lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Wenn Jugendämter scheitern Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz
Wenn Jugendämter scheitern
Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz




Kay Biesel

Transcript
EAN: 9783837618921 (ISBN: 3-8376-1892-7)
376 Seiten, paperback, 20 x 31cm, 2011

EUR 32,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In Organisationen der Kinderschutzarbeit können latente Fehler schwere Folgen nach sich ziehen, wenn sie nicht rechtzeitig wahrgenommen werden. Erstmals im deutschsprachigen Raum geht diese Studie deshalb der Frage nach, welche Auswirkungen die im Kinderschutz immer wichtiger werdenden und dem Sicherheitsprimat unterliegenden Fehlerdiskussionen und -konzepte auf die organisationale Praxis der Kinderschutzeinrichtungen haben. Auf Grundlage einer qualitativen Evaluationsstudie zeigt Kay Biesel, wie die Jugendämter der Städte Schwerin und Dormagen mit ihren Fehlern im Kinderschutz umgehen.


Rezension
Immer wieder einmal geraten Jugendämter in der Bundesrepublik in die Kritik der Medien, wenn fatale Fehler sichtbar werden im Hinblick auf den Kinder- und Jugendschutz: Wenn die Jugendämter versagt haben ... - Diese Studie geht primär der Frage nach, wie solche Fehler rechtzeitig erkannt und langfristig vermieden werden können, indem die Fehler zunächst überhaupt erkannt, dann diskutiert, in organisationale Fehlerkulturen eingebracht und mit Risiko- und Fehlermanagement in der Sozialen Arbeit minimiert werden. Auf Grundlage einer qualitativen Evaluationsstudie zeigt der Autor exemplarisch, wie die Jugendämter der Städte Schwerin und Dormagen mit ihren Fehlern im Kinderschutz umgehen. Am Beispiel des Kinderschutzsystems geht es dem Verfasser um die Untersuchung der Fehlerproblematik in sozialen Organisationen schlechthin.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte
Soziale Arbeit, Kinderschutz, Jugendamt, Professionalisierung, Qualitäts- und Fehlermanagement
Adressaten
Soziale Arbeit, Sozialpädagogik, Soziologie

Kay Biesel (Dr. phil.) ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kinderschutz an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe.
WWW: www.fhnw.ch/sozialearbeit/personen/kay.biesel

Interview
... mit Kay Biesel

1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Weil es ein Buch ist, in dem der professionelle und organisationale Umgang mit Fehlern im Kinderschutz erstmalig in Deutschland sozial- und organisationswissenschaftlich untersucht wird. Es verdeutlicht das Problem, vor dem wir im Kinderschutz stehen, wenn wir den Versuch wagen, uns konstruktiv mit unseren, aber auch mit den Fehlern der anderen auseinandersetzen. Fehler sind in unserer Gesellschaft negativ konnotiert. Fehler macht niemand gerne und wenn: Dann möchte man zumindest die Chance dazu haben, seine Fehler in aller Heimlichkeit selbst zu erkennen und zu korrigieren. Fehler sind schmerzhaft. Sie verletzten uns und andere. Aus diesem Grund müssen die Jugendämter und ihre Kooperationspartner lernen, miteinander achtsam, fehleroffen und zuverlässig zusammenzuarbeiten.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Mein Buch gibt Anstöße für einen anderen Umgang mit Fehlern im Kinderschutz, die ja zumeist komplexer, ›hybrider‹ Natur sind. Man muss sich nämlich immer wieder vor Augen führen, dass schwerwiegende Fehler im Kinderschutz in aller Regel nicht einer einzelnen Fachkraft allein zugeschrieben werden können. Wenn ein gefährdetes Kind zu Schaden kommt oder sogar stirbt, sind zuvor oftmals viele kleine Fehler passiert, ist es beispielsweise nicht gelungen – aus welchen Gründen auch immer – mit den Eltern und dem ganzen sozialen Umfeld fair, solidarisch und fachlich kompetent zusammenzuarbeiten. Im Kinderschutz kommt es insofern auf eine reflexive Kommunikationskultur der Fehleroffenheit, auf eine Bürokratismus überwindende Achtsamkeit und auf die professionelle Gestaltung von demokratischen und bürgernahen Orten der Partizipation sowie der gegenseitigen Anerkennung an.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Eine große Bedeutung. Das Thema wurde von der Profession Sozialer Arbeit bislang eher randständig behandelt. Mit der von mir durchgeführten Studie konnte ich zeigen, welche sozio-kulturellen, organisationalen und professionellen Einstellungen zur Fehlerproblematik im Kinderschutz eine Rolle spielen, wie Fach- und Leitungskräfte mit auftretenden Fehlern in Hilfeprozessen umgehen, wie sie aus Fehlern lernen, diese ausblenden, negieren oder nicht zur Sprache bringen und wie sie sich organisationell auf die Möglichkeit von professionellen und organisationalen Fehlern einstellen.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit all jenen, die sich maßgeblich für eine Kultur des Hinsehens im Kinderschutz engagiert und sich kritisch über die Fehler der Fachkräfte aus den Jugendämtern in den Medien und in der Öffentlichkeit geäußert haben, ohne dabei die gegenwärtigen sozio-kulturellen und professionellen Ausgangsbedingungen in einer zunehmend verunsicherten Sicherheitsgesellschaft mitzubedenken.

5. Ihr Buch in einem Satz:
Wenn Jugendämter im Kinderschutz scheitern, ist die öffentliche Empörung groß. Wie gerechtfertigt sie ist, sollte jedoch vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Sicherheitsvorstellungen und auf Grundlage aktueller risiko- und fehlertheoretischer Erkenntnisse immer wieder kritisch reflektiert werden.

Medienecho:

»Das öffentliche Nachdenken über die Jugendämter und deren Rolle, Wertschätzung, Ausstattung muss ein anderes Niveau erreichen. Dafür ist Kay Biesels Studie ein guter Beweis.«
Caroline Fetscher, Der Tagesspiegel, 21.05.2012

»Dieses Buch ist eine wichtige und sehr hilfreiche Grundlage für alle Professionellen, Leitungs- und Führungskräfte in der Sozialen Arbeit, vor allem aber im Tätigkeitsbereich der Jugendämter und der Allgemeinen Sozialen Dienste. Es eröffnet die Möglichkeit, sich dem Phänomen ›Fehlverhalten‹ mit seinen personalen und organisationalen Bedingungen in einer konstruktiven Ausrichtung zu nähern, sich mit ihm auseinander zu setzen und ein offenes Fehlermanagement zu entwickeln.«
Doris Scherer-Ohnemüller, www.socialnet.de, 02.01.2012

»Das Buch ist wertvoll, auch für PraktikerInnen außerhalb der Jugendämter.«
Manuel Essberger, Forum für Kinder- und Jugendarbeit, 4 (2011)
Inhaltsverzeichnis
Danksagung 7

Vorwort 11

1. Einleitung 13

2. Fehlerdiskussionen 23

2.1 Konflikte und Krisen | 24
2.2 Ungewissheit und Sicherheit | 33
2.3 Widersprüche | 40

3. Fehlerkonzepte 49

3.1 Die Sicherheit menschlicher Fehler | 50
3.2 Die Unvermeidlichkeit professioneller Fehler | 65
3.3 Das ungelöste Fehlerumgangsdilemma | 91

4. Organisationale Fehlerkulturen 101

4.1 Achtsamkeit, Zuverlässigkeit und Fehleroffenheit:
zur Notwendigkeit einer reflexiv-kommunikativen Organisationskultur | 102
4.2 Soziale Organisationen als kommunikative Systeme | 109
4.3 Soziale Organisationen als kulturelle Interessen-, Macht- und Statusfelder | 119
4.4 Soziale Organisationen als Lern- und Entwicklungsgemeinschaften | 127
4.5 Soziale Organisationen auf dem Weg zu demokratisch-dialogischen Organisationskulturen? | 132

5. Evaluations- und Fehlerstudie: methodologisches Vorgehen 135

5.1 Ausgangspunkte der Evaluations- und Fehlerstudie | 135
5.2 Die verwendeten Erhebungs- und Vertiefungsmethoden | 156
5.3 Die Auswertungsmethode | 170

6. Evaluations- und Fehlerforschungsergebnisse: zentrale Thematisierungsfelder 175

6.1 Der Umgang mit Fehlern im Jugendamt der Stadt Schwerin | 177
6.2 Der Umgang mit Fehlern im Jugendamt der Stadt Dormagen | 241
6.3 Der Umgang mit Fehlern in den Jugendämtern der Städte Schwerin und Dormagen im Vergleich: eine Bilanz | 283

7. Risiko- und Fehlermanagement in der Sozialen Arbeit: Fluch oder Segen? 293

7.1 Die Risiko- und Fehlermanagementqualität sozialer Organisationen | 293
7.2 Qualitätsstandards für ein Risiko- und Fehlermanagement Sozialer Arbeit | 301

Literatur 307

Abbildungen und Tabellen 33


Vorwort
Es kennzeichnet Ansatz und Anspruch der in jeder Hinsicht innovativen
Studie, dass sie mit einem Interview-Zitat eines Klienten eines Jugendamtes
eingeleitet wird, das als Motto der Arbeit vorangestellt wird. Und damit
wissen wir bereits: Klienten kommen in dieser ersten deutschen Studie zur
Fehlerproblematik in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe in den Blick.
Sie haben eine Stimme und sie haben etwas Wichtiges zu sagen: Soziale
Arbeit hat es mit komplexen Situationen zu tun, denn »jedes Schicksal ist ja
anders« und der »Sozialarbeiter ist ja auch nur ein Mensch und keine Maschine
«. Hier eine »richtige Entscheidung« zu treffen, zumal, wenn man einen
schlechten Tag habe, sei schwer. Da könne man – »vor der Courage« –
nur den Hut ziehen.
Eine solche nüchterne Einschätzung und anerkennende Haltung gegenüber
der modernen Sozialen Arbeit und insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe
sind heutzutage jedoch nicht die Regel. Im Gegenteil: Das gesamte
soziale Hilfesystem und vor allem die für den Kinderschutz zuständigen
Jugendämter sind vor dem Hintergrund weltweiter politischer und ökonomischer
Umbrüche ins Kreuzfeuer einer scharfen gesellschaftlichen, öffentlichen
und politischen Kritik geraten und es werden ihnen immer öfter Fehler,
ja Scheitern vorgeworfen.
Hier setzt Kay Biesel mit seiner qualitativ angelegten Forschung im Feld
an und fragt: Wird die Kinder- und Jugendhilfe in Anbetracht knapper Ressourcen
und einer Zunahme von komplizierten und chronifizierten Problemlagen
ihrer Klienten in einer ›Sicherheitssackgasse‹ eines präventiven Risikomanagements
landen? Wird nur noch einseitig auf ›Gefahrenabwehrkonzepte‹
im Kinderschutz gesetzt? Oder haben Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
im sozialen Hilfesystem, die Etablierung und Förderung eines
lernorientierten und reflexiv-kommunikativen Umgangs mit intra- und
inter-professionellen wie -organisationalen Fehlern, d.h. eines achtsamen,
zuverlässigen und offenen Umgangs mit Fehlern, die im Kinderschutz nicht
zu vermeiden sind, eine Chance?
Mit dieser Fragestellung betritt der Autor Neuland, ist er einer der ersten,
der sich in Deutschland der empirischen Erforschung der Fehlerproblematik
in sozialen Organisationen zuwendet. Dabei ist sein Schwerpunktinte
12 | WENN JUGENDÄMTER SCHEITERN
resse die Erforschung von Risiken und Fehlern in der Kinderschutzarbeit der
Kinder- und Jugendhilfe, ein Interesse, das freilich mit den in jüngster Zeit
breit in der Öffentlichkeit erörterten tödlichen Kinderschutzfällen besondere
Brisanz gewonnen hat.
Hier bleibt der Autor aber nicht stehen. Er nimmt vielmehr die hier deutlich
werdenden unterschiedlichen politischen und fachlichen Interessen und
Positionen kritisch in den Blick, nicht zuletzt die heftigen Kontroversen
über die Entwicklungsrichtung des modernen Kinderschutzsystems. Im Mittelpunkt
seines Interesses stehen die konzeptuellen, programmatischen und
methodischen Fragen der Organisationsentwicklung sozialer Organisationen,
geht es um eine kritische systematische Bilanzierung der neueren organisationswissenschaftlichen
Fehlerforschung und um ein eigenständiges,
Neuland erschießendes qualitatives Evaluations- und Fehlerforschungsprojekt
in zwei städtischen Jugendämtern mit der Eröffnung eines neuen Verständnisses
von Risiko- und Fehlermanagement in der Sozialen Arbeit. Es
geht also nicht nur um das Kinderschutzsystem und seine Fehler sondern um
die Untersuchung der Fehlerproblematik in sozialen Organisationen. Die
immer wieder thematisierten Praxis- und Entwicklungsprobleme der modernen
Kinderschutzarbeit sind nur das konkrete Feld, an dem und mit dem die
Fehlerproblematik sozialer Organisationen exemplifiziert, sozialwissenschaftlich
untersucht und theoretisch systematisch erfasst wird.
Die reichhaltigen Ergebnisse dieser beeindruckenden Feldstudie machen
deutlich, wie es in der Praxis von Jugendämtern zu Fehlern kommt, wie sie
sich andeuten und wie sie sich schließlich unter bestimmten organisationskulturellen
Bedingungen und spezifischen Arbeitssituationen verdichten. Sie
zeigen aber auch, wie man achtsam und reflexiv mit der Fehlerproblematik
umgehen kann. Kay Biesel ist insofern nicht nur der erste Fehlerforscher in
der deutschen Kinderschutzarbeit, sondern zugleich ein kreativer und kompetenter
Qualitätsentwickler. Er leistet mit seiner Arbeit einen wichtigen
Beitrag zur Entwicklung von Qualitätsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe,
an dem sich die Fachdebatte um Qualitätsentwicklung und Risiko- und
Fehlermanagement in der Sozialen Arbeit in Zukunft mit Gewinn orientieren
kann.
Reinhart Wolff