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Amok und Schulmassaker Kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen
Amok und Schulmassaker
Kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen




Ralf Junkerjürgen, Isabella von Treskow (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783837627886 (ISBN: 3-8376-2788-8)
254 Seiten, paperback, 15 x 23cm, April, 2015

EUR 27,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In Computerspiel, Film, Literatur, Presse und digitalen Medien spielen Repräsentationen der Phänomene Amok und Schulmassaker eine zentrale Rolle. Sie verleihen den quantitativ eher seltenen Gewaltexzessen eine enorme Sichtbarkeit und prägen ihr kollektives Bild.

Dieser Band nähert sich den komplexen Phänomenen plötzlicher und massiver Individualgewalt interdisziplinär an und zeigt auf, inwiefern es sich dabei um ein stark verunsicherndes Moment handelt, das eine auf Rationalismus und Ökonomie basierende Gesellschaft zutiefst verstört.

Die Beiträge des Bandes widmen sich den medialen Repräsentationen von Amok und Schulmassakern und ihren Wirkungen. Hinzu treten kriminologische, psychiatrische bzw. psychologische Beiträge zu den Ursachen und Präventionsmöglichkeiten von Amok-Gewalttaten.

Ralf Junkerjürgen (Prof. Dr.) lehrt romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Isabella von Treskow (Prof. Dr.) lehrt romanische Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg.
Rezension
Literatur zu Amok-Läufen und Schulshootings ist durch einschlägoige Ereignisse in Deutschland in den vergangenen Jahren stark angestiegen, nicht erst nach dem Schul-Amok-Lauf von Winnenden in Baden-Württemberg am 11. März 2009, bei dem 16 Menschenleben ausgelöscht wurden. School shootings, Schulmassaker, Amokläufe in der Schule greifen nun auch in Europa und Deutschland vermehrt um sich, nachdem sie über lange Jahre als typisch amerikanisches Phänomen erschienen. Amok-Prävention und Amok-Schutzfaktoren stehen dabei natürlich im Zentrum der Veröffentlichungen. Das hier anzuzeigende Buch thematisiert nicht Präventionsarbeit, psychologische Täter-Muster, Kriminologie, forensische Psychiatrie oder verhaltenstheoretische Kriminalistik, sondern beleuchtet die Thematik gemäß dem Untertitel in "kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen" (vgl. Inhaltsverzeichnis). Dabei betonen die Herausgeber in der Einleitung: "So wie wir nur zögernd den kommunikativen Charakter von Gewalt verstehen, so widerstrebt es uns, anzuerkennen, dass extreme Gewalt ein kommunikationstechnisch besonders produktiver Akt ist ... Die Gründe dafür, dass verheerende Zerstörungstaten kommunikativ produktiv sind, liegen wie gesagt darin, dass sie Kommunikation beenden wollen."

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Amok, Schulmassaker, Gewalt, Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kultur, Medien, Cultural Studies, Medienästhetik, Allgemeine Literaturwissenschaft
Adressaten:
Medien-, Kultur-, Literaturwissenschaft, Soziologie sowie die interessierte Öffentlichkeit
Inhaltsverzeichnis
Einleitung | 9

MEDIZINISCHE, KRIMINOLOGISCHE UND SICHERHEITSPOLITISCHE PERSPEKTIVEN

Amok. Geschichte und Ergebnisse aus psychiatrischer Perspektive
Lothar Adler | 17

Anmerkungen zum Schulmassaker aus kriminologischer Sicht
Henning Ernst Müller | 51

Amokalarm an der Schule – die große Herausforderung für die Polizei
Wilhelm Schmidbauer, Andreas Neumair | 69

Führen und Leiten als Auftrag. Polizeiliches Einsatzhandeln zur Vermeidung und Abwehr von Aggression und Gewalt
Bernd Körber | 83

