterer Barriereaspekt ist schwere Sprache:
Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist die
erste, die verpflichtend in Leichter Sprache veröffentlicht werden muss (Artikel
49 CRPD). Barrierefreiheit im physischen Sinne ist selbstverständlich
auch erfasst; eine umfassende Bestimmung zu Barrierefreiheit befasst sich
vor allem mit diesen. Beachtlich ist, dass die deutsche Übersetzung des Artikel
9 den engeren Begriff „Zugänglichkeit“ verwendet.
Neben der Betonung der sozialen Barrieren und der Auswirkung von „Wechselwirkungen“
ist Barrierefreiheit auch als ein Grundprinzip der Konvention
verankert (Artikel 3 Abs. f CRPD). Barrierefreiheit ist hier im weitesten
Sinne und damit nicht nur in der baulichen Dimension zu verstehen. Menschenrechtlich
gibt es auch noch eine fünfte – in der Konvention nicht sofort
ersichtliche – Dimension von Barrierefreiheit: Die Zugänglichkeit im ökonomischen
Sinne, im Sinne einer „Leistbarkeit“, gerade auch für Dienstleistungen
und andere Servicedienste (Komitee 1991; 1999).
Die Konvention gliedert sich grob in folgende Abschnitte:
3.1 Präambel
Diese liest sich wie ein Überblick zur Konvention: Sie stellt die Exklusion
von Menschen mit Behinderungen dar, verweist auf die Auswirkungen von
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Menschenrechte für alle 17
sozialen Barrieren (Präambel (e) CRPD) genauso wie die Bedeutung von
Mehrfachdiskriminierung (Präambel (p) CRPD).
3.2 Generelle Bestimmungen
Den Auftakt macht der – oben zitierte – Zweck der Konvention, dem eine
Umschreibung von Behinderungen folgt. D.h. es gibt keine abschließende
Definition von „Behinderungen“, sondern eine Skizze, welche Aspekte eine
Behinderung darstellen können. Wie auch in der Präambel wird das Schwergewicht
auf die sozialen Ursachen von Ausgrenzung und Exklusion gelegt:
Es sind Stereotype, Vorurteile und das mangelnde Wissen der politischen
Mitte, die die Barrieren verursachen und dazu führen, dass Menschen behindert
werden. Der Begriff der Barrierefreiheit wird in der Konvention daher
nicht nur im Sinne baulicher Hürden, sondern in seiner sozialen Dimension
verstanden. Das sogenannte soziale Modell ist daher die Grundlage für
barrierefreie Menschenrechte.
Neben der bereits erwähnten „Kommunikation“ und „Diskriminierung“,
werden folgende Begriffe definiert: „angemessene Vorkehrungen“, „Universelles
Design“ und „Sprache“. Eine wichtige Bestimmung ist Artikel 3, der
„allgemeine Grundsätze“ vorschreibt: Darunter fallen neben Gleichberechtigung
auch Barrierefreiheit, Partizipation und Inklusion. Jedes dieser Prinzipien
für sich zu diskutieren, könnte Bände füllen – dementsprechend wichtig
ist ihre Beachtung und Umsetzung. Ein weiteres Prinzip, das wegweisend ist:
Der Respekt für das Verschiedensein von Menschen.
In den Allgemeinen Verpflichtungen verpflichten sich Vertragsstaaten zur
Anpassung der Gesetzeslage und der Verwaltungspraxis an die Standards der
Konvention. Weiters wird die Involvierung der Zivilgesellschaft, insbesondere
von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, verpflichtend vorgesehen.
In diesem Abschnitt findet sich darüber hinaus eine Bestimmung,
die die Geltung der Konvention auch in den Bundesländern vorsieht.
Der umfassende Verpflichtungskatalog der Konvention bedeutet zunächst,
dass bestehende Gesetze, Verordnungen und Verwaltungspraktiken auf ihre
Konformität mit der Konvention zu überprüfen sind. Änderungen gesetzlicher
und sonstiger rechtlicher Rahmenbedingungen haben der Konvention zu
entsprechen (Artikel 4 CRPD). Zentral ist neben der Einhaltung der Grundprinzipien
die umfassende Antidiskriminierungsklausel, die die Versagung
von angemessenen Vorkehrungen gemäß der Konvention zur Diskriminierung
macht (Artikel 2 & 5 (3) CRPD). Bedeutsam für Partizipationsfragen ist
die in dieser Bestimmung enthaltene Verpflichtung zur aktiven Beteiligung
von Menschen mit Behinderungen und ihren Vertretungsorganisationen in
politischen Entscheidungsprozessen (Artikel 4 Abs. 3 CRPD).
