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Kulturphilosophie Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen
Kulturphilosophie
Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen




Volker Steenblock

Verlag Karl Alber
EAN: 9783495485521 (ISBN: 3-495-48552-X)
472 Seiten, hardcover, 14 x 21cm, Mai, 2018

EUR 39,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
"Der Mensch wird freistehend, kann sich in eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung."

Johann Gottfried Herder
Rezension
„Kultur macht unser Leben und unser Menschsein aus.“ (S. 13), schreibt Volker Steenblock (1958-2018) zu Beginn seines Opus Magnum „Kulturphilosophie. Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen“, erschienen im Verlag Karl Alber. Mit diesem Werk des Bochumer Professors für Philosophiedidaktik und Kulturphilosophie eröffnet der Verlag zugleich seine neue Reihe „Kulturphilosophische Studien“ (Herausgeber: Hans-Ulrich Lessing und Volker Steenblock), deren Symbol die Ellipse ist. Die geometrische Figur galt dem Kunsthistoriker Aby Warburg, der sie von dem Physiker und Mathematiker Johannes Kepler übernahm, als Ausdruck menschlicher Rationalität. Im Zusammenhang mit Kulturphilosophie symbolisiert die Ellipse, dass kulturelle Arbeit als „Arbeit am Logos“ (Buchtitel von Steenblock aus dem Jahre 2000) zu verstehen ist.
Dieser Auffassung sieht sich Steenblock in seinem neuen Buch verpflichtet. In den einzelnen Kapiteln analysiert er dabei das Werk klassischer Vertreter der Kulturphilosophie wie Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Ernst Cassirer. Zudem geht Steenblock ausführlich auf Ideen anderer Denker ein, wie zum Beispiel auf die soziologische Großtheorie von Günter Dux, das Vico-Axiom, die „exzentrische Positionalität“ von Helmuth Plessner, die „homo compensator“-These Arnold Gehlens, das Modernisierungstheorem, den Arbeitsbegriff von Karl Marx, Samuel Huntingtons „Clash of Civilisations“, Jürgen Habermas „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch Systemimperative oder die Emergenztheorien. In seiner historisch-systematischen Studie stellt der Bochumer Kulturphilosoph souverän die Positionen einschlägiger verschiedener Vertreter der Kulturphilosophie dar, beleuchtet sie hinsichtlich ihrer Erkenntnisse zu aktuellen Debatten und elaboriert ihren systematischen Beitrag zu „Grundlinien“ einer Kulturphilosophie. Kulturphilosophie wird von Steenblock begriffen als reflexive Vergegenwärtigung der kulturellen Verfasstheit des Menschen und der Welt im Medium von Kultur. Unter Kultur versteht er Medien menschlicher Selbstexplikation und Selbsterschließung. Kultur ist demnach Teil der „Sphäre der Bespiegelung“ (Herder). Eine Reflexion des Menschen über Kultur kann daher nur „im Spiegel seiner Deutungsweisen“ erfolgen, so der Untertitel des Buches. Steenblocks in gut verständlicher Sprache geschriebenes Werk bildet das fachwissenschaftlich elaborierte Pendant zu dem von ihm, Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing herausgegebenen Band „Mensch und Kultur. Klassische Texte der Kulturphilosophie“ (3. Aufl. Siebert Verlag 2015), in dem als Studientexte primär Ausschnitte aus klassischen Werken der Kulturphilosophie abgedruckt sind (vgl. meine Rezension unter https://lbib.de/Mensch-und-Kultur-Klassische-Texte-der-Kulturphilosophie-100265).
Von den Erkenntnissen der Kulturphilosophie seien im Folgenden mehrere exemplarisch herausgegriffen und in Thesenform aufgeführt. Kultur besitzt eine eigene Dignität, eine eigene Logik; sie ist mit naturwissenschaftlichen Kategorien, also szientifisch nicht einholbar. Daher kritisiert Steenblock alle Varianten einer reduktionistischen Sichtweise auf Kultur, wie sie nachweisbar sind bei den Formen des „Darwinizing Culture“, der Evolutionstheorie, des Neurodeterminismus, der Soziobiologie, der evolutionärer Erkenntnistheorie oder den „brain cause minds“-Theorien. Bei der fundierten Auseinandersetzung mit diesen naturalistischen Positionen, die letztlich dem einheitswissenschaftlichen Programm des Wiener Kreises frönen und das lebensweltliche Apriori von Wissenschaft außer Acht lassen, hätte vielleicht auch Peter Janichs Naturalismuskritik in seinem „Kulturalismus“ berücksichtigt werden können.
Besondere Erwähnung verdient das Dilthey gewidmete Kapitel, welches eine hervorragende Einführung in die Philosophie des Begründers moderner Geisteswissenschaften bietet. Steenblock zeigt anhand von Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ auf, dass sich durch den Denker, philosophiegeschichtlich gesehen, Hermeneutik als „drittes Paradigma“(S. 170) nach Transzendentalphilosophie und Metaphysik herausbildete. Dilthey versteht Hermeneutik aber nicht nur als Methode und Theorie der Geisteswissenschaften, sondern in dem er den Menschen zum „Sinndeuter dieser Welt und seines Lebens in ihr“ (S. 176) erhebt, als Kulturphilosophie. Zu Recht deckt Steenblock auf, dass Gadamers ontologische Hermeneutikvariante entgegen ihrem Selbstverständnis einen Rückschritt hinter Diltheys lebensphilosophischer Hermeneutik darstellt, da der Heidegger-Schüler nicht „Diltheys Einsicht in die Vielstimmigkeit der Tradition“ (S. 163) erkennt.
In Anlehnung an Cassirers „Versuch über den Menschen“ (1944), Steenblocks philosophisches Lieblingsbuch, betont der Wissenschaftler Kultur als „das Medium unserer Freiheit“ (S. 266) zu begreifen, als positive Freiheit. Besondere Aktualität besitzt auch Steenblocks Kritik an posthumanistischen Ansätzen eines „Homo medialis, Homo 2.0“. Eine mediale oder technische Auflösung von Subjekten führe zu einem „sinnfreien Progress“ (S. 339). Mithilfe von Wilhelm von Humboldts Bildungsphilosophie ließe sich nach Steenblock gegen den „Homo cerebralis“ argumentieren: „Wer Bildung und Kultur mit dem Computertomographen sucht, wird sie nicht finden können.“ (S. 150)
Diese hier herausgegriffenen kulturphilosophischen Erkenntnisse mögen belegen, dass Steenblocks Buch nicht nur notwendiges Fachwissen zu einer philosophisches Subdisziplin für Lehrkräfte der Fächer Philosophie und Ethik enthält, sondern auch gute Argumente liefert zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen naturalistischen Theorien bzw. ihrer Rezeption. Die exzellente Studie Steenblocks wird m. E. zum Standardwerk der Kulturphilosophie avancieren. „Kulturphilosophie“ gehört in jede Bibliothek eines Studienseminars und ist für alle Philosophie- und Ethiklehrkräfte eine sehr gute Anschaffung, die sogar als problemorientierte Einführung in die Philosophie gelesen werden kann. Gleichzeitig unterstreicht das Buch die Notwendigkeit, Kulturphilosophie in den Bildungsplänen Ethik und Philosophie adäquat zu verankern. Denn, um noch einmal Steenblock zu zitieren: „Dort, wo Kultur sich auf eine humane Zukunft, die diesen Namen verdient, hin fortsetzen soll, ist Bildung nötig, Kultur ist sozusagen ihrem Wesen nach didaktisch, d. h. sie beruht auf Lehr-/Lernprozessen.“ (S. 14)

