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Empirische Ethik Grundlagentexte aus Psychologie und Philosophie
Empirische Ethik
Grundlagentexte aus Psychologie und Philosophie




Nobert Paulo, Jan Christoph Bublitz (Hrsg.)

Suhrkamp
EAN: 9783518298923 (ISBN: 3-518-29892-5)
648 Seiten, kartoniert, 11 x 18cm, November, 2020

EUR 28,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Debatten um das richtige Verhältnis zwischen Ethik und Empirie durchziehen die Philosophiegeschichte. Eine um die Jahrtausendwende einsetzende Bewegung hat sie - das lässt sich bereits jetzt konstatieren - um ein neues Kapitel erweitert.
Rezension
Präskriptive Konklusionen lassen sich nicht aus deskriptiven Prämissen ableiten. Das Sein-Sollen-Problem zählt zu den Standarderkenntnissen der Metaethik. Demnach gilt es bei der ethischen Theoriebildung, den unüberbrückbaren „Gap“ zwischen empirischen und normativen Aussagen zu beachten. In reinster Form entwickelte Immanuel Kant mit seiner deontologischen Moralphilosophie eine rationalistische Begründung von Ethik. Die Kritik am Psychologismus, die Kritik an einer naturalisierten Ethik, die klare Distinktion zwischen Gründen und Ursachen sowie die Abgrenzung zwischen Genese und Geltung galten bis zur Jahrtausendwende als grundlegendes metaethisches Wissen. 2001 entwarf der Moralpsychologe Jonathan Haidt in seinem Aufsatz „The Emotional Dog and Its Rational Tail“ auf der Basis von experimentellen Forschungsbefunden sein sozial-intuitionistisches Modell moralischer Urteilsbildung, das sich gegen das bis dato die Moralpsychologie dominierende kognitivistische von Lawrence Kohlberg wendet. Haidts Dual-Prozess-Theorie moralischen Urteilens stützt der Moralpsychologe Joshua Greene in seinen Arbeiten unter Referenz auf Forschungsergebnisse der Hirnforschung. Der Philosophieprofessor Selim Berker dagegen liefert gute Gründe gegen eine neurowissenschaftliche Begründung ethischer Theorien. Einen epistemischen Wert spricht der Präferenzutilitarist Peter Singer unter Verweis auf evolutionstheoretische Überlegungen den moralischen Intuitionen ab.
Diese Debatte über Grundlagenprobleme der Ethik und der Moralpsychologie wurde in der deutschsprachigen Philosophie selten rezipiert. Umso verdienstvoller ist es daher zu bewerten, dass die zentralen Aufsätze dieser wissenschaftlichen Kontroverse erstmals in deutscher Übersetzung und in Buchform als suhrkamp taschenbuch wissenschaft-Band unter dem Titel „Empirische Ethik. Grundlagentexte aus Psychologie und Philosophie“ vorliegen. Herausgegeben wurde er von den Habilitanden Nobert Paulo, Assistent am Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz, und Jan Christoph Bublitz, Mitarbeiter an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. Mit dem Oberbegriff „Empirische Ethik“ bezeichnen die beiden Wissenschaftler sowohl die experimentelle Ethik als auch die empirisch informierte Ethik, welche selbst keine Versuche durchführt.
In ihrem Buch wird der Themenkomplex „Normativität und Empirie“ anhand ausgewählter Beiträge fundiert und differenziert beleuchtet. Dass eine Auseinandersetzung mit den Texten produktiv für Studierende ist, kann aus eigener universitärer Erfahrung als Dozent bestätigt werden. Im Wintersemester 2015/16 wurde von Professor Dr. Hartmut Leuthold und mir am Psychologischen Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ein Forschungsseminar mit dem Titel „Theorie und Praxis der Moralpsychologie“ durchgeführt. In dem Sammelband zum Verhältnis von Empirie und Normativität hätten allerdings Kernthemen der Philosophie des Geistes wie das der Willensfreiheit, das Qualiaproblem oder das Intentionalitätsproblem noch genauer berücksichtigt werden können. Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Ethik und Psychologie erhalten durch das Buch jedenfalls sehr gute Materialien für problemorientierte Unterrichtseinheiten über die Rolle von Emotionen und Kognitionen oder von moralischen Intuitionen bei der ethischen Urteils- und Theoriebildung.
Fazit: Der Sammelband „Empirische Ethik“ macht zentrale metaethische Grundlagentexte der amerikanischen Debatte zum Verhältnis von Psychologie und Ethik zugänglich, die im naturalistischen Zeitalter verdienen auch seitens der deutschsprachigen Philosophie und Moralpsychologie intensiv diskutiert zu werden.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Seit der Jahrtausendwende vollzieht sich eine interessante Wiederannäherung von Moralphilosophie und Moralpsychologie. Die neue empirische Ethik greift auf Methoden und Erkenntnisse der Psychologie und der Neurowissenschaft zurück, um klassische Fragen der Ethik zu beantworten. Aber sie wirft auch ihrerseits Fragen auf: Welche Rolle spielen Emotionen und Intuitionen im moralischen Denken, und welche Rolle sollen sie spielen? Können Moraltheorien wie Tugendethik oder Deontologie durch empirische Befunde gestützt werden oder werden sie dadurch geschwächt? Der Band versammelt die zentralen, bislang nicht auf Deutsch zugänglichen Texte dieser Debatte, u. a. von Joshua Greene, Jonathan Haidt, Peter Singer und Sharon Street, und ergänzt sie durch vertiefende Originalbeiträge.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
Jan Christoph Bublitz und Norbert Paulo
Empirische Ethik: Hintergründe, Einwände, Potentiale 9
Jonathan Haidt
The Emotional Dog and Its Rational Tail:
Ein sozial-intuitionistisches Modell moralischen Urteilens 73
Alex Wiegmann undNeele Engelmann
Entwicklungen und Probleme der Moralpsychologie
zu Beginn des 21. Jahrhunderts 139
John M. Doris
Charakter, Situationen und Tugendethik 176
Selim Berker
Die normative Bedeutungslosigkeit der Neurowissenschaft 219
Joshua Greene
Die Schnappschuss-Moral überwinden: Warum die
kognitive (Neuro)Wissenschaft bedeutsam für die Ethik ist 252
Peter Singer
Ethik und Intuitionen 297
Norbert Paulo
Romantisierte Intuitionen? Die Kritik der experimentellen
Philosophie am Überlegungsgleichgewicht 323
Hanno Sauer
Moralischer Rationalismus: Eine pessimistische Verteidigung 358
Sharon Street
Ein Darwinistisches Dilemma für realistische Werttheorien 388
Thomas Pölzler
Psychologische Forschung zum moralischen Realismus
und ihre metaethischen Implikationen 423
Guy Kahane
Sein, Sollen und das Gehirn 455
Jan Christoph Bublitz
Epistemische Argumente im Recht: Von Biases und Intuitionen zu Genese und Rechtfertigung 501
Textnachweise 546
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 547