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Anti-Diskriminierung ist ein Grundpfeiler der Menschenrechte, dementsprechend
ist ihr eine Bestimmung – Artikel 5 – gewidmet. Die Versagung von
angemessenen Vorkehrungen ist eine Verletzung des Gebots der Gleichbehandlung
– die Gewährleistung von angemessenen Vorkehrungen ist explizit
vorgesehen. Frauen mit Behinderungen sind vielfach Diskriminierung auf
Grund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung ausgesetzt, in einem eigenen
Artikel wird daher auf den Schutz von Frauen mit Behinderungen – auch vor
Mehrfachdiskriminierungen – eingegangen. Die Gefährdung von Kindern mit
Behinderungen von Geburt, vor allem – aber nicht ausschließlich – in Entwicklungsländern,
bedingt eine eigene Bestimmung (Artikel 7 CRPD).
Der Schutz der Unversehrtheit der Person nimmt gerade auch vor dem Hintergrund
historischer – und wohl auch gegenwärtiger – Unrechtshandlungen
gegenüber Menschen mit Behinderungen, gerade auch Menschen mit psychischen
Beeinträchtigungen, eine zentrale Rolle ein. Die Konvention widmet
sich in vier Artikeln explizit dem Schutz vor Gewalt und anderen Formen
von Missbrauch (Artikel 14-17).
Die barrierefreie und inklusive Gewährleistung von allen Menschenrechten,
so auch des Rechts auf Gesundheit, Arbeit, Bildung, soziale Sicherheit sowie
sämtlicher politischer und ziviler Menschenrechte, erfordert vor allem einen
Bewusstseinswandel. Aus diesem Grund verpflichtet die Konvention zu umfassenden
Maßnahmen der Bewusstseinsbildung, um das Recht von Menschen
mit Behinderungen, alle Menschenrechte selbstbestimmt zu leben, zu
vermitteln und zu fördern (Artikel 8 CRPD). Insbesondere in drei zentralen
öffentlichen Bereichen ist die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu
gewährleisten: inklusive Bildung, inklusive Arbeit und chancengleiche politische
Partizipation. Darüber hinaus sind auch im Bereich des Privatlebens –
Stichwort: Recht, eine Familie zu gründen – umfassende rechtliche ebenso
wie gesellschaftspolitische Änderungen und ein Bewusstseinswandel erforderlich.
3.3 Barrierefreie & inklusive Menschenrechte
Wiewohl sämtliche Artikel der Konvention eine direkte Verbindung untereinander
und miteinander haben, sind es vor allem die ersten neun Artikel,
denen in der Umsetzung der in Artikel 9-30 ausformulierten Menschenrechte
unmittelbare Bedeutung zukommt. Die Konvention formuliert keine „neuen“
Menschenrechte – sie baut auf dem bereits etablierten Menschenrechtskanon
auf. Bis auf Religionsfreiheit sind sämtliche Menschenrechte explizit erfasst.
Die Herausarbeitung der Barrierefreiheit und Inklusivität von Menschenrechten
bringt jedoch eine Weiterentwicklung mit sich, die an vielen Stellen der
Konvention sichtbar ist. Die einzelnen Artikel können grob in folgende Gruppen
unterteilt werden:
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Menschenrechte für alle 19
3.4 Personenschutzrechte
Diese Gruppe umfasst das Recht auf Leben, Freiheit von Folter, grausamer,
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Freiheit von Ausbeutung,
Gewalt und Missbrauch, Schutz der Unversehrtheit der Person (Artikel 10,
14-17 CRPD). Explizit gewährleistet ist der Schutz vor medizinischen und
wissenschaftlichen Experimenten. Vorgesehen ist auch die Kontrolle von
sämtlichen Einrichtungen, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt
sind (Artikel 16 (3) CRPD).
3.5 Selbstbestimmungsrechte
Ein zentrales Anliegen der Konvention ist die Anerkennung der Rechts- und
Geschäftsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen: Behinderung bzw.
Beeinträchtigung darf keine Grundlage sein, um Menschen das Recht zu
nehmen, über sämtliche Belange des Lebens – so auch Vertragsabschlüsse
oder Kontenführung – selbstständig zu verfügen. Der Entscheidungsprozess
von Menschen mit Behinderung muss demnach gegebenenfalls unterstützt
werden, darf jedoch nicht von einer dritten Person stellvertretend abgewickelt
werden.
Eine umfassende Bestimmung zu Selbstbestimmtem Leben (Artikel 19), mit
dem klaren Ziel maximale Unabhängigkeit und soziale Inklusion zu erreichen,
ist ebenfalls verankert. Daher sind diese Bestimmungen gleichzeitig
eine Absage an Einrichtungen, die ausschließlich die Betreuung von Menschen
mit Behinderungen bewerkstelligen. In dieser Bestimmung ebenfalls
zentral verankert sind Unterstützungsmaßnahmen, vor allem Persönliche
Assistenz (siehe dazu des Weiteren Artikel 9 CRPD).
Betont wird in diesem Zusammenhang auch die Gewährleistung von Unterstützungsmaßnahmen
– wo erforderlich – auf Basis der individuellen Wünsche
von Menschen mit Behinderungen. Unterstützungsnetzwerke sind gerade
auch im Kontext des Rechts auf die Ausübung von Rechts- und Geschäftsfähigkeit
sicherzustellen; diese haben selbstredend menschenrechtlichen
Prinzipien zu entsprechen (Artikel 12 CRPD). Ein wichtiger Aspekt in diesem
Kontext wird im Recht auf Zugang zur Justiz verankert (Artikel 13
CRPD).
Ein wesentlicher Teilaspekt des Prinzips und des Rechts auf Inklusion ist die
politische Partizipation. Neben der Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen
– insbesondere Kinder mit Behinderungen – sowie deren Vertretungsorganisationen
(pro)aktiv in politische Prozesse einzubeziehen (Artikel
4 Abs. 3 CRPD), wird auch das Recht auf grundsätzliche politische Partizipation
verankert (Artikel 29 CRPD). Neben der Gründung von Vereinen und
anderen Formen politischer Organisation, steht hier vor allem das Recht zu
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wählen im Mittelpunkt und die Notwendigkeit, die Teilhabe am Wahlprozess
inklusiv und barrierefrei zu gewährleisten.
3.6 Freiheitsrechte & Recht auf Familienleben
Neben dem spezifischen Recht auf persönliche Mobilität fällt hierunter auch
das grundsätzliche Freiheits- und Sicherheitsrecht sowie die Bewegungsfreiheit
und das Recht auf Nationalität (Artikel 20 & 21 CRPD). Letzteres ist in
Bezug auf Kinder doppelt formuliert: das Recht bei Geburt registriert zu
werden (Artikel 7 CRPD). Das Recht auf Privat- und Familienleben umfasst
vor allem das Recht von Eltern für ihr behindertes Kind zu sorgen bzw. das
Recht von Eltern, die eine Behinderung haben, für ihre Kinder zu sorgen. Im
Kontext des Rechts auf Privatleben bzw. Privatsphäre ist vor allem die Wichtigkeit
des Datenschutzes, v.a. für medizinische Informationen, zu betonen
(Artikel 22 & 23 CRPD).
3.7 Wirtschaftliche & soziale Rechte
Hierunter fallen eine ganze Reihe von Menschenrechten: Bildung, Gesundheitsversorgung,
Arbeit und adäquater sozialer Schutz sind die vier Grundpfeiler,
die gewährleisten sollen, dass Menschen mit Behinderungen in der
gesellschaftspolitischen Mitte inkludiert ihr Potenzial ausschöpfen können.
Die Konvention verankert das Konzept inklusiver Bildung als Menschenrecht:
In keiner Bildungsstufe dürfen Menschen mit Behinderungen von
Bildungseinrichtungen auf Grund einer Behinderung ausgeschlossen werden
(Artikel 24 CRPD). In Ergänzung zu den bereits erwähnten Unterstützungsmaßnahmen,
betont diese Bestimmung die Notwendigkeit angemessener
Vorkehrungen (Artikel 24 Abs. 2 c CRPD) sowie die Sicherstellung von notwendigen
Unterstützungsmaßnahmen für das Individuum (Artikel 24 Abs. 2
d CRPD). Die Bestimmung ist eingebettet in die menschenrechtliche Historie:
Die Verankerung des Rechts auf Bildung im Pakt für wirtschaftliche,
soziale & kulturelle Rechte (Artikel 13 CESCR) hat bereits die Forderung
nach einem Bildungssystem auf Basis menschenrechtlicher Prinzipien – und
damit anti-diskriminierend – nach sich gezogen (Komitee Nr. 13).