LITERATUR- UND MEDIENWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN

Der Fall „Breivik“ in den Massenmedien.
Gesellschaftliche Verarbeitungspraktiken von Phänomenen entgrenzter Gewalt
Daniel Ziegler | 101

Der „Amok-Opa“. Populärkulturelle Deutungsmuster in der Darstellung von Gewalttaten
Brigitte Frizzoni | 121

Form und Ethik in spielfilmischen Inszenierungen von School Shootings. Reflexionen zu Elephant (2003), Polytechnique (2009) und We Need to Talk About Kevin (2011)
Ralf Junkerjürgen | 141

Amok spielen. Super Columbine Massacre RPG!
Sven Schmalfuß | 167

We Need to Talk About School Shootings.
Funktionen von School Shooting-Literatur am Beispiel von L. Shrivers We Need to Talk About Kevin
Silke Braselmann | 189

First-Person-Shooter. Täterprofilierung in Amok-Darstellungen von E. Carrère, M. Rhue, N. Niemann
und C. Meyer (2000-2010)
Isabella von Treskow | 211

Autorinnen und Autoren | 253



Leseprobe:

Einleitung
RALF JUNKERJÜRGEN, ISABELLA VON TRESKOW

Es widerstrebt uns, massive Gewaltanwendung als Form von Kommunikation
anzusehen, da Kommunikation im Allgemeinen als konstruktiv und
konsensorientiert aufgefasst wird. Gewalt hingegen, im Besonderen exzessive
Gewalt, wirkt jedoch destruktiv und setzt einen gravierenden Dissens
voraus. Dennoch ist auch massive Gewalt ein – wenngleich schockierender
und entsetzlicher – Akt der Kommunikation, der weitere Kommunikationen
auslöst, die sich in Teilsysteme ausdifferenzieren und politischer, journalistischer,
juristischer, medizinischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer
Natur sein können. Die konkrete zerstörerische Gewalt dient folglich paradoxerweise
dazu, eine Verbindung zwischen Menschen herzustellen, die sie
gleichzeitig zerstört, und sie ist zusätzlich ein Akt, der in einer zweiten
Welle zu unzähligen Reaktionen führt.
So wie wir nur zögernd den kommunikativen Charakter von Gewalt
verstehen, so widerstrebt es uns, anzuerkennen, dass extreme Gewalt ein
kommunikationstechnisch besonders produktiver Akt ist. Innere Widerstände
gegen solche Annahmen sind emotional zwar verständlich, erweisen
sich aber als Hindernisse im Prozess der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
mit plötzlicher bzw. scheinbar plötzlicher Gewalt, wie
Amok und Schulmassaker bzw. School Shootings sie darstellen. Die Geschichte
des Amoklaufs erscheint daher, wie Heiko Christians es formuliert
hat, als „Geschichte einer Ausbreitung“, und zwar in Form einer medialen
Expansion, die zu einer beachtlichen Präsenz der Rede über das Phänomen
geführt hat, dies bei gleichzeitig – glücklicherweise – empirisch eher niedriger
Frequenz der Taten selbst.
10 | RALF JUNKERJÜRGEN, ISABELLA VON TRESKOW
Die Gründe dafür, dass verheerende Zerstörungstaten kommunikativ
produktiv sind, liegen wie gesagt darin, dass sie Kommunikation beenden
wollen. Gerade diese Absicht scheint besonders irritierend und das heißt
stimulierend auf die Kommunikation der Gesellschaft zu wirken, darunter
auch in der Form der Kommunikation über Kommunikation. Über Gewalt
zu kommunizieren bedeutet also immer eine Kommunikation zweiten Grades,
sowohl wenn es darum geht, die Ursachen und Motive der Amok- oder
Schulmassakergewalt zu erfassen, als auch in der ebenfalls ätiologisch gestellten
Frage nach den Problemen kommunikativer Art in der Gesellschaft.
Nicht selten taucht nämlich die These auf, das Umfeld (Familie, Freunde,