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Kulturphilosophie: Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen / von Volker Steenblock

Ein zentrales Rätsel der Gegenwartsphilosophie ist das Verhältnis unseres Bewusstseins, der Perspektive der ersten Person mächtig und Urheber der Kultur zu sein, zu den ebenso faszinierenden wie wichtigen Erkenntnissen der Neuro- und der Evolutionswissenschaften seit Darwin, die freilich nicht selten zu einem naturalistischen Weltbild hochgerechnet werden.
Ein dabei vertretener Reduktionismus nimmt die Binnenperspektive der durch ihre Endlichkeit herausgeforderten menschlichen Existenz nicht adäquat wahr. Ihm entgeht systemisch – d.h. von der Objektlogik seiner Vorgehensweise her – die Eigenqualität einer Kulturwelt, an der wir um unserer selbst willen arbeiten müssen. Kunst, Moral und Religion werden zu funktionaler zerebraler Inszenierung bzw. zu überlebensnützlichen Illusionskulissen. Ein quantifizierendes Gegenstandsverständnis dringt in den Humanwissenschaften vor, auch wenn dies im einschlägigen Moden- und Methodenkaleidoskop noch nicht immer auffällt. Zu zeigen ist das Gegenteil: Es gibt keine naturwissenschaftliche Theorie unserer gesamten Welt. Was der Mensch ist, entscheidet sich in der »Kulturwirklichkeit« (Max Weber): in der eminenten sozioökonomischen Dynamik der Zivilisation, in der qualitativ mehrdimensionalen und zugleich bereits im Ansatz binnendifferenten Sphäre der Kultur und – mit Herder und Humboldt, Dilthey und Cassirer – in unserer eigentlichen Selbsterzeugung im Medium der Bildung. Bedingungsverhältnisse sind zu klären, aber Befreiungsvorgänge und Sinnvollzüge sind das, worum es geht.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 13