Inklusive Bildung zieht folgerichtig inklusive Arbeit nach sich: Die Konvention
verankert das Recht, chancengleich und mit Unterstützung einer adäquat
bezahlten Arbeit nachzugehen. Die Segregierung – wie z.B. durch Werkstätten
und ähnliche Einrichtungen – steht im Widerspruch zum Inklusionsprinzip.
Auch im Bereich Gesundheitsversorgung legt die Konvention menschenrechtliche
Prinzipien fest, um der strukturellen Diskriminierung von Menschen
mit Behinderungen – Stichwort: asexuelle Personen – entgegenzuwirken.
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Menschenrechte für alle 21
3.8 Durchführungsbestimmungen
Menschenrechtliches Neuland wird mit zwei Durchführungsbestimmungen
betreten: Es sollen Daten und Statistiken erhoben werden, die Menschen mit
Behinderungen und ihre Bedürfnisse konkret(er) erfassen (Artikel 31 CRPD).
In einer eigenen Bestimmung zur Entwicklungszusammenarbeit wird bestimmt,
dass Menschen mit Behinderungen in sämtliche Phasen derselben
inkludiert werden (Artikel 32 CRPD).
4. Einhaltung
Die Konvention setzt auf mehreren Ebenen Hebel ein, um die Durchsetzung
von Rechten und Ahndung von Verletzungen zu ermöglichen: International
wird – wie auch im Fall vorhergehender Menschenrechtskonventionen in den
Bereichen Frauen, Kinder, Folter, politische & wirtschaftliche Rechte – ein
ExpertInnen-Gremium eingerichtet, das regelmäßig Stellungnahmen der Vertragsstaaten
kritisch evaluiert. Die erste Stellungnahme muss innerhalb zwei
Jahren nach Inkrafttreten abgegeben werden. Die Zivilgesellschaft hat die
Möglichkeit, ihre Sicht der Situation in einem eigenen Bericht darzulegen
(Artikel 34 ff CRPD).
Das ExpertInnen-Gremium kann auch die Beschwerden von Individuen, die
behaupten, dass ihre Konventionsrechte verletzt wurden, behandeln. Voraussetzung
ist, erstens, dass das Fakultativprotokoll – auch Zusatzprotokoll genannt
– der Konvention ratifiziert wurde. In einem separaten internationalen
Vertrag können Mitgliedsstaaten zustimmen, dass ein internationales Beschwerdeverfahren
offen steht. Die zweite Voraussetzung ist, dass die nationalen
Beschwerdemöglichkeiten – Gerichtsverfahren, Schlichtungsverfahren
und dergleichen – erschöpfend in Anspruch genommen worden sind.
Auf nationaler Ebene sieht die Konvention gleich vier Mechanismen zur
Durchsetzung bzw. Überwachung der Konvention vor: Zum einen muss zur
Verhinderung jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch sichergestellt
werden, dass alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit
Behinderungen bestimmt sind, wirksam von unabhängigen Behörden überwacht
werden (Artikel 16 Abs. 3 CRPD).
Zweitens soll zumindest eine Stabstelle zur Durchführung des Übereinkommens
eingerichtet werden; idealerweise sollte auf Bundesebene in jedem
Ministerium eine solche Stelle eingerichtet werden. Um die Koordination
zwischen den einzelnen Stellen und anderen Implementierungsbemühungen
zu gewährleisten, soll darüber hinaus drittens ein Koordinierungsmechanismus
eingerichtet werden (Artikel 33 Abs. 1 CRPD).
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22 Marianne Schulze
Als viertes Gremium sieht die Konvention eine Innovation vor: die Verpflichtung,
die Einhaltung der vorgesehenen Rechte und Pflichten auch auf
nationaler Ebene durch eine unabhängige Stelle überprüfen zu lassen.
Konkret heißt es in der Konvention unter Artikel 33 Absatz 2: „Die Vertragsstaaten
unterhalten, stärken, bestimmen oder schaffen nach Maßgabe ihres
Rechts- und Verwaltungssystems auf einzelstaatlicher Ebene für die Förderung,
den Schutz und die Überwachung der Durchführung dieses Übereinkommens
eine Struktur, die, je nachdem, was angebracht ist, einen oder mehrere
unabhängige Mechanismen einschließt. Bei der Bestimmung oder Schaffung
eines solchen Mechanismus berücksichtigen die Vertragsstaaten die
Grundsätze betreffend die Rechtsstellung und die Arbeitsweise der einzelstaatlichen
Institutionen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte.”
Die Partizipation von Menschen mit Behinderungen wird in diesem Kontext
eigens betont: „… die Zivilgesellschaft, insbesondere Menschen mit Behinderungen
und die sie vertretenden Organisationen, wird in den Überwachungsprozess
einbezogen und nimmt in vollem Umfang daran teil …“ (Artikel
33 Abs. 3 CRPD).
Grundlage für die Einrichtung einer solchen nationalen unabhängigen Stelle
sind laut Konvention die Grundsätze betreffend die Rechtsstellung und die
Arbeitsweise der einzelstaatlichen Institutionen zum Schutz und zur Förderung
der Menschenrechte (Artikel 33 Abs. 2 CRPD). Die Richtlinien für
nationale Institutionen zur Förderung und zum Schutz von Menschenrechten
wurden nach Ende des Kalten Krieges 1992 beschlossen, um Menschenrechte
weg vom diplomatischem Geplänkel auf internationaler Ebene in der konkreten
Umsetzung auf nationaler Ebene zu fördern (Pariser Prinzipien). Sie sehen
vor, dass alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Gremien bzw.
Stellen schaffen, die politisch, finanziell und faktisch unabhängig sind. Der
Begriff „Monitoring“, der im Englischen für „überwachen“ verwendet wird,
ist durchaus weit zu verstehen. Demnach umfasst „Monitoring“ sowohl die
Involvierung in Gesetzgebungsprozesse als auch die Erstellung von regelmäßigen
Berichten zur Achtung der Menschenrechte in einem Land, die Möglichkeit,
ex-officio – also von Amts wegen – aktiv zu werden, ist genauso
vorgesehen, wie das Recht, die Beschwerden von Individuen und Gruppen zu
bearbeiten (vgl. Aichele 2010).
5 Monitoringausschuss
In Deutschland wurde bei der nationalen Menschenrechtsinstitution, dem
Deutschen Institut für Menschenrechte, eine Monitoringstelle eingerichtet,
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Menschenrechte für alle 23
der die Aufgaben im Sinne des Artikel 33 (2) CRPD – Überwachung der Einhaltung
der Konvention – übertragen wurden.2
Österreich hat keine nationale Menschenrechtsinstitution, sondern eine Vielzahl
an Einrichtungen, die teilweise die Erfordernisse der Pariser Prinzipien
erfüllen. So zum Beispiel: Volksanwaltschaft, Menschenrechtsbeirat, Gleichbehandlungskommission,
Gleichbehandlungsanwaltschaft, Datenschutzkommission,
Rechtsschutzbeauftragte, Kinder- und Jugendanwaltschaften, Justizombudsstellen
und Patientenanwaltschaften. In Ermangelung einer Institution,
an die die Überwachungsaufgaben übertragen werden könnten, hat Österreich
einen Monitoringausschuss3 eingerichtet. Dieser ist ein Beratungsgremium
für den bereits bestehenden Bundesbehindertenbeirat im Bundesministerium
für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz.
Gemäß § 13 Bundesbehindertengesetz hat der Monitoringausschuss sämtliche
Kontrollaufgaben nach Artikel 33 (2) zu erfüllen. Seine sieben Mitglieder
und Ersatzmitglieder werden von der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft
für Rehabilitation (ÖAR) vorgeschlagen, vier sind direkt von der ÖAR nominiert,
einen Vertreter oder eine Vertreterin aus der Entwicklungszusammenarbeit,
einen Vertreter oder eine Vertreterin aus der Wissenschaft und einen
Vertreter oder eine Vertreterin einer Menschenrechtsorganisation komplettieren
das Gremium. Alle Mitglieder sind per Gesetz in ihrer Funktion unabhängig
und weisungsfrei. Es ist ein Ehrenamt, für das keine Aufwandsentschädigung
vorgesehen ist. Der Ausschuss ist ausschließlich für Bundesangelegenheiten
zuständig. Die Aufteilung anhand der föderalistischen Struktur
macht die Einrichtung von korrespondierenden Gremien laut § 13 Abs. 8
Bundesbehindertengesetz in den Bundesländern erforderlich.
Die Konstituierung des Ausschusses erfolgte am 60. Jahrestag des Beschlusses
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, am 10.12.2008. In seinen
ersten Sitzungen hat sich der Monitoringausschuss vor allem mit der
Erstellung seiner Geschäftsordnung beschäftigt. Neben der Erfüllung, der in
§ 13 Bundesbehindertengesetz – mit dem der Monitoringausschuss juristisch
„geschaffen“ wurde – normierten Aufgaben, setzten sich die Mitglieder vor
allem mit den internationalen Standards für unabhängige nationale Menschenrechtsinstitutionen
auseinander.
Die Geschäftsordnung sieht unter anderem vor, dass der Ausschuss Beschwerden
zu Verletzungen der Konvention bearbeiten, Stellungnahmen zu
Gesetzen – und Gesetzesentwürfen – abgeben sowie zur grundsätzlichen Einhaltung
der Konvention durch den Bund Stellung nehmen kann. Eines von
vielen Anliegen der Geschäftsordnung ist es, eine gewisse Vorbildfunktion in
2 Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Im Internet: http://www.institutfuer-
menschenrechte.de/de/monitoring-stelle.html
3 Siehe auch: http//www.monitoringausschuss.at
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Sachen „gelebte Barrierefreiheit“ zu übernehmen und so manches Thema –
so auch Kosten für Persönliche Assistenz im Rahmen der Sitzungen – explizit
zu erwähnen. Selbstredend ist der Ausschuss menschenrechtlichen Prinzipien
verpflichtet, so auch der Partizipation und der damit verbundenen Zusammenarbeit
mit der Zivilgesellschaft, wie auch der Transparenz und Nachvollziehbarkeit
seiner Arbeit. Aus diesem Grund sieht die Geschäftsordnung
die regelmäßige Abhaltung von öffentlichen Sitzungen vor.
Wiewohl den Prinzipien für unabhängige Menschenrechtsinstitutionen verpflichtet,
kann nicht behauptet werden, dass der Monitoringausschuss diesen
vollends Genüge tut. Zum einen ist die Einrichtung in einem Ministerium mit
dem Kriterium der umfassenden Unabhängigkeit in letzter Konsequenz nicht
in Einklang zu bringen, zum anderen mangelt es dem Ausschuss an einem
eigenen, selbst verwalteten Budget. Um dem Ziel der Konvention, die volle
und effektive Teilhabe bzw. Partizipation von Menschen mit Behinderungen
in der Gesellschaft zu gewährleisten, gerecht zu werden, muss auch die Überwachung
in der (gesellschafts-)politischen Mitte vorgesehen sein. Die Positionierung
in einem Fachministerium widerspricht diesem Anspruch, die Etablierung
einer nationalen Menschenrechtsinstitution muss daher auch unter
diesem Gesichtspunkt ein Anliegen sein.
Der Ausschuss wurde unmittelbar nach seiner Konstituierung bereits mit den
ersten Einzelfällen befasst. Er versucht zum einen nach einer Lösung für die
Einzelfälle zu suchen, zum anderen nach den Ursachen für die aufgeworfenen
Probleme. Der Ausschuss hat bereits mehrfach von der Möglichkeit Gebrauch
gemacht, die involvierten Stellen zu einem Gespräch einzuladen, um
Widersprüche zur Konvention zu analysieren und konstruktive Lösungsvorschläge
zu erarbeiten.
Im Zentrum steht der in der Konvention verankerte Paradigmenwechsel: Die
Verlagerung vom Fokus auf medizinische Faktoren einer Beeinträchtigung,
hin zu den sozialen Faktoren, die eine Behinderung begleiten und dadurch
teilweise bedingen. Der Anspruch der Konvention, dass jeder Mensch selbstbestimmt
leben können muss, führt den Ausschuss ohne große Umschweife
zu den zentralen Fragen: Persönliche Assistenz, Unterstützungsnetzwerke,
Recht auf Arbeit, die gleichberechtigt entlohnt ist, und inklusive Bildung.
Rechtsquellen
CCPR – Covenant on Civil and Political Rights, Pakt für bürgerliche und politische Rechte,
BGBl. 591/1978.
CEDAW – Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women,
Konvention zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau, BGBl. 443/1982.
CERD – Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, Übereinkommen
über die Beseitigung aller Former rassistischer Diskriminierung, BGBl. 377/1972.
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