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Bildwissenschaft und Visual Culture
Bildwissenschaft und Visual Culture




Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hrsg.)

Reihe: Basis-Scripte. Reader Kulturwissenschaften


Transcript
EAN: 9783837622744 (ISBN: 3-8376-2274-6)
352 Seiten, paperback, 15 x 23cm, Dezember, 2014

EUR 24,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In den letzten Jahren wurde nicht nur ein »iconic« oder »visual turn« diagnostiziert, sondern es entstanden mit der Bildwissenschaft und den Visual Culture Studies gleich zwei neue interdisziplinäre Forschungsbereiche.

Dieser Band unternimmt erstmals eine repräsentative und kommentierte Zusammenstellung zentraler Texte dieser innovativen Theoriefelder, die sich vor allem auch an den Bedürfnissen von Studium und Lehre orientiert.

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert:

1. Iconic und Pictorial Turn (u.a. W.J.T. Mitchell, Gottfried Boehm)

2. Bildtheorien (u.a. Bernhard Waldenfels, Nelson Goodman)

3. Visual Culture (u.a. Irit Rogoff, Nicholas Mirzoeff)

4. Zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft (u.a. Aby Warburg, Horst Bredekamp)

5. Bilder zwischen Wahrnehmungs- und Wissenschaftsgeschichte (u.a. Jonathan Crary, Lorraine Daston/Peter Galison).



Marius Rimmele (Dr.) ist Senior Researcher im Nationalen Forschungsschwerpunkt Mediality an der Universität Zürich.

Klaus Sachs-Hombach (Prof. Dr.) ist Professor für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Medieninnovation und Medienwandel an der Universität Tübingen.

Bernd Stiegler (Prof. Dr.) ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz.
Rezension
Die Bildwissenschaften sind z.Zt. en vogue; denn der sog. iconic turn in der Postmoderne hat die Vorherrschaft des Wortes durch die Vorherrschaft des Bildes abgelöst und das sog. Ende der "Gutenberg-Galaxie" eingeleitet. Bilder zu verstehen ist mithin eine Hauptaufgabe der Gegenwart. Dieser Band "Bildwissenschaft und Visual Culture" aus der informativen Reihe "Basis-Scripte. Reader Kulturwissenschaften" vereinigt einen Reader mit klassischen Schlüsseltexten zu diesem zentralen und aktuellen Wissensgebiet "Visual Culture" innerhalb der Kulturwissenschaften, eine repräsentative Auswahl der einschlägigen, gegenwärtig diskutierten Texte zur Bildwissenschaft u.a. von Aby M. Warburg, Hans Belting, Horst Bredekamp, Bernhard Waldenfels und W.J.T. Mitchell. Damit liegt erstmals eine repräsentative und kommentierte Zusammenstellung zentraler Texte zu den interdisziplinären "Visual Culture Studies" vor.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Die Reihe Basis-Scripte. Reader Kulturwissenschaften vereinigt Reader mit klassischen Schlüsseltexten zu den zentralen und aktuellen Wissensgebieten innerhalb der Kulturwissenschaften. Mit dieser für den deutschsprachigen Raum einzigartigen Reihe liegt ein reichhaltiger Fundus des Wissens für die akademische Lehre und darüber hinaus vor.
Jeder Band wird von renommierten Spezialistinnen und Spezialisten des Fachs herausgegeben und enthält eine repräsentative Auswahl der jeweils einschlägigen, gegenwärtig diskutierten und kanonischen Texte, die um nützliche Hilfsmittel wie Kommentare, Einführungen und Bibliographien ergänzt werden. Dies ermöglicht einen fokussierten Einstieg in die wichtigsten Fragestellungen – zugleich eröffnet sich ein vielfältiges Panorama unterschiedlichster Perspektiven.
Jeder Band besteht aus ca. 15 grundlegenden Texten zum Thema und ist damit auf den Umfang eines Semesters zugeschnitten. So wird ein schneller und kompetenter Zugriff auf jene Theorieansätze möglich, die in vielen Disziplinen heute – oft auch über die eigenen Fächergrenzen hinaus – diskutiert werden.
Die Reihe wird herausgegeben von Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Marius Rimmele/Klaus Sachs-Hombach/Bernd Stiegler | 9

I. Iconic und Pictorial Turn

Einführung | 15

1. Ein Briefwechsel
Gottfried Boehm und W.J.T. Mitchell | 19

2. Der Pictorial Turn
W.J.T. Mitchell | 41

3. Jenseits der Sprache?
Anmerkungen zur Logik der Bilder
Gottfried Boehm | 67

II. Bildtheorien

Einführung | 83

4. Sprachen der Kunst
Nelson Goodman | 89

5. Ordnungen des Sichtbaren
Bernhard Waldenfels | 111

6. Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung
Richard Wollheim | 131

III. Visual Culture Studies

Einführung | 149

7. Studying Visual Culture
Irit Rogoff | 155

8. Sexuality Disrupts. Measuring the Silences
Nicholas Mirzoeff | 171

9. Practices of Looking: An Introduction to Visual Culture
Marita Sturken and Lisa Cartwright | 187

IV. Zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft

Einführung | 207

10. Das Schlangenritual. Ein Reisebericht
Aby M. Warburg | 213

11. Medium — Bild — Körper: Einführung in das Thema
Hans Belting | 235

12. Kunsthistorische Erfahrungen und Ansprüche
Horst Bredekamp | 261

V. Bilder zwischen Wahrnehmungs- und Wissenschaftsgeschichte

Einführung | 277

13. Die Modernisierung des Sehens
Jonathan Crary | 281

14. Schauen, Sehen, Wissen
Ludwik Fleck | 295

15. Photographie als Wissenschaft und als Kunst
Lorraine Daston und Peter Galison | 317


Biografien | 333

Register | 337



Leseprobe:

MARIUS RIMMELE/KLAUS SACHS-HOMBACH/BERND STIEGLER
Vorwort

Bilder waren lange Zeit vor allem der angestammte Untersuchungsgegenstand der
Kunstgeschichte, die komplexe Methoden und Theorien entwickelt hat, wie diese zu
interpretieren seien. Diese Deutungshoheit hat sich in den letzten Jahrzehnten in bemerkenswerter
Weise verändert. Mit den Bildwissenschaften und den Visual Culture
Studies haben sich zwei neue Disziplinen herausgebildet, die durchaus in dezidierter
Absetzung von der Kunstgeschichte in neuer Weise Bilder zu denken und zu verstehen
suchen. Auch im Bereich der Geschichtswissenschaft hat die Visual History ein eigenes
Untersuchungsfeld eröffnet, und nicht zuletzt beschäftigt sich auch die noch junge,
aber mittlerweile institutionell fest etablierte Medienwissenschaft mit der Geschichte
und Theorie der Bilder. Bilder sind, so kann man feststellen, everybody’s darling in den
Wissenschaften, und das von den Geistes-, über die Gesellschafts- bis zu den Naturwissenschaften.
Daher auch die Rede vom iconic, visualistic oder pictorial turn, der
seit Ende des letzten Jahrhunderts diagnostiziert oder ausgerufen wird.
Dieser Band stellt aus dem breiten Panorama möglicher theoretischer Ansätze und
Disziplinen einige zentrale Bereiche in ausgewählten programmatischen Texten vor. Der
erste der fünf Themenblöcke gilt dem Iconic und Pictorial Turn und beginnt mit einer
programmatischen Bestandsaufnahme und Positionierung der Bildwissenschaften und
Visual Culture Studies. Gottfried Boehm und W.J.T. Mitchell haben Ende des 20. Jahrhunderts
unabhängig voneinander den iconic bzw. pictorial turn ausgerufen, daran aber
sehr unterschiedliche Theorien geknüpft. In einem kurzen Briefwechsel rekapitulieren
sie ihre eigene Position und setzen sich zugleich in subtiler Ironie von der jeweils anderen
ab. Bereits in den knappen Briefen wird dabei deutlich, dass Boehm und Mitchell
als durchaus paradigmatische Vertreter der Bildwissenschaften bzw. Visual Culture
Studies auf sehr unterschiedliche historische Kontexte rekurrieren und divergierende
interpretatorische Temperamente und theoretische Referenzen haben. Allgemeiner gefasst:
Während die Bildwissenschaften vor allem im deutschen Sprachbereich angesiedelt
sind, entstammen die Visual Culture Studies dem angloamerikanischen. Und während
jene insbesondere eine philosophische Grundierung haben, zeichnen sich diese
durch einen dezidiert kulturkritischen Zug aus. Auch hinsichtlich ihrer Gegenstände gibt
es signifikante Unterschiede. Die Bildwissenschaften versuchen eine grundlegende
Theorie des Bildes zu entwerfen und fragen nach der Funktion, der Verwendung und den
Bildpraktiken in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen unter Berücksichtigung
ihrer historischen wie epistemologischen Besonderheiten. Die Visual Culture Studies
hingegen unternehmen eher eine Kritik der Bilder, der gesellschaftlichen Bildpraktiken
und ihrer Verflechtungen in postkoloniale, gender- oder machttheoretische Aspekte.
Daher resultiert auch eine unterschiedliche historische Orientierung: Während die Bildwissenschaft
entweder systematisch, sprich überzeitlich, oder historisch ausgerichtet
ist, verstehen sich die Visual Culture Studies zuallererst als Kritik der zeitgenössischen
Bildkulturen. Ihre Aufmerksamkeit gilt daher vor allem der Gegenwart. Ein letzter, aber
entscheidender Unterschied liegt in dem jeweiligen Gegenstandsbereich: Während die
Bildwissenschaften sich auf Bilder konzentrieren, geht es den Visual Culture Studies
um das deutlich weitere Feld des Visuellen, um visuelle Kulturen.
Gottfried Boehm hat mit dem Titel seines Aufsatzes »Jenseits der Sprache«, der
am Ende des ersten Themenblocks steht, zugleich eine Art Programmformel für seine
theoretische Position gefunden. Bilder werden als eine andere Art des Denkens
aufgefaßt, die sich dezidiert von der konstatierten Hegemonie der verbalen Sprache
absetzt. Sein Ansatz verdankt entscheidende Impulse der hermeneutisch-phänomenologischen
Tradition. Dieser philosophische Horizont der Bildwissenschaft wird im
zweiten Themenblock Bildtheorien weiter geöffnet. Mit Bernhard Waldenfels, Richard
Wollheim und Nelson Goodman werden drei grundlegende und aus unterschiedlichen
philosophischen Traditionen stammende Positionen vorgestellt, die jeweils spezifische
Deutungsoptionen bieten.
An die von W.J.T. Mitchell vertretene Position knüpfen hingegen die drei Texte des
dritten Themenbereichs Visual Culture an: vorgestellt werden wichtige Positionen der
Visual Culture Studies. Nicholas Mirzoeff bzw. Lisa Cartwright und Marita Sturken, die
hier ausgewählt wurden, haben jeweils einflussreiche Einführungen dieses neuen Wissenschaftsfeldes
publiziert, in dem wiederum Irit Rogoff eine prominente Rolle spielt.
Die drei Texte profilieren den ideologiekritischen und interventionistischen Zugriff der
Visual Culture Studies und machen somit deutlich, dass die Frage nach der Visualität
ein erhebliches kulturpolitisches Potential hat.
In anderer Weise als Gottfried Boehm haben Hans Belting und Horst Bredekamp,
die beiden anderen Vertreter des deutschsprachigen Bildwissenschaften-Kleeblatts,
Bilder in ihrer anthropologischen bzw. handlungstheoretischen Dimension zu deuten
versucht. Der mit Zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft überschriebene Teil
stellt ihre Positionen neben jener Aby Warburgs vor, dessen Arbeiten zu Beginn des 20.
Jahrhunderts die Kunstgeschichte über den ihr angestammten Bereich hinaustreiben
und weitgehende kultur- und bildtheoretische als auch anthropologische Fragehorizonte
eröffnen. Hans Beltings Bild-Anthropologie, die mit einem programmatischen Text
vorgestellt wird, versucht dieses Forschungsfeld mitsamt seinen theoretischen Grun-
dierungen zu bestimmen und begrifflich zu kartographieren. Während Belting ein auch
methodisch-theoretisch interdisziplinäres Feld vorschwebt, plädiert Horst Bredekamp
hingegen für eine Neubetrachtung und Neuausrichtung der Kunstgeschichte als genuine
Bildwissenschaft.
Der fünfte und letzte Teil fragt nach der Funktion der Bilder zwischen Wahrnehmungs-
und Wissenschaftsgeschichte und versammelt zwei unterschiedliche theoretische
Perspektivierungen. Während Jonathan Crary eher den Visual Culture Studies
zuzurechnen ist und in dieser Deutungstradition Wissenschaftsgeschichte als Wahrnehmungsgeschichte
zu verstehen versucht und dabei auch kulturtheoretische und
-kritische Fragen aufnimmt, geht es dem polnischen Wissenschaftstheoretiker Ludwik
Fleck und den Wissenschaftshistorikern Lorraine Daston und Peter Galison um die prägende
Kraft der Bilder für die Wissenschaften. Bilder sind nicht nur Illustrationen von
Forschungen oder Teil von Untersuchungsmethoden, sondern prägen Kategorien und
Begriffe, Denkstile und Anschauungen, Deutungen und Theorien.
Die fünf Teile dieses Bandes können unabhängig voneinander gelesen werden,
bieten aber auch zahlreiche Verknüpfungsmöglichkeiten. Wenn man etwa die Positionen
von Boehm und Mitchell als exemplarisch für die Bildwissenschaften und Visual
Culture Studies begreift, so korrespondieren diese mit einer Reihe von Texten: Die
Überlegungen Boehms wären so etwa zu ergänzen durch die Bildtheorien, aber auch
die Positionen von Warburg, Belting und Bredekamp und nicht zuletzt auch durch die
wissenschaftshistorischen Texte. Mitchells anders akzentuierte Position hingegen wird
aufgenommen und ausgeführt von den Aufsätzen im Kapitel der Visual Culture Studies,
aber auch von Jonathan Crary. Andere Möglichkeiten, Querschnitte zu bilden,
wären etwa die Frage nach der Populärkultur, die in einigen Texten programmatisch
aufgenommen, in anderen hingegen ebenso programmatisch ausgeschlossen wird,
oder jene nach der Anthropologie, der Wahrnehmung, der Geschichte oder der Beziehung
von Bildern und Sprache. Auch wenn die ausgewählten Texte nur einen kleinen
Ausschnitt aus der Fülle an möglichen Positionen vorstellen können und daher nolens
volens wichtige ausblenden, beansprucht der Band gleichwohl den Leserinnen und Lesern
als Cicerone durch das verzweigte Reich der Bildtheorien eine erste Orientierung
zu verschaffen. Zur weiteren Erkundung werden am Ende jedes Kapitels fünfzehn weiterführende
Aufsätze und Bücher angegeben. Die Texte wurden redaktionell vorsichtig
überarbeitet und insbesondere Fußnoten vereinheitlicht. Kürzungen wurden durchweg
durch Auslassungszeichen kenntlich gemacht. Auf Abbildungen, die nicht unmittelbar
zum Verständnis der Ausführungen nötig sind, wurde mit Rücksicht auf das Volumen
dieses Bandes verzichtet. Auch das ist jeweils zu Beginn des jeweiligen Textes vermerkt.

Einführung

Die mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehene Wende zum Bild steht in größeren,
epochenübergreifenden Zusammenhängen. Obwohl sie ein spezielles Phänomen des
20. Jahrhunderts ist, besitzt sie dementsