lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Der Boxer Die wahre Geschichte des Hertzko Haft
Der Boxer
Die wahre Geschichte des Hertzko Haft




Reinhard Kleist

Carlsen
EAN: 9783551786975 (ISBN: 3-551-78697-6)
176 Seiten, hardcover, 17 x 25cm, Juni, 2012

EUR 16,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Hertzko Haft war keine 16 Jahre alt, als der Leidensweg durch die Arbeits- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten seinen Anfang nahm, der ihn schließlich nach Auschwitz führte. Zur Belustigung von SS-Offizieren musste der polnische Jude hier gegen Mithäftlinge boxen - umgeben von Unmenschlichkeit, Gewalt und Tod blieb ihm keine andere Wahl, als zu gewinnen.



Reinhard Kleist hat die verstörenden Lebenserinnerungen von Hertzko Haft in einer packenden und vielschichtigen Graphic Novel zu Papier gebracht. Von den traumatisierenden KZ-Erlebnissen über seine dramatische Flucht und die Wirren der Nachkriegszeit bis hin zum Neuanfang in den USA, wo Haft als Profiboxer auch gegen den legendären Rocky Marciano antrat, zeichnet "Der Boxer" das Portät eines Überlebenden jenseits aller Normen.



"Einen besseren grafischen Biografen konnte er sich kaum wünschen." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Rezension
Die wahre Geschichte des Hertzko Haft wäre fast nicht erzählt worden: Haft ist so stark traumatisiert von den Erlebnissen seiner Jugend, dass er erst etwa sechzig Jahre später seinem ältesten Sohn davon erzählen kann. Dieser veröffentlicht die Geschichte im Buch "Eines Tages werde ich alles erzählen. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft". Das Buch wurde von Reinhard Kleist in Form einer Graphic Novel künstlerisch gestaltet und steht nun auf der Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2013 in der Sparte Sachbuch.

Was ist das für eine Geschichte, die nicht nur den Protagonisten sprachlos macht? Hertzko erlebt als jüdischer Junge in Polen die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Er wird deportiert und durchläuft mehrere Arbeits- und Vernichtungslager. Dort durchleidet er schwerste körperliche Arbeit, nagenden Hunger und willkürliche Gewalt. Eine seiner Aufgaben besteht darin, die Leichen der Ermordeten im Krematorium zu verbrennen. Eines Tages erhält er eine neue Aufgabe: Zur Unterhaltung der Wachen soll er gegen andere Gefangene boxen. Als Sieger erhält er Sonderrationen, doch er erkennt sogleich, dass der Unterlegene spurlos verschwindet, also sicherlich von den Nazi-Aufsehern ermordet wird. Die Schaukämpfe sind in Wahrheit ein Kampf auf Leben und Tod. Das gilt auch, als er als Gegner einem Profiboxer mit Meistertitel gegenübersteht. Schwer verletzt kann er sich kaum noch auf den Beinen halten, und doch gelingt es ihm schließlich, den Gegner zu besiegen. Kurz vor dem Kriegsende wird das Lager geräumt und die Gefangenen in Todesmärschen verlegt; Hertzko gelingt die Flucht. Nach dem Krieg sucht er seine Familie, doch nur einer seiner Brüder hat überlebt, und von seiner Jugendliebe Leah findet er keine Spur.

Im zweiten Teil des Buches wandert Hertzko nach Amerika aus. Hier erhofft er sich ein neues Leben, und vielleicht ist ja auch Leah die Auswanderung gelungen? Hertzko, fast ein Analphabet und ohne jede Ausbildung, nutzt seine Erfahrung als Boxer und schlägt eine Profikarriere ein. Höhepunkt ist ein Kampf gegen den noch unbesiegten Rocky Marciano - Hertzko hofft nicht nur auf Sieg, Preisgeld und Ruhm, sondern auch darauf, so bekannt zu werden, dass Leah von ihm hört und ihn findet. Kurz vor dem Kampf wird er von mehreren zwielichtigen Männern bedroht: Er soll den Kampf nur fingieren und absichtlich verlieren, sonst werde er wie ein anderer Boxer den Tag nicht überleben. Diese Drohungen der Mafia rufen in Hertzko die Erinnerungen an die Kämpfe unter den Augen der SS-Offiziere wach. Ob ihn nun das Aufleben dieser traumatischen Situation lähmt, ob er aus Selbsterhaltungstrieb den Drohungen nachgibt oder ob Rocky tatsächlich einfach besser ist, erfahren wir nicht; wir sehen nur das Ergebnis: Hertzko geht zu Boden und verliert. Der Traum des neuen, besseren Lebens ist ausgeträumt; er gibt die Boxkarriere auf. Hertzko sucht sich Arbeit in einer Fabrik, er heiratet ein jüdisches Mädchen, bekommt drei Kinder und eröffnet schließlich einen Gemüseladen, wie es der Wunsch seines Vaters gewesen wäre.

Nach außen ist der amerikanische Traum wahr geworden, Hertzko hat ein neues Leben begonnen. Doch das alte lässt ihn nicht los. Die Erinnerungen bedrücken ihn, er ist jähzornig und schlägt seine Familie. Eines Tages erhält er einen Anruf: Leah hat überlebt, ist gleichfalls nach Amerika ausgewandert, hat geheiratet und lebt nun unter ihrem neuen Familiennamen in Miami. Ohne Erklärung fährt Hertzko mit seiner Familie zu einem Urlaub in Leahs neue Heimat; einzig sein ältester Sohn Alan soll ihn bei der Suche begleiten und ihm helfen. Tatsächlich findet er Leah, doch sie hat Krebs und steht kurz vor dem Tod. Leah verabschiedet sich auf Jiddisch mit den Worten: "Ikh hob dikh keynmol nit fargesn." Auf dem Rückweg bricht der harte Hertzko zusammen. Seinem Sohn, der die Situation nicht verstehen kann, verspricht er: "Eines Tages werde ich dir alles erzählen." Das Buch endet mit einem Bild, dass die Einsamkeit und Verlassenheit des Vaters veranschaulicht, und mit den Worten: "Es dauerte vierzig Jahre, bis mir mein Vater schließlich seine Lebensgeschichte erzählte."

Noch ein Buch über die Nazizeit, die mittlerweile schon so lange vorbei ist - hat es uns wirklich noch etwas Neues zu sagen? Auf jeden Fall. Da ist zum einen die vergessene und verdrängte Geschichte des Sports in den KZs - Boxen, Handball oder Fußball. Ein Nachwort von Martin Krauß trägt hier Informationen über das Boxen im KZ zusammen. Wichtig ist das Buch auch, weil es die authentische Sicht eines Zeitzeugen widergibt, und die sterben nun aus. Wenn Hertzko Haft seinem Sohn nach Jahrzehnten seine Lebensgeschichte erzählt, ist diese sicherlich kein objektiver Bericht, sondern eine ganz persönliche Sichtweise, zu der auch Brüche und Erinnerungslücken gehören. Das Buch von Alan Hertzko hat seinen Wert nicht als neutrale Darstellung, sondern als subjektive Biographie. Und hier füllt es auch eine Lücke, die fiktive Geschichten oft hinterlassen: Häufig wird der Jude als das arme, unschuldige, sympathische Opfer dargestellt. Hertzko dagegen ist ein lebendiger Mensch, und er hat sehr unterschiedliche Charakterzüge. Schon als Schulkind, wenn er den faschistischen Lehrer schlägt, zeigt sich das: Er hat ein großes Gerechtigkeitsempfinden, aber er ist auch jähzornig. Im KZ kollaboriert er mit einem Nazi, um zu überleben; wenn er gegen halb verhungerte Gegner antritt und sie besiegt, verurteilt er sie damit zum Tod. Das wird sachlich berichtet, denn Seelenqualen kann sich Hertzko nicht leisten: Er muss seine Schuldgefühle verdrängen, um zu überleben. Dss Opfer muss zum Täter werden. Verständnis für einen früheren Nachbarn, der sein Überleben als Kapo sichert, bringt er dennoch nicht auf. Die Charakterzeichnung mit all den unausgesprochenen Widersprüchen macht das Buch lebendig. Last not least: Die künstlerische Darstellung von Kleist zeigt mit den kleinformatigen Szenen in Schwarz-Weiß nicht nur die objektive Situation, sondern sie spiegelt auch die subjektiven Gefühle und veranschaulicht das Grauen, das Hertzko noch Jahre danach verfolgt. Kleist bringt die Geschichte in eine Form mit Rahmenhandlung, in der in einem Vorspiel aus Alans Perspektive eine Autofahrt mit seinem Vater gezeigt wird. Der erste Teil zeigt Hertzkos Leben während der Nazizeit, der zweite sein Leben in Amerika, der dritte die Begegnung mit seiner Jugendliebe. Er endet mit der Autofahrt, die nun im Wissen um Hertzkos Geschichte in einem ganz anderen Licht erscheint. Alan kann seinen Vater nicht verstehen, er erlebt ihn als grausam und gewalttätig. Der Leser, der die Hintergründe nun kennt, kann Empathie mit Hertzko aufbringen.

Wegen der Bedeutung seiner Botschaft und auch wegen der besonders für Jugendliche so ansprechenden Form sehr zu empfehlen.

M. Houf für www.lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Reinhard Kleist erzählt das unglaubliche, aber wahre Leben des jüdischen Boxers Hertzko Haft, der im Konzentrationslager von seinen Bewachern zum Faustkampf gezwungen wurde und daraus seine Überlebensstrategie machte. Nachdem Reinhard Kleist mit "Cash" und "Castro" bereits zwei sehr erfolgreiche grafische Biografien gezeichnet hat, geht er nun einen Schritt weiter. Mit "Der Boxer" hat er sich an sein bisher schwierigstes Thema gewagt und herausgekommen ist seine spannendste Graphic Novel.