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Gespräche mit Menschen, die für „geistig behindert“ gehalten werden Das Ungesagte erforschen
Gespräche mit Menschen, die für „geistig behindert“ gehalten werden
Das Ungesagte erforschen




Nancy Sorge

Verlag Modernes Lernen
EAN: 9783808006665 (ISBN: 3-8080-0666-8)
128 Seiten, paperback, 16 x 23cm, 2010

EUR 16,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Über die Autorin:

Dr. Nancy Sorge ist seit mehreren Jahren in einem Wohnheim für Menschen tätig, die von ihrer Umwelt für „geistig behindert" gehalten werden. Daneben arbeitet sie als Referentin und Deeskalationstrainerin für das Christliche Jugenddorf in Erfurt.

Neben ihrem erziehungs- und rechtswissenschaftlichem Studium verfügt die Autorin außerdem über eine Ausbildung in systemischer Beratung und Gesprächsmoderation, zum systemischen Coach sowie zur Selbstbehauptungs- und Deeskalationstrainerin.

Eine grundlegende Frage dieses Buches lautet: Was wissen wir über die Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden? Nicht viel, könnte man mit einem Blick auf die sonderpädagogische Literaturlandschaft meinen. Leider werden Menschen noch allzu oft zu Objekten von Theoriebildungen über sie und nicht als mitgestaltende Subjekte begriffen. Die Autorin setzt jedoch das Denken von Menschen, die für geistig behindert gehalten werden, über sich selbst und ihre Welt als Ausgangspunkt. Anhand zahlreicher systemisch-konstruktivistisch orientierter Gespräche werden Bereiche des bisher Ungesagten erforscht, um auf diese Weise andere Menschen die Konstruktionen von Wirklichkeiten der Gesprächsteilnehmer nachspüren zu lassen. Dieses Buch richtet sich an alle, die die Neugier besitzen, pädagogisches Neuland zu betreten.
Rezension
Es wird viel ÜBER Menschen geschrieben, die für "geistig behindert" gehalten werden, - und damit werden sie zu "Objekten" gemacht - , aber sie selbst kommen - als Subjekte - kaum zu Wort. Das will diese Darstellung ändern. Was denken Menschen, die für „geistig behindert“ gehalten werden, über sich selbst und wie konstruieren sie ihre Wirklichkeit? Die Autorin möchte Menschen, die für „geistig behindert“ gehalten werden, als mitgestaltende Subjekte in der Theoriebildung über sich selbst begreifen. In der Postmoderne hat sich eine rigide und statische Sichtweise grundsätzlich aufgelöst und das gilt auch für die Sonderpädagogik: Man weiss heute nicht mehr so genau, wann und wer behindert ist, und entsprechend grenzt man auch nicht mehr so leichtfertig aus wie fürher durch Spezialisierung in Sonderschulen und Sondereinrichtungen. Inklusive Pädagogik ist dafür ein Stichwort: „Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist“ (Peter Bichsel).

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Winfried Palmowski 7

1. Ein Blick hinter die Kulissen 9

2. Sichtweisen und Gedanken zu zentralen Lebensthemen 25

2.1 Sichtweisen und Gedanken zu „Liebe und Partnerschaft“ 27
2.2 Sichtweisen und Gedanken zur „Selbstwahrnehmung“ 34
2.3 Sichtweisen und Gedanken zum „Lebensglück, zum Tod und zu Gott“ 39
2.4 Sichtweisen und Gedanken zu „Erinnerungen“ 49
2.5 Sichtweisen und Gedanken zur „Antizipation“ 54
2.6 Sichtweisen und Gedanken zum „Behinderungsbegriff“ 57

3. Anders sehen mit der konstruktivistischen Brille 81

3.1 Stichwort „Wirklichkeit“ 82
3.2 Stichwort „Wahrnehmung“ 87
3.3 Stichwort „Geistige Behinderung als eine Kategorie des Beobachters“ 93

4. Einige Anmerkungen zum Gesprächsleitfaden 99

5. Am Ende steht der Anfang 109

5.1 Vom Ende des Buches 110
5.2 Vom Anfang einer anderen Sichtweise 113

Literatur 115


Vorwort
Unsere postmoderne Welt pluralisiert sich immer mehr. Auch die Vorstellungen über Zeitgenossen,
die anders sind als die Mehrheit der Bevölkerung, befinden sich im Fluss der Veränderung.
Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts existierten ziemlich klare und eindeutige
Ansichten über das (defizitäre) Wesen von Behinderung und den richtigen Umgang damit: Ausgrenzung
durch Spezialisierung in Sonderschulen und Sondereinrichtungen. Theoretischer Hintergrund
hierfür war – die auch heute noch vorfindbare – sogenannte „proto-normalistische“
Sichtweise, die sich am einfachsten vielleicht dadurch beschreiben lässt, dass ihre Vertreter sich
zwei Korridore vorstellen, von denen der eine den Normalen (wer auch immer das sein mag)
vorbehalten ist, der andere den anderen, in diesem Falle den „Behinderten“. Diese beiden Korridore
stehen in keinerlei Berührung zueinander, es gibt nur das „Entweder-Oder“, entweder man
ist normal, oder man ist es nicht. Denkfiguren wie „Sowohl – als Auch“ oder „Hin und Wieder“,
oder gar ein „Weder – Noch“ sind hier nicht vorgesehen. Diese prinzipielle Andersartigkeit hat
notwendigerweise die „andere Behandlung“ am „anderen Ort“ zur Folgekonsequenz.
Diese rigide und statische Sichtweise hat sich vielfach aufgelöst, bzw. ist abgelöst worden durch
eine sogenannte „flexibel-normalistische“ Sichtweise, die zwischen den beiden Korridoren eine
höchst subjektive, flexible und durchlässige Grenze annimmt, die plurale Sichtweisen ermöglicht.
Etwa die, sich beides, Normalität und Behinderung zuzuschreiben: „Ich bin behindert, ich
kann nicht vieles,… und… ich bin auch normal!“, sagt etwa Bianca (Palmowski, 2010, 215).
Oder die Idee, das Phänomen „Behinderung“ nicht länger als die Eigenschaft einer Person zu
verstehen, sondern als ein Widerfahrnis, das durch die Bedingungen einer bestimmten Situation
hervorgerufen wird, in der man sich aufregt: „Normal bin ich nicht behindert, nur manchmal
bekomme ich einen Anfall, wenn ich mich aufrege. Normal geht es mir gut. Sonst aber kann ich
alles, was die anderen auch können“ (Wendeler, Godde, 1989, 311).
Diese Aussage einer als geistig behindert beschriebenen Frau zeigt, dass sie mit einem viel postmoderneren und flexibleren Verständnis von Behinderung arbeitet, als es viele Professionelle tun.
Behinderung ist hier nicht mehr die statische und immerwährende Eigenschaft einer Person,
sondern sie wird hier zum Merkmal einer Situation, (in der sie sich aufregt und daraufhin einen
Anfall bekommt). Der Rollstuhlfahrer, der in seinem Büro Versicherungspolicen verkauft oder
im Schachclub seine Partien spielt, ist in diesen Situationen nicht behindert, als behindert erlebt
er sich, wenn er an der Straßenbahnhaltestelle auf eine Niederflurbahn warten muss, und es
kommt keine. Als behindert erlebe ich mich, wenn ich mit Menschen in Kontakt treten möchte,
Vorwort 7
die sich in der Gebärdensprache verständigen, denn dann bin ich derjenige, der sich in seinen
kommunikativen Möglichkeiten als sehr begrenzt erlebt.
Wie sehr sich die Dinge im Fluss befinden, wird auch in der sonderpädagogischen Praxis deutlich,
insbesondere, wenn man zwei Zeitpunkte miteinander vergleicht, die weiter auseinander
liegen. So hatten wir vor einigen Jahren in einem Seminar einen Gast, der Leiter eines Wohnheimes
für Menschen war, die für geistig behindert gehalten wurden. Er bestätigte, dass die mit der
Wende hervorgerufenen Veränderungen in organisatorischen Angelegenheiten und im Umgang
mit diesen Bewohnern auch bei diesen selbst zu Veränderungen geführt hätten, die er selbst und
seine Mitarbeiter niemals für möglich gehalten hätten. Er formulierte in diesem Zusammenhang
seine Neugier auf die Überraschungen, die diesbezüglich noch auf ihn zukommen würden.
Sicher scheint mir, dass wir auf diesem Weg noch längst nicht den Endpunkt erreicht haben.
Möglicherweise liegen Begrenzungen nicht nur in den faktischen Gegebenheiten, sondern auch
in unseren Erwartungshaltungen, Überzeugungen, Bewertungen und daraus resultierenden sich
selbst erfüllenden Prophezeihungen. Vor einiger Zeit fand ich in einer pädagogischen Zeitschrift
einen Hinweis auf eine Studie, die sich mit dem (immer noch nachweisbaren) schlechteren Abschneiden
von Mädchen im Fach Mathematik beschäftigte. Die Erklärung der Fachleute hierfür
lautete: Mädchen schneiden bei Rechenaufgaben schlechter ab als Jungen, weil alle Beteiligten,
Lehrer und Lehrerinnen, Mütter und Väter, Schülerinnen und Schüler der Überzeugung sind,
dass Mädchen nicht so gut rechnen können wie Jungen. Nicht die Fakten schaffen die entsprechende
Überzeugung, sondern diese die Fakten. Fakten würden sich demnach in dem Maße
ändern, in dem es uns gelänge, unsere Voreingenommenheiten und auch als gesichertes Wissen
Betrachtetes an die Seite zu schieben und neu hinzusehen. „Ausprobieren, wie es wäre, wenn
es nicht so wäre, wie es ist“, schlägt Peter Bichsel vor. Es wäre spannend, dieser Sichtweise in
sonderpädagogischen Arbeitsfeldern mehr Beachtung zu schenken und darauf zu achten, wie
möglicherweise faktisch Gegebenes (oder das, was dafür gehalten wurde) sich verändert und
verflüssigt. „Man muss hoffen, denn wird nichts finden, wenn man nicht hofft“, sagte schon Heraklit,
und in einem französischen Sprichwort heißt es: „Sie hatten Erfolg, weil sie nicht wussten,
dass es unmöglich war.“
Winfried Palmowski
8 Vorwort