Nachbarn) oder die Gesellschaft (in Gestalt etwa von Lehrerinnen und Lehrern)
habe versäumt, mit den späteren Täterinnen oder Tätern in positivem
Kontakt zu sein. Derlei Fragen nach der Verantwortung und auch kritische
Selbstreflexionen verlangen ihrerseits nach Aufklärung; zu fragen ist außerdem,
in welchen Formen, mit welchen Mitteln, von welcher Seite und
mit welcher Wirkung sie verbreitet werden. In Massenmedien, d. h. Printmedien
wie Zeitung und Zeitschrift und technischen Massenmedien wie Internet
oder Fernsehen, in Film, Literatur und Computerspiel wird jedenfalls
die als Amok und spezieller als Schulmassaker oder auch School Shooting
eingestufte Gewalt seit Jahren verstärkt thematisiert, bewertet und diskutiert.
Die hier versammelten Beiträge gehen mehrheitlich noch einen Schritt
weiter, wenn sie journalistische, literarische oder filmische Diskurse analysieren
und kommunikative Entwürfe zur Gewalt reflektieren, d. h. auf einer
dritten Stufe kommunizieren, denn sie beobachten nicht Gewalt selbst, sondern
wie über Gewalt kommuniziert wird.
Auch wenn Kommunikation per se immer wieder neue Kommunikation
generiert, so hat die Kommunikation über Gewalt eine besondere ethische
Qualität, weil sie sich gegen das Vergessen wendet, einen Moment der einfühlenden
Mittrauer darstellt oder ganz konkret Präventionsmaßnahmen
einleiten will. Kommunikation über Gewalt ist daher aus ethischer Sicht
außerordentlich wichtig. Denn in der Kommunikation über Gewalt und Aggressivität
besinnt sich die Gesellschaft auf sich selbst, indem sie einen ihrer
moralischen Grundwerte – die Ablehnung von zerstörerischer Gewalt –
praktiziert und bestätigt.
Zugleich ist aber das irritierende Potential der Kommunikation über
Gewalt auch deswegen sehr hoch, weil sie sich oft ausschließlich um den
Täter (seltener sind es Täterinnen) dreht. Die prominente Rolle, die er ein
EINLEITUNG
| 11
nimmt, ganz gleich, ob er sich nach der Tat stellt oder das Leben nimmt,
löst gewiss Widerwillen aus, ist kommunikationslogisch aber unvermeidlich.
Wenn ein Täter sich das Ziel setzt, mediale Präsenz zu erlangen, dann
ist massive Gewalt dazu ein sicheres Mittel. Der Rezeptionsaspekt wird
zum Teil der Tat. Man darf dies nicht als Belohnung der Tat missverstehen,
vielmehr ist die zirkuläre Bewegung unvermeidbar in einem System, das
primär auf Kontrolle und Sicherheit basiert und von jeder Störung hochgradig
provoziert wird.
Der Täter ist allerdings zumeist, unabhängig von Fragen in Bezug auf
seine Tat (v. a. auf die technische Durchführung) nur wenig als Subjekt interessant,
sondern in erster Linie als Leerstelle kausaler Zusammenhänge.
Die Öffentlichkeit benötigt ein Motiv, damit sie die Tat kategorisieren
kann, denn Tatmotive deuten auf Schwächen in ihrem Werte- und Sicherheitssystem
hin, die es zu beheben gilt. Indem die Gesellschaft über die Tat
reflektiert, infiziert sie sich jedoch zugleich auch mit ihr. Die Suche nach
Gründen bedeutet zwar kein Schuldeingeständnis, aber sie ist doch zumindest
von der Annahme begleitet, dass das soziale Gefüge in irgendeinem
Segment versagt hat. Die prominente Rolle kommt dem Täter also nur deshalb
zu, weil die Gesellschaft sich für einen Moment in ihm spiegelt. Er ist
ein Warnsignal, ein Symptom, ein Indiz von Fehlern im System – und die
Tat ist das sichtbare Zeichen dieses Fehlers.
Dass es hier Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen gibt –
Deutschland, USA, Kanada, Schweiz, Frankreich – wird in den jeweiligen
Debatten deutlich. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass
„Schulmassaker“ und School Shooting nicht deckungsgleiche Termini sind.
„Schulmassaker“ macht im Vergleich zu School Shooting deutlicher, dass
die Bildungsinstitution und die darin befindlichen Menschen von einer Person
aufgesucht werden, die sie selbst besucht hat und dort mit extrem aggressiven
Mitteln vorgeht, die auch andere sein können als Schusswaffen.
Im US-amerikanischen Kontext wird vielfach der Begriff des School Shootings
benutzt. Er bezieht sich einerseits stark auf das Mittel der Schusswaffen,
erfasst andererseits nicht zwingend die im Deutschen gemeinte Amok-
Gewalt im Sinne der massiven, tödlichen Gewalt einer einzelnen Person
gegen viele, einer Gewalt, die in diesem Zug auch den eigenen Tod mitbezweckt.
Der Selbstmord ist dabei kommunikationslogisch konsequent und erhöht
die kommunikative Irritation noch, da der Täter nicht mehr befragt
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werden kann. Paradoxerweise bestätigt gerade der Selbstmord die rationale
Planung der Tat, denn sie zieht als Abschluss eine Konsequenz, in der die
vorangehende Gewalt auf sich selbst gewendet wird und damit bestätigt,
dass die Taten in ihrer Tragweite einschätzbar waren. Nimmt sich der
Amokläufer hingegen nicht das Leben, dann kommt es zu einer Diskrepanz
zwischen Tat und Person.
Im ersten Teil des Buches stellen zwei Aufsätze die medizinischen und
kriminologischen Grundlagen dar, die notwendig sind, um die Kommunikation
über massive Gewalttaten, die im zweiten Teil im Vordergrund
steht, einschätzbar zu machen. Der einleitende Aufsatz von Lothar Adler
entwirft ein umfassendes Panorama des medizinischen und soziologischen
Felds „Amok“, das auf der soliden Grundlage von dreißig Jahren Forschungsarbeit
ruht. Der Bogen spannt sich dabei von frühen historischen
Zeugnissen über spätere Kasuistiken, mit denen die wissenschaftliche Auseinandersetzung
beginnt, bis hin zur empirischen Datenerhebung der Gegenwart.
Adler zeigt die gravierenden Probleme auf, die sich für die Forschung
aus der Seltenheit der Fälle ergibt, weil sie die Interpretation der
Daten erschwert, deren Erhebung an sich schon eine große Herausforderung
darstellt. Ein eindeutiges profiling der Täter ist auf Basis der bisherigen
Forschung zwar nicht zu erstellen, der Beitrag resümiert den Forschungsstand
jedoch mit der Hypothese, dass es sich beim Amok um ein
komplexes Zusammenwirken psychischer Erkrankung mit soziologischen
und biologischen Faktoren handeln dürfte.
Auch aus kriminologischer Sicht gilt es, die unterschiedlichen Formen
der Gewalt in einem ersten Schritt zu klassifizieren, da Amok und Schulmassaker
bzw. Gewalt an Bildungsstätten trotz Ähnlichkeiten nicht gleichzusetzen
sind. Henning Ernst Müller liefert dementsprechend zunächst
eine phänomenologische Beschreibung des Typus „Schulmassaker“ und der
Täterpersonen, um sich dann der Ursachenforschung zu widmen, die abschließend
in einen plausiblen Zusammenhang gebracht werden: Individuelle
Konstellationen, Ausleben von Phantasien, der Anreiz, durch die Tat
bekannt zu werden, und ein letztes Auslöseereignis sind mögliche Faktoren
und Stationen auf dem Weg zur Gewalt. Da die Täter oft introvertiert veranlagt
sind, fällt Prävention auf ihrer Seite schwer. Im Umgang der Medien
mit diesen Taten wären jedoch Einschränkungen denkbar, ohne gegen die
Pressefreiheit zu verstoßen. Ebenso könnten an den Schulen präventive
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Maßnahmen getroffen werden, zu denen auch die sensible Reaktion auf
Leaking-Signale gehört.
Damit ist bereits die Rolle der politischen und behördlichen Verantwortungsträger
angesprochen, die trotz der relativen Seltenheit der massiven
Gewalttaten präventive Maßnahmen ergreifen und Einsatzpläne vorbereiten
müssen. Wilhelm Schmidbauer, Landespolizeipräsident in Bayern,
und Andreas Neumair legen dar, welche Maßnahmen (nicht nur) in Bayern
nach den Taten von Winnenden und Ansbach ergriffen wurden, um Polizeieinsätze
zu optimieren, im Hinblick auf jugendliche Täter präventiv zu
agieren, den Zugang zu Waffen zu erschweren, Richtlinien für den Umgang
mit Medien festzulegen und im schulischen Raum Sicherheitskonzepte zu
entwickeln. Die Autoren machen deutlich, dass nur eine gesamtpolitische
Perspektive im Verbund mit einem ganzheitlichen Ansatz Erfolg versprechend
ist, auch wenn es bei dieser Form massiver Gewalt keine vollkommene
Sicherheit geben kann. Bernd Körber bezieht die Reflexion auf die
Einsatzmöglichkeiten der Polizei und konzentriert seine Ausführungen auf
die Wahrnehmungsschulung. Mit der Entwicklung von Strategien des aktiven
Sehens können Polizeibeamte lernen, Gefahren früh zu erkennen und
deeskalierend zu wirken.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der zweite Teil des Bandes der
Kommunikation über massive Gewalttaten in verschiedenen Medien, deren
Bogen sich über die Presse, Blogs, Spielfilme und Computerspiele bis hin
zur Literatur spannt. Anhand der Berichterstattung über den Massenmord
von Utøya im Juli 2011 durch Anders Breivik arbeitet Daniel Ziegler mediale
Diskurse über den Gewaltexzess heraus und zeigt, wie versucht wird,
wieder Normalität herzustellen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die
Typisierung des Täters zum Rechtsterroristen oder Psychopathen, womit
die Medien zugleich tunlichst vermieden, Gewalt nicht aus sich selbst heraus
zu erklären, obwohl gerade darin das eigentlich Verstörende solcher
Gewaltakte zu sehen sei. Die journalistische Darstellung dieser Tat verdrängt
damit einen zentralen Aspekt in der guten Absicht, eine gesellschaftliche
Ordnung wiederherzustellen, die auf dem Wunsch nach totaler Sicherheit
basiert.
In eine völlig andere Richtung lief die Berichterstattung von Boulevardpresse
und Blogs über den Fall des Schweizer „Amok-Opas“ Peter
Kneubühl im Sommer 2010, die eine positive Umdeutung des Täters vornahm
und damit auf einer popkulturellen Ebene ein breites Echo fand.
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Brigitte Frizzoni zeigt auf, wie die dramaturgischen Versatzstücke einer
steigenden Demütigung Kneubühls im Vorfeld der Tat sowie der relativ geringe
Schaden, den er anrichtete, und v. a. seine wiederholte Flucht trotz
hohem Polizeiaufgebot dazu führten, dass er im Elementardiskurs von
Blogs und Kommentaren als Gegenfigur zu unfähigen Behörden heroisiert
wurde. Dies führt Frizzoni abschließend zu der Frage, ob ein Amoktäter zu
einer populären Figur werden kann. Ein struktureller Vergleich zeigt, dass
zwar tatsächlich punktuelle Übereinstimmungen möglich sind, die im Falle
Kneubühls auch durchschlugen, sich die Täter generell aber letztlich nicht
dazu eignen.
Nach dem School Shooting von Littleton erregten auch Spielfilme die
öffentliche Aufmerksamkeit und ernteten teilweise hohes Lob von Seiten
der Kritik, wobei Gus Van Sants Elephant (2003) die Goldene Palme in
Cannes erhielt und in vieler Hinsicht als stilbildend angesehen werden
kann. An diesem und weiteren Beispielen untersucht Ralf Junkerjürgen,
wie die Regisseure versuchen, eine ethische Formensprache zu entwickeln,
die der äußerst heiklen spielfilmischen Inszenierung von massiver Gewalt
angemessen ist. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen, wie die Filme die
Taten kontextualisieren und den Tod selbst darstellen.
Sven Schmalfuß’ Beitrag zum Computerspiel schließt an das audiovisuelle
Medium Film an, fragt aber ebenso wenig danach, welchen Einfluss
Ego-Shooter-Spiele auf tatsächliche Gewalttaten haben, sondern wirft
einen Blick auf die moralischen und ethischen Implikationen einer ludischen
Umsetzung des School Shootings von Littleton in dem Rollenspiel
Super Columbine Massacre RPG!. Schmalfuß demonstriert, wie das Spiel
über eine prozedurale Rhetorik Konventionen unterläuft und kritische
Denkanstöße ermöglicht. So wird deutlich, dass auch ein Computerspiel
unmittelbar in den gesellschaftlichen Diskurs nach der Tat eintreten und
sich als Spiel selbst infrage stellen kann. Dazu hat der Spielemacher Ledonne
Bilder vom realen Tatort punktuell eingebaut und eine hybride Ästhetik
geschaffen, die auch auf der semantischen Ebene mehrdeutig wird.
Dies gilt auch für die Grundstruktur des Spiels selbst, dessen zweite Hälfte
mit dem historischen Rahmen bricht und die Täter in die Hölle versetzt, wo
der Spielablauf wieder konventionellen Regeln folgt.
Mit dem Beitrag von Silke Braselmann wendet sich der Band der Rolle
zu, die literarische Darstellungen im Diskurs über massive Gewalttaten
spielen können. Auch dabei wird der Blick über die notorische Diskussion
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um den Vorbildcharakter von Fiktionen für Nachahmungstäter hinaus auf
andere Fragestellungen erweitert. Die Autorin beobachtet, dass sich das
kulturelle Skript dieser Form der Gewalt seit der Jahrtausendwende von fiktionalen
Entwürfen zu realen Tatabläufen hin verschoben hat und es somit
zu neuen Formen von Re-Inszenierungen kommt, die sich sowohl an fiktionalen
als auch an faktualen Modellen orientieren. Dabei schöpft die Perspektive
auf den Täter das Wirkpotential literarischer Texte nicht aus, was
Braselmann am Beispiel von Lionel Shrivers Roman We Need to Talk
About Kevin (2003) nachweist. Der Text, der explizit als Erinnerungstext
aus der subjektiven Sicht der Mutter eines jugendlichen Täters angelegt ist,
zeigt die bisher vernachlässigte Bedeutung des Erinnerungsnarrativs für
diese Thematik auf, das sich aufgrund der Regelmäßigkeit der Taten langsam
herausgebildet hat. Aber nicht nur das, der Roman kratzt v. a. auch an
dem gesellschaftlichen Tabu, eine Mutter könne ihren Sohn nicht lieben
und mitschuldig an der Tat werden – wo in der öffentlichen Wahrnehmung
bisher v. a. Waffen besitzende Väter im Fokus standen.
An einem erweiterten Korpus aus vier literarischen Texten von Emmanuel
Carrère, Morton Rhue, Norbert Niemann und Clemens Meyer zeigt
Isabella von Treskow abschließend, dass es darin in erster Linie um eine
kritische Diagnose sozialer Rahmenbedingungen und im realistischauthentifizierenden
Stil um Verständnis für die Täter geht. Ästhetisch geschieht
dies z. T. im Rückgriff auf Einfühlungstechniken und auf die erprobten
Gattungen des Kriminal- und Entwicklungsromans, die u. a. als literarischer
Ausdruck für das bürgerliche Bedürfnis nach Sicherheit und
Ordnung fungieren. Die Kombination der Techniken und Paradigmen erlaubt
sowohl kriminologische Rekonstruktionen als auch psychologische
Introspektionen. Damit schreiben sich die Texte einerseits in aktuelle Modi
der Wirkungsästhetik (Identifikation, Schauder, Spannung) und andererseits
in die kulturell dominanten Diskurse über die spezifische Form von Amok-
Gewalt ein.
Das Panorama des Bandes reicht von praxisorientierten Ansätzen, so dem
zu den Präventionsmaßnahmen des bayerischen Innenministeriums, über
medizinisch-psychiatrische und kriminologische Bestandsaufnahmen und
Forschungsfragen hin zur kritischen Betrachtung der medialen Kommunikation
in verschiedenen Formen und Rezeptionsgemeinschaften. Deutlich
wird, wie primordial die Funktion der Medien für die Wahrnehmung von
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Amok- und School Shooting-Gewalt als skandalisierenden und faszinierenden
„impulsiv“-zerstörerischen Gewaltformen ist. Von hoher soziokultureller
Bedeutung sind dabei nicht nur die schnell reagierenden, sondern auch
die langfristig wirkenden Medien wie Literatur und Filme. Bestseller wurden
etwa die Romane von L. Shriver und E. Carrère, die Filme Elephant
und Polytechnique erreichten ein Millionenpublikum. Einfache Erklärungsmuster
werden durch die fiktionalen Darstellungen und Deutungen
teils gebrochen, teils jedoch auch verstärkt. Letzteres ist z. B. im Buch von
M. Rhue der Fall, das Schullektüre geworden ist. Über die virulenten Vorstellungen
von Amok und Schulmassakern zu sprechen, ohne die Funktion
sowohl der Massenmedien inkl. Blogs und die der Fiktionalisierungen zu
bedenken, zu denen auch zahlreiche weitere Artefakte zu rechnen sind, ist
gar nicht möglich, denn diese Erscheinungen exzessiver Gewalt sind durch
die Art, in der sie ausgeführt, und die, in der sie aufgefasst werden, allzu
eng mit dem Kommunikationssystem westlicher Gesellschaften verbunden.
Die Beiträge von L. Adler, H. E. Müller, B. Körber, B. Frizzoni, R. Junkerjürgen
und I. v. Treskow gehen auf die Tagung Amok, Schulmassaker, Gewaltexzess
– Gesellschafts- und Medienanalyse zurück, die im Herbst 2010
an der Universität Regensburg stattfand. Hinzugekommen sind der Beitrag
von W. Schmidbauer und A. Neumair sowie jene von D. Ziegler,
S. Schmalfuß und S. Braselmann. Ausdrücklich gilt der Universitätsstiftung
Hans Vielberth unser Dank für die finanzielle Unterstützung der Tagung
und der damit verbundenen Autumn School.
Für Korrekturarbeiten danken wir Zacharias Heil und Catherine Schilling.
Ganz besonders geht unser Dank an Jonas Hock, der versiert Korrekturen
und formale Anpassungen handhabte und mit Engagement und Gewandtheit
so umsichtig wie zielorientiert wichtigen redaktionellen Beistand
leistete. Unterstützung für die Drucklegung kam von Seiten des BMBFProgramms
Qualität in der Regensburger Lehre (QuiRL) und von Seiten
des Themenverbunds Gewalt und Aggression in Natur und Kultur an der
Regensburger Universität – auch hierfür sprechen wir unseren Dank nachdrücklich
aus.