Einleitung: Deutungsweisen der Kultur 15

1. Kapitel „Darwinizing Culture“ oder: Wie passt die Kultur in das Universum? 27
1.1 Die Leiden Darwins 33
1.2. Homo biologicus – Kulturerklärungspotentiale von Paläoanthropologie und Primatenforschung, Soziobiologie und Evolutionspsychologie, Verhaltenstheorie und kognitiver Archäologie 37
1.3 Vergleichender Exkurs: Prometheus oder Mängelwesen? Der Mensch im Kulturbeginn bei Platon und in der Philosophischen Anthropologie 62
1.4 Gesellschaft und Geist als Anschlussorganisation an der Natur (Günter Dux) 82

2. Kapitel Johann Gottfried Herder – Kultur als menschliche Arbeit verstehen 96
2.1 Ein bemerkenswerter Übergangspunkt: Natur und Kultur bei Herder 100
2.2. „Besonnenheit“ und Geschichtlichkeit: zwei grundsätzliche Kategorien zur Bestimmung von Kultur 107
2.3 Herders Projekt der Humanität in der Moderne 117

3. Kapitel Humboldts Traum 125
3.1 Wilhelm von Humboldt oder: Die Idee des Menschen 126
3.2 Was ist es, „was den Menschen eigentlich zum Menschen macht“? – Die Idee des Kultursubjekts im Bezugsrahmen der Bildung 133
3.3 Unsere Selbstgewinnung als kulturelles Projekt – nicht aber Homo cerebralis – ist Ausgangspunkt der Kulturphilosophie (mit einem Exkurs über Endlichkeit und Individualität) 143

4. Kapitel Wilhelm Dilthey und die Wissenschaften von der Kultur 158
4.1. Einleitung: Ein Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert 160
4.2 Homo hermeneuticus und die Grundlegung der Geisteswissenschaften 165
4.3 Ersatz des Unbedingten – Kulturalisierung des absoluten Geistes 174
4.4 Produktive Historizität: Weltanschauliche Orientierung in der kulturellen Arbeit 180
4.5 Diltheys vielgestaltiges Erbe: Wege und Querwege der Verwissenschaftlichung in den Kulturwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts 190

5. Kapitel Ernst Cassirers Kulturphilosophie 205
5.1 Vorspiel: Vico und das „Fingunt simul creduntque“ 209
5.2 Aby Warburg und der angstbewältigende Akt der Symbolisierung 217
5.3 Homo symbolicus – Cassirers Transformation der Transzendental- zur Kulturphilosophie 225
5.4. „Tragödie der Kultur“ (Georg Simmel)? – Die symbolischen Formen im geschichtlichen Progress 245
5.5 Eine humanistische Perspektive in der Kulturreflexion 259

6. Kapitel Das „Projekt der Moderne“ (Habermas) im Zeitalter der Globalisierung 271
6.1 Ein europäischer Ausgangspunkt: „Great Transformation“ 276
6.2 Homo oeconomicus, Homo sociologicus und die Kultur – von Max Weber zum Fortschrittsszenario der Modernisierungstheorie 283
6.3 Panorama der Einwände: Clash of Civilizations, Cultural Anthropology und Postcolonial Studies bestehen auf dem Differenzmodus aller Kultur; Marx / Walersteins Kapitalismuskritik und unsere zivilisatorische Grenzerfahrung im “Anthropozän” 298
6.4 System und Lebenswelt: Komplexitätsbedingungen avancierter Gegenwartskultur 326
6.5 Homo medialis, Homo 2.0 – Der Mensch der Zukunft als Komminikationsformat seiner selbst 335

7. Kapitel Resümee: Theorieformen und ihre Beiträge zur Kulturreflexion 342
7.1 Homo moralis, aestheticus, metaphysicus: Kulturelle Bildung als Erfahrung der Dimensionen des Humanen 345
7.2 Konkurrierende Theorienreichweiten und –ansprüche zwischen Ontologie und Epistemologie 351
7.3 Natur, Gesellschaft und Sinn – Drei Paradigmata der Kulturforschung 364
7.4 Kontinuität, Negation, Interaktion? – Probleme der Emergenz 384
7.5 Der Prozess der Kultur – zusammenfassende Bemerkungen unter Rekurs auf die Kategorie der Geschichte 392

Nachwort: Kulturdeutung und Kulturbegriff 411

Literatur 415

Personenregister 443

Sachregister 455