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Wir werden sein wie Gott
Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit
aus dem Englischen von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Immortalization Commission.
Science and the Strange Quest to Cheat Death«
im Verlag Allen Lane (Penguin Group), London 2011.
© 2011 John Gray
John Gray
Klett-Cotta
EAN: 9783608947366 (ISBN: 3-608-94736-1)
268 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 13 x 21cm, 2012
EUR 21,95 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Der bedeutende britische Philosoph John Gray betrachtet den modernen Menschen als zaudernd und zögernd. Ihm gelingt es nicht, die Zufälligkeit seiner eigenen Spezies anzunehmen - mit fatalen Folgen. In England wird Ende des 19. Jahrhunderts in esoterischer Manier versucht, Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen. Einen aggressiven Weg schlagen Naturwissenschaftler und Techniker der jungen Sowjetunion nach 1917 ein. Sie versetzen sich in die Rolle göttlicher Designer und erschaffen den »Neuen Menschen«, um das Paradies auf Erden zu errichten. Welt und Mensch sollen radikal modernisiert und wider besseres Wissen unsterblich werden. Eine Fata Morgana, die noch bis heute in der Medizin, der Genetik und in den politischen Ideologien weiterwirkt und für viele unfassbare Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist.
Der derzeit bedeutendste Philosoph Englands und einer der konsequentesten Kritiker von Ideologien in einer Auseinandersetzung mit Unsterblichkeitsmythen und mit der Rolle des Menschen in der Natur.
Rezension
Insbesondere auch das Christentum pflegt mit seiner zentralen Lehre von der Auferstehung den Mythos von der menschlichen Unsterblichkeit - und entspricht damit einem Anliegen der meisten Religionen und einem tiefen Wunschdenken der (durch die Sterblichkeit gekränkten) Menschheit. Nirgends scheint Feuerbachs religionskritische These, die Theologie sei letztlich Anthropologie und die religiösen Vorstellungen letztlich Projektionen menschlicher Wunschträume, plausibler als hier. Der Autor des hier anzuzeigenden Buches zeigt darüber hinaus die Gefährlichkeit des Mythos von der menschlichen Unsterblichkeit auf; denn dahinter steht letztlich die Allmachtsphantasie des Menschen, der sein will (und vermeintlich sein wird) wie Gott. Und so gelingt es Religionen wie (weltlichen) Ideologien immer wieder, Programme zu entwickeln, um den »Neuen Menschen« zu erschaffen, um das Paradies auf Erden zu errichten. Das zeigt der Autor an der Esoterik des ausgehenden 19. Jhdts. ebenso auf wie an der Ideologie der jungen Sowjetunion am Beginn des 20. Jhdts.
Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Warum können wir den Mythos von der menschlichen Unsterblichkeit nicht aufgeben? Immer wieder lassen wir uns auf die Versprechen der Ideologien, der Religionen, der Medizin und der Naturwissenschaften ein. Aber die Maxime dieses Mythos ist gefährlich, verheißt sie doch ihren Anhängern: Wir werden sein wie Gott.
John Gray, geboren 1948, ist Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics.
Durch zahlreiche Sendungen für die BBC wurde er weltweit bekannt, wie auch als Autor herausragender Bücher gefeiert: »Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen«; ferner der Weltbestseller »Straw Dogs«; dt. »Von Menschen und anderen Tieren«.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Zwei Anschläge auf den Tod 11
I Kreuzkorrespondenzen 17
Darwin nimmt an einer Seance teil 17 - F. W. H. Myers und Henry Sidgwick, Begründer der Gesellschaft für Seelenforschung, treffen Vorkehrungen, um nach ihrem Tod Nachrichten aus dem Jenseits zu senden 19 - Automatisches Schreiben und die Kreuzkorrespondenzen 21 - Alfred Rüssel Wallace als Mitentdecker der natürlichen Selektion und Konvertit zum Spiritualismus 26 - Sidgwicks Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod und das Schwarze Loch der Ethik 29 - Darwin zur Unsterblichkeit der Seele 32 - In der Dämmerung im Garten des Trinity College spricht George Eliot über sittliche Pflicht 37 - Einige Spielarten des Jenseits 40 - Myers und die posthume Evolution - Sidgwicks Nachricht aus dem Jenseits: »Ich suche immer noch« 46 - Zwei Versionen des Unbewuss-ten 55 - Das unterbewusste Ich und die Macht der Verkörperung 59 - Henry Sidgwick und Madame Blavatsky 62 -Sidgwick, Myers und Schwulenliebe 64 - Myers und eine heimliche Liebe 70 - Arthur Balfour über Wissenschaft, Glauben und Zweifeln 75 - Balfours lang verstorbene Liebe sendet eine Nachricht 81 - Palmsonntag 83 - Die Kreuzkorrespondenzen, die Story und der Plan 90 - Postmortale Eugenik und ein Messiasknabe 93 - Nachricht vom Mars 105 - Erscheinung und Verschwinden von »Clelia«, Myers' überirdischer Muse 107 - Eine unterbewusste Romanze geht zu Ende 111 - Ouspenslcy über ewige Wiederkehr 113 - Flammen über London 114
II Gottesmacher 115
H. G. Wells kommt nach Russland und verliebt sich 115 -Moura: Maxim Gorkis Vertraute und Wells' »Liebes-Schatten« 116 - Robert Bruce Lockhart, Moura und die »Lockhart-Ver-schwörung« 119 - Wells stolpert über Mouras Doppelleben 129 - Mouras Lachen 130 - Der Geruch nach Honig 130 - Wells, Darwin und Dr. Moreau: »Sterbende Tiere« 136 - »Es gibt kein Muster für das, 'was kommen wird« 135 - Maxim Gorki, Gottesmacher 147 - Anatoly Lunatscharski, Okkultist und sowjetischer Kommissar für Volksaufklärung 151 - Der Neurologe und Parapsychologe Wladimir Bechterew stattet Stalin einen Besuch ab 152 - Lamarck und Lysenko 153 - Der Humanismus des Weißmeerkanals 155 - Gorki zur Ausrottung der Nagetiere 157 - Unsterblichkeit und Raketenwissenschaft: Konstantin Ziollcowski 157 - Stalin als Riesenfloh 159 - Gorkis Reisekoffer 161 - Gorkis letzte Worte 164 - Leonid Krassin, Sowjetminister, Geldwäscher und Pionier der Kryogenik 166 - Nikolai Fjodorow, orthodoxer Mystiker und Techno-Immortalist 166 - Die Unsterblichkeitskommission 169 - Kasimir Malewitsch, Kubo-Futurist und Inspirationsquelle für Lenins Grabmal 169 - Sieg über die Sonne 169 - Zwei Übermenschen aus der Tscheka 180 - Stalins Kaffeemaschine 185 - Die Todesmaschine 185 -Eau de Cologne, Asche und frisch gebackenes Brot 198 - Walter Duranty, Schüler von Aleister Crowley und Stalins Apologet 201 - Die dramatische Qualität der Schauprozesse 205 - Mouras Feuersbrunst 212
III Süßer Vogel Sterblichkeit 213
Vom automatischen Schreiben zur Tiefgefrierlagerung 213 -Einfrieren oder Hungern für die Ewigkeit 216 - Erderwärmung und der sterbliche Planet 219 - Ray Kurzweil und die Singularität 222 - Künstliche Intelligenz und virtuelle Evolution 224 Der Unsterblichkeitswahn: Programm zur Vernichtung der Menschheit 225 - Wissenschaft als Maschine zur Erzeugung unlösbarer Probleme 227 - Naturgesetz oder uranfängliches Chaos 231 - Dem Regen lauschen und über den Tod nachdenken 239 - Der betörende Geruch des Todes in Casablanca 242 - Das Fallen eines Blattes 247
Dank 248
Anmerkungen 251
Quellennachweis 252
Leseprobe:
Einleitung
Zwei Anschläge auf den Tod
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Wissenschaft
zur Operationsbasis für den Angriff auf den Tod. Die
Macht des Wissens war aufgerufen, die Menschen aus den
Fesseln der Sterblichkeit zu befreien. Wissenschaft bezog gegen
Wissenschaft Stellung und wurde so zum Einfallstor des
Okkulten.
Die Wissenschaft hatte eine Welt enthüllt, in der jeder
Mensch, nicht anders als jedes Tier, nach dem Tod mit seinem
persönlichen Erlöschen, ja mit dem Aussterben seiner Art
rechnen musste. Das war die Botschaft des Darwinismus, die
nicht einmal Darwin selbst ausnahmslos akzeptieren mochte.
Beinahe jedem war dieser Gedanke unerträglich. Und da die
meisten der Religion den Rücken gekehrt hatten, wandten sie
sich der Wissenschaft zu, um genau der Welt zu entfliehen,
die ihnen die Wissenschaft soeben erschlossen hatte.
In England entstand eine mächtige Bewegung mit den besten
Verbindungen, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Beweise
dafür zu finden, dass der Mensch als Person den körperlichen
Tod überdauere. »Seelenforscher«, unterstützt von einigen
namhaften Persönlichkeiten der Zeit, glaubten fest daran,
Tatsachenbeweise für das Weiterleben nach dem Tode beibringen
zu können. Die damals sehr populären Séancen waren
kein harmloses viktorianisches Gesellschaftsspiel, das man
erfunden hatte, um an eintönigen Abenden die Zeit totzuschlagen.
Sie waren Bestandteil einer ängstlichen, mitunter
verzweifelten Sinnsuche – eines Strebens, das den Cambridge-
Philosophen und Autor einer noch heute viel gelesenen Ethik12
studie, Henry Sidgwick, ebenso in seinen Bann zog wie Alfred
Russel Wallace, der zusammen mit Darwin die natürliche
Auslese entdeckt hatte und zum Spiritualismus übergetreten
war. Und Arthur Balfour, zeitweise Premierminister, Außenminister
und Vorsitzender einer »Gesellschaft für Seelenforschung
« namens Society for Psychical Research, ließ sich an
seinem Lebensabend dazu hinreißen, mittels »automatischen
Schreibens« – was bedeutet, ohne bewusste Absicht des
Schreibers Texte zu verfassen, die scheinbar unter Federführung
eines anderen Urhebers entstanden – mit einer lange
verstorbenen Frau zu korrespondieren, die er einst, wie manche
glauben, liebte.
Die Suche der Seelenforscher nach Beweisen für das posthume
Weiterleben des Menschen speiste ein Widerwille gegen
den wissenschaftlichen Materialismus. Daneben hatten
ihre Nachforschungen häufig noch andere, persönlichere
Gründe. Führende Seelenforscher, Mitglieder einer Elite, die
sich gegen kritische Blicke abschottete, indem sie auf mysteriöse
Gebräuche hielt, benutzten ihre Suche nach dem Übernatürlichen,
um Aspekte ihres Privatlebens aufzudecken und
aufs Neue zu verhüllen, zu denen sie oder ihre Umgebung ihr
Einverständnis nicht hätten geben können oder wollen. In einem
Fall, der erst ein knappes Jahrhundert später publik
wurde, waren sie in einen geheimen Plan zur Empfängnis
eines Erlöserkindes verwickelt. Durch Kommunikation mit
den Toten über so genannte »Kreuzkorrespondenzen« – Tausende
Seiten Text entstanden im Laufe von beinahe 30 Jahren
via »automatisches Schreiben« – vermeinten die Seelenforscher,
Teil eines im Jenseits von verstorbenen Wissenschaftlern
durchgeführten Experiments zu sein, das dem Diesseits
Frieden bringen sollte.
Zur selben Zeit, da Teile der intellektuellen Elite Englands
sich in die »Seelenforschung« stürzten, erwachte in Russland
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eine ganz andere Anti-Tod-Bewegung. Wie in England waren
auch dort Wissenschaft und Okkultes keineswegs getrennte
Gebiete, sondern zu einer gedanklichen Strömung verschmolzen,
die letzten Endes die Religion ersetzen sollte. Dies wurde
nirgends deutlicher als bei den »Gottesmachern« – einer Sektion
der bolschewistischen Intelligenz, die überzeugt war, der
Mensch wäre eines Tages, vielleicht schon bald, in der Lage,
den Tod zu überlisten. Neben Maxim Gorki war auch Anatoli
Lunatscharski bei den Gottesmachern, ein früherer Theosoph,
der zum Kommissar für Volksaufklärung berufen war,
sowie Leonid Krassin, Schüler des russischen Mystikers Nikolai
Fjodorow, der daran glaubte, die Wiederauferstehung der
Toten sei technisch zu bewerkstelligen. Krassin, später Handelskommissar
der Sowjets, war eine Schlüsselfigur in jenem
Gremium, das die Entscheidung traf, Lenins sterbliche Überreste
zu konservieren, und als »Kommission für Unsterblichkeit
« bekannt wurde.
Die russischen Gottesmacher glaubten, den Tod mit Hilfe
der Wissenschaft entmachten zu können. Die britischen Seelenforscher
glaubten, wissenschaftlich beweisen zu können,
der Tod sei lediglich der Übergang in eine andere Welt. In beiden
Fällen verschwammen oder verwischten sich die Grenzen
zwischen Wissenschaft, Religion und Magie.
In Russland wie in England benutzte man die Wissenschaft
dazu, sich Darwins Lektion zu entziehen: dass Menschen
auch nur Tiere sind, auf die keine besondere Bestimmung
wartet, die ihnen eine Zukunft jenseits ihrer
Behausung auf Erden garantierte. Das war eine Erkenntnis,
für die der Erzähler wissenschaftlicher Phantasmen, Herbert
George Wells, keinen Beweis benötigte. Wells brachte sein
Leben damit zu, jeden, der sich dafür aufgeschlossen zeigte,
davon zu überzeugen, eine intelligente Minderheit müsse die
Evolution unter Kontrolle bringen. Er reiste nach Russland,
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um sich mit Gorki und Lenin zu treffen, den Führern des bolschewistischen
Regimes, die, wie er annahm, die Menschheit
aus dem Chaos der Geschichte herausführen könnten. Als er
jedoch in Russland war, ließ er sich mit einer Frau – seiner
späteren Lebensgefährtin – ein, die überzeugt war, dass es keinen
Fluchtweg gab. Die Überlebenskunst hatte dem Fluss der
Ereignisse zu folgen, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie von
der Geheimpolizei auf Wells – und davor auf Gorki – angesetzt
worden war. Die Entdeckung, auf welche Weise jene Frau, die
er als seinen »Lover Shadow«, seinen »Liebesschatten«, beschrieb,
ihr Überleben betrieb, erschütterte Wells’ Weltbild
bis auf den Grund. Außerstande, die Frau zu verlassen, die er
nicht verstand, erkannte er, dass er sich von anderen Menschen
in keiner Weise abhob. Die intelligente Minderheit, in
die Wells seine Hoffnungen gesetzt hatte, existierte nicht,
und Wells sah sich gezwungen zu akzeptieren, dass der Untergang
der Menschheit unabwendbar war.
Auch wenn man die Unsterblichkeit in beiden Ländern mit
wissenschaftlichen Methoden in Angriff nahm, waren die
Revolten gegen den Tod in England und Russland doch sehr
verschieden, schon weil die äußeren Gegebenheiten weit auseinanderlagen.
Während die »Seelenforschung« in England
aufblühte, ging das Leben der Briten unverändert weiter.
Nicht einmal der Erste Weltkrieg vermochte die herrschende
Gesellschaftsform zu kippen. Das Land wurde erschüttert,
aber das betagte Gebäude trotzte allen Angriffen. Sollte unter
diesen Umständen der Tod überwunden werden, dann
musste er die Lebenden heimsuchen. Das Ziel der Seelenforscher
war nicht nur zu zeigen, dass der menschliche Geist
nach dem Tod des Körpers weiterhin aktiv sei. Es ging vielmehr
darum, die Toten zu befähigen, mit den Lebenden in
Kontakt zu treten. Die Kreuzkorrespondenzen legten sogar
einen noch höheren Maßstab an: Jetzt erhielten die Toten die
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Aufgabe, die Lebenden zu retten; die Menschheit sollte von
sich selbst durch den post mortem erwählten Messias erlöst
werden. Mochte die Welt in Anarchie versinken, wenn nur
der Fortschritt auf der anderen Seite vorankam.
In Russland gab es keine andere Seite. Eine ganze Kultur
hatte sich aufgelöst, und mit ihr war auch das Jenseits verschwunden.
Der Glaube an einen beständigen Fortschritt, den
der Krieg in England nur geschwächt hatte, war in Russland
endgültig dahin. Graduelle Verbesserungen – Wunschgedanke
der Liberalen – waren schlechterdings nicht mehr zu
erreichen. Der Fortschrittsgedanke verschwand indes nicht.
Er radikalisierte sich, und Russlands neue Machthaber sahen
sich in ihrer Überzeugung gestärkt, die Menschheit schreite
nur durch Katastrophen voran. Nicht nur die gesellschaftlichen
Institutionen, auch die menschliche Natur musste zuerst
vernichtet und danach wieder neu aufgebaut werden.
War die Macht des Wissens einmal vollständig vor den Karren
gespannt, würde man den Tod zwingen. Um dies zu erreichen,
musste das menschliche Tier freilich neu konstruiert
werden, eine Aufgabe, die die Vernichtung von Zehntausenden
erforderlich machte.
Beide, Gottesmacher wie Seelenforscher, glaubten, Menschen
besäßen Fähigkeiten, die weit über das hinausgingen,
was der Wissenschaft seinerzeit bekannt war. Tatsächlich
vermochte die wissenschaftliche Erforschung des Übernatürlichen
die neuen menschlichen Kräfte, von denen sie
träumte, nicht zu enthüllen. Stattdessen zeigte sie die Grenzen
des Bewusstseins auf und die unermessliche Weite dessen,
was der Vernunft niemals zugänglich war. Etliche Untersuchungen
paranormaler Phänomene bezeichnen wir heute
als Pseudowissenschaft. Doch die Demarkationslinie zwischen
Wissenschaft und Scharlatanerie ist unscharf und veränderlich;
ihr genauer Verlauf klärt sich immer erst im Nach16
hinein. Keine wissenschaftliche Tradition ist makellos und
unberührt von der Willkür bloßen Meinens.
Ein altes Märchen macht uns weis, der Beginn der Wissenschaft
falle mit der Absage an den Aberglauben zusammen.
Tatsächlich wurde die Geburt wissenschaftlicher Forschung
mit der Absage an den Vernunftglauben eingeleitet. Die Denker
der Antike und des Mittelalters glaubten noch, die Welt sei
mit Hilfe erster Prinzipien zu erklären. Moderne Wissenschaft
beginnt in dem Moment, da Experiment und Beobachtung
an die erste Stelle rücken und ihre Ergebnisse auch dann
akzeptiert werden, wenn das, was sie aussagen, als unmöglich
erscheint. In einem scheinbar paradoxen Amalgam verband
sich wissenschaftlicher Empirismus – das Vertrauen auf leibhaftige
Erfahrung statt auf vermeintlich vernünftige Prinzipien
– oft mit dem Hang zum Magischen.
Wissenschaft und Okkultismus haben zu vielen Gelegenheiten
gemeinsame Sache gemacht. Sie flossen in gleich zwei
Anti-Tod-Bewegungen zusammen, die beide den Anspruch
erhoben, die Wissenschaft könne der Menschheit geben, was
Religion und Wunderglaube ihr immer versprochen hatten –
Unsterblichkeit.
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