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Verwundet bin ich und aufgehoben
Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit
Pierre Stutz
Kösel
EAN: 9783466366231 (ISBN: 3-466-36623-2)
200 Seiten, 14 x 22cm, Februar, 2003
EUR 14,95 alle Angaben ohne Gewähr
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Verlagsinfo
Wunder der Geborgenheit
Vielen spirituellen und therapeutischen Ratschlägen liegt ein letztendlich überforderndes Perfektionsideal zugrunde: noch ganzheitlicher, noch erleuchteter, noch versöhnter ... sollen wir werden. Pierre Stutz sieht das anders: Wer menschlich bleibt, bleibt unvollkommen, macht Fehler, kennt Zerrissenheit und Verwundungen. Das ehrliche und persönliche Buch wendet sich an Suchende gerade in Umbruchs- und Krisenzeiten. Es befreit, zu sich selbst mit allen Macken und Kanten zu stehen. Es ermutigt mit vielen konkreten Impulsen authentisch zu bleiben – gerade angesichts dunkler und schwieriger Erfahrungen. Diese neue Spiritualität der Unvollkommenheit erschließt das Buch über große Gestalten der Mystik aus Vergangenheit und Gegenwart. Persönlich gehaltene Meditationstexte des Autors inspirieren Leserinnen und Leser, ihre eigenen Lebenserfahrungen auszusprechen. Die Reise zur eigenen Unvollkommenheit stößt auf ungeahnte Wunder der Geborgenheit und des wahren inneren Friedens.
Inhaltsverzeichnis
Zur Einstimmung 7
Weg-Leitung zum Lesen 14
1
Von der Würde des Begrenztseins 18
2
Vom Ganzwerden im Loslassen 35
3
Von der Ausgeglichenheit im Auf und Ab 52
4
Von der Fülle in der Leere 70
5
Von der Nähe in der Distanz 86
6
Vom Glanz in der Finsternis 102
7
Vom Mitsein im Rückzug 120
8
Von der Lebenskraft im Leiden 135
9
Vom intensiven Leben im Sterben 154
10
Von den Wendungen zur Mitte 170
Mein Coming Out – Ein Brief 187
Anhang 193
Anmerkungen 193
Verzeichnis der mystischen Originaltexte 199
Leseprobe
Weg-Leitung zum Lesen
Liebe Leserin, lieber Leser!
Ich wage dich mit dem vertrauten Du anzusprechen, denn ein mystischer Weg ist immer ein persönlicher Begegnungsweg. So wie ich mich seit Jahren mit Mystikerinnen und Mystikern in freiem Gespräch befinde, mit einer Teresa von Avila, einem Meister Eckhart, einer Hildegard von Bingen oder einem Johannes vom Kreuz, so möchte ich dir nach dem Vorwort nochmals ein paar Lese-Weg-Leitungen mitgeben: Anregungen, die in aller Freiheit aufgenommen werden können.
Das Buch ist ein Wegbuch, es erzählt von meinem Weg: Doch vielmehr möchte es zu deinem ganz persönlichen Wegbuch werden. So verstehe ich meine Aufgabe: Worte vorzulegen, damit andere Menschen sich darin wiederfinden können und so durch Bestärkung und allenfalls Widerstände ihren ureigenen Erfahrungen trauen.
Drei Grundhaltungen sind mir in dieser Spiritualität wichtig geworden:
Wahrnehmen, was ist, um darin die göttliche Spur zu erkennen. Ich frage mich also nicht zuerst, wie ich sein sollte und was ich noch alles tun müsste, sondern ich versuche, Tag für Tag meinen kraftvollen und widersprüchlichen Erlebnissen zu trauen. Dazu brauchen wir Innehalten, Zurück-Treten aus dem Alltag, um in und aus der Tiefe zu vernehmen, was uns bewegt, verunsichert, bestärkt, beängstigt. Dies kann in der Stille und auch in der Bewegung – beim Spaziergang, im Sport zum Beispiel – geschehen. Wir gehen in eine Lebensschule der Achtsamkeit, der Aufmerksamkeit.
Als Ermutigung bringe ich in diesem Schritt meine persönlichen Erfahrungen ein, damit auch du als Leserin und als Leser nicht zu weit suchst, nicht ein Leben lang auf die große Erleuchtung wartest, sondern in deinem ganz persönlichen Weg, im ganz Alltäglichen das Wunderbare erkennst.
Ein spiritueller Weg öffnet weite Räume der Verbundenheit und nährt die Erinnerung, dass ich nie Einzelne oder Einzelner bin, sondern immer Teil eines Ganzen. Die ausgewählten mystischen Texte laden dich ein, dich zu verwurzeln, um das Verbindende in deinen Erfahrungen zu erkennen, ohne dabei die Verschiedenheit aufzuheben. Keine einfachen Texte sind das. Sei nicht erstaunt, wenn du beim ersten Lesen befremdet bist, nicht verstehst. Mir geht es oft so, obwohl ich seit Jahren intensiv mystische Texte meditiere. Dabei komme ich mir wie ein Archäologe vor, der Schicht um Schicht abbaut, um zum Kern, zum kostbaren Ursprünglichen, zum Schatz vorzustoßen. Mystikerinnen und Mystiker waren wie wir Kinder ihrer Zeit, geprägt vom jeweiligen Menschen- und Gottesbild. Angesichts der Inquisition mussten sie beispielsweise klug wie die Schlangen sein und sich schützen in ihren schriftlichen Äußerungen. Trotzdem ließen sie sich nicht abhalten, ihren inneren Bildern und ihrer Intuition zu trauen und sie auszudrücken, als bleibendes Zeugnis und als Ermutigung für jede und jeden von uns.
Nimm dir also Zeit für diese Lebensweisheiten, lies sie dir und anderen mehrmals laut vor. Falls dich ein Text anspricht, berührt, herausfordert, schreib ihn in deiner Handschrift ab, trag ihn mit dir herum, lies ihn immer wieder, lege ihn vor dich hin zu Hause, am Arbeitsplatz, damit du dir Wesentliches aneignen kannst: nicht als Kopie, sondern als Bestärkung, ein Original zu bleiben!
Komme ins Gespräch mit anderen, in der Familie, im Freundeskreis. Gründe vielleicht eine Lesegruppe, um regelmäßig Texte zu lesen, zu meditieren, zu besprechen.
Ein mystischer Weg lebt von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Leben und seinen brennenden Fragen. Ein mystischer Weg taucht ein in den Lebensfluss, lässt sich berühren vom Glück, von Zärtlichkeit und vom Staunen. Mystische Erfahrungen sind für mich jene Erfahrungen, in denen Raum und Zeit wie aufgehoben erscheinen, ich denen ich spüre, wie mich das Wesentliche übersteigt, wie ich zwischen Erde und Himmel stehe. Ein mystischer Weg ist ein Erfahrungsweg, um dem Unsagbaren einen Ausdruck zu verleihen. Meine Meditationstexte stehen für diesen inneren Vollzug, der ansteht nach dem Wahrnehmen dessen, was ist und dem Verwurzeln in uralten Texten. Das leere weiße Blatt am Ende jedes Kapitels will kraftvolles Symbol sein für diese Wirklichkeit. Im mystischen Paradox: Nach all den Worten lass die Leere auf dich wirken, lass alles Gelesene los, um deine ureigene Ausdrucksweise zu finden. Das leere Blatt, das einlädt deine Fülle zu erkennen, indem du selber ein paar Worte schreibst, eine Zeichnung entstehen lässt, ein Bild hineinklebst, einigen Farben Raum schenkst ... in der Grundhaltung dieses Buches: Entfalte dich – gerade in und trotz der uns allen gemeinsamen Unvollkommenheit!
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