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Eina andere Hermeneutik Georg Misch zum 70. Geburtstag - Festschrift aus dem Jahr 1948
Eina andere Hermeneutik
Georg Misch zum 70. Geburtstag - Festschrift aus dem Jahr 1948



Transcript
EAN: 9783899422726 (ISBN: 3-89942-272-4)
359 Seiten, kartoniert, 13 x 23cm, 2005

EUR 29,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
1948 sollte zum 70. Geburtstag von Georg Misch eine von seinen Schülern organisierte Festschrift erscheinen. Sie lag im Druckstock vor, wurde aber nicht veröffentlicht. Für die Situation der Philosophie in Deutschland nach 1945 ist dies aufschlussreich. Misch und seine Schüler hatten eine gegenüber Heidegger radikal andere Hermeneutik entwickelt, die nach 1933 verdrängt wurde und nach 1945 nicht mehr in der philosophischen Öffentlichkeit Fuß fassen konnte. In den Beiträgen von Bollnow, Plessner, König, Groethuysen, Snell u.a. wird das radikal Andere deutlich: Sprache trifft auf Sein nicht in einem transdentalen Selbstgespräch, sondern Miteinandersprechen ist Sein als dessen Ausdruck.
Rezension
Im deutschsprachigen Raum wird mit Hermeneutik überwiegend der Name „Hans-Georg Gadamer“ mit seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ assoziiert. Dabei wird übersehen, dass sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts neben der ontologischen Variante einer hermeneutischen Philosophie, d. h. hermeneutischen Grundlegung der Philosophie, wie sie von Martin Heidegger und seinem Schüler Gadamer konzipiert wurde, eine lebensphilosophische Richtung hermeneutischer Philosophie herausbildete. Diese im Umkreis der Universität Göttingen ansässige philosophische Richtung rekurrierte auf den Begründer nicht-metaphysischer „hermeneutischer Philosophie“ Wilhelm Dilthey. Vertreten wurde diese andere Hermeneutik von Diltheys Schwiegersohn Georg Misch, seinen Schülern Otto Friedrich Bollnow und Josef König sowie von Helmuth Plessner, Hans Lipps und Bernhard Groethuysen.
Zum 70. Geburtstag 1948 von Georg Misch, der aufgrund der nationalsozialistischen Politik 1939 nach England ausreiste, sollte die von seinen Schülern Josef König und dem Philologen Bruno Snell herausgegebene Festschrift erscheinen. Aufgrund der Währungsreform und der Politik der Verlage kam es nicht zu dieser Publikation. Michael Weingarten, Philosophiedozent an der Universität Marburg, kommt das Verdienst zu, diesen „Schatz“ hermeneutischer Philosophie im Jahre 2005 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Der Band enthält neben einem Wiederabdruck einer Rezension von Groethuysen zu Mischs Buch „Der Weg in die Philosophie“(1926) zahlreiche Beiträge, die hermeneutisches Arbeiten und Philosophieren demonstrieren.
In einem Nachwort umreißt der Herausgeber Weingarten das „Hermeneutik-Konzept der Göttinger Lebensphilosophie“ (S. 349) im Unterschied zum fundamentalontologischen Ansatz von Heidegger. Der zu Unrecht marginalisierte Philosoph Misch versteht „Hermeneutik als Tätigkeitstheorie“(S. 349), mit anderen Worten der Interpret hat keinen festen vor sich existierenden Gegenstand, sondern dieser wird erst durch die Vergegenständlichung konstituiert. Durch diese gegenstandskonstitutive Bedeutung von Sprache unterscheidet sich das Hermeneutik-Verständnis von Misch radikal von dem Heideggers, was der Göttinger Philosoph in seinem Buch „Lebensphilosophie und Phänomenologie“(1930) elaborierte. Misch arbeitete zudem an der Grundlegung einer hermeneutischen Logik, auf die Bollnow in seiner hermeneutischen Philosophie rekurrierte und die erst Mitte der 1990er Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. König entwickelte in seinen Schriften den Ansatz seines Lehrers fort, zum Beispiel in seinem Aufsatz über den „logischen Unterschied theoretischer und praktischer Sätze“, der auch in der Misch-Festschrift zu finden ist.
Der Begründer moderner philosophischer Anthropologie Plessner erläutert in seinem Beitrag für Misch „Mit anderen Augen“ die „konstitutive Bedeutung“ der Anschauung: „wir nehmen nur das Unvertraute wirklich wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig.“ (S. 203) Dabei setzt er sich auch mit dem gegenüber der Diltheyschen Lebensphilosophie erhobenen Vorwurf des Wertrelativismus auseinander (vgl. S. 210-212). Von pädagogischem Interesse ist der Aufsatz von Erich Weniger über „Bildung und Persönlichkeit“. Zu Beginn seines Textes geht Weniger auf den Unterschied zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Begriffen ein. Ausdrücklich unterstreicht der Göttinger Pädagoge die „Notwendigkeit einer wirklichen Allgemeinbildung“ (S. 320), betont aber wie Theodor Litt und Otto Friedrich Bollnow, dass diese Bildung-Konzeption sich nicht an dem seiner Ansicht nach einseitig ästhetischen „Persönlichkeitsideal des deutschen Idealismus“ (S. 320) orientieren könne.
Diese hier angeführten Beispiele demonstrieren, dass die jetzt vorliegende Festschrift zahlreiche zur philosophischen Reflexion anregende Beiträge enthält. Das zum 40. Todestag erschienene Buch aus dem transcript Verlag belegt zudem eindrücklich die Aktualität hermeneutischen Philosophierens.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
7 Zur Edition
Von Michael Weingarten

Die Festschrift

17 Vorwort
Von Josef König und Bruno Snell
18 Schiller und die Empfindsamkeit
Von Elisabeth Blochmann
37 Der Goldene Topf. Bemerkungen zum romantischen Weltbild des E.T.A. Hoffmanns
Von Otto Friedrich Bollnow
53 Volk und Fürst im „Frohen Einzug“. Ein Beispiel aus Brabant zur Frage des Widerstandsrechtes
Von Leo Delfos
76 Über einen Reimspruch Goethes
Von Eberhard Fahrenhorst
90 Der Weg zur Philosophie
Von Bernhard Groethuysen
99 Über Erwartungsvorstellungen
Von Albert Grote
119 Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung
Von Josef König
198 Mit anderen Augen (Über die Rolle der „Anschauung“ im Verstehen)
Von Helmuth Plessner
213 Zur Logik der Lehre vom Raum
Von Kurt Reidemeister
222 Der Gegebenheit des fremden Seelischen
Von Herman Schmalenbach
264 Menschliches und göttliches Wissen bei frühgriechischen Dichtern und Denkern
Von Bruno Snell
281 Über den Begriff „Seele“
Von Herta Snell
298 Über „schöpferische Kopien“
Von Wolfgang Stechow
308 Bildung und Persönlichkeit
Von Erich Weniger

Anhang
323 Bibliografie Georg Misch
Von Gudrun Kühne-Bertram
348 Spuren einer anderen Hermeneutik – Hermeneutik als Tätigkeitstheorie
Von Michael Weingarten