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Pädagogisches Neusprech
Zur Kritik aktueller Leitbegriffe
Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.)
Reihe: Pädagogik kontrovers
Kohlhammer
EAN: 9783170428096 (ISBN: 3-17-042809-8)
260 Seiten, kartoniert, 14 x 20cm, Mai, 2023
EUR 36,00 alle Angaben ohne Gewähr
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Rezension
Wer in Schule oder Hochschule arbeitet, kennt sie: diese Sätze, bei denen man spürt, dass sie viel sagen sollen – aber wenig bedeuten. „Lerngelegenheiten im multiperspektivischen Raum ermöglichen“, „individuelle Kompetenzprofile stärken“ oder „proaktive Teilhabeprozesse initiieren“ – Begriffe und Formulierungen wie diese prägen inzwischen viele pädagogische Diskurse, Fortbildungen und Curricula. Doch was steckt dahinter? Handelt es sich um gut gemeinte Differenzierung – oder um eine neue Form der sprachlichen Nebelkerze?
Genau hier setzt das von Karl-Heinz Dammer und Anne Kirschner herausgegebene Buch „Pädagogischer Neusprech“ an. Die beiden Herausgeber bringen ausgewiesene Expertise im Bereich der Bildungswissenschaften und Lehrkräftebildung mit und wissen, wovon sie sprechen – nicht nur aus theoretischer Perspektive, sondern auch mit Blick auf die Realität in Schule, Seminar und Universität. Ihre Zusammenstellung von Beiträgen vereint analytische Präzision mit einem erkennbaren Unbehagen an einer Sprache, die oft mehr verschleiert als erklärt.
Für Lehrkräfte, Schulleitungen, Referendare sowie Hochschulmitarbeitende ist dieses Buch ein Gewinn – gerade, weil es nicht nur Symptome beschreibt, sondern auch Hintergründe beleuchtet: Warum entstehen solche Sprachmuster? Welche Funktion erfüllen sie in bildungspolitischen und institutionellen Kontexten? Und wie wirkt sich das auf pädagogisches Handeln und die Kommunikation mit Lernenden, Eltern oder Kollegien aus?
Das Buch eignet sich hervorragend als Diskussionsgrundlage für Fortbildungen, Studienseminare oder hochschuldidaktische Workshops. Es liefert zahlreiche Textbeispiele, pointierte Analysen und kritische Reflexionen, die zum Innehalten und Weiterdenken einladen. Gleichzeitig regt es dazu an, die eigene Sprache zu überprüfen – nicht um auf Fachlichkeit oder Differenzierung zu verzichten, sondern um Verständlichkeit und Klarheit wieder stärker ins Zentrum zu rücken.
Fazit: „Pädagogischer Neusprech“ ist ein ebenso unterhaltsamer wie notwendiger Beitrag zur aktuellen Bildungssprache. Wer mit Sprache arbeitet – und das tun Lehrende täglich – findet hier eine anregende Lektüre, die mehr ist als bloße Sprachkritik: ein Plädoyer für mehr Substanz, weniger Floskel – und für eine Sprache, die wirklich etwas zu sagen hat.
Verlagsinfo
Als "Neusprech" bezeichnet George Orwell in seinem dystopischen Roman 1984 die politisch gesteuerte Umformung der Sprache, mit der die in ihr aufbewahrte Vergangenheit dem Vergessen anheimgegeben, also unsagbar gemacht werden soll. Um solche Um- und Überformungsprozesse - in diesem Fall pädagogischer Begrifflichkeiten und Problemdebatten - meist im Namen von "alternativlosen" Reformen geht es auch in diesem Band. Denn die gegenwärtige Umgestaltung der pädagogischen Praxis mit neuen, der Kritik per se entzogenen Vokabeln bedarf eines Perspektivenwechsels. Anders als bei Orwell lassen sich die "Neuankömmlinge" jedoch nicht auf eine manipulierende Instanz wie den "großen Bruder" zurückführen, sondern speisen sich aus ganz unterschiedlichen Quellen und Kontexten, die hier, in umgekehrter Blickrichtung, aufgedeckt und kritisch auf ihre ideologischen Funktionen und möglichen Konvergenzen hin analysiert werden. In diesem Sinne behandelt werden folgende Begriffe: Individualisierung, Selbststeuerung, Kompetenz Gender/Geschlecht, Resonanz, Achtsamkeit, Vielfalt/Diversität, Resilienz, Nachhaltigkeit und Evidenzbasierung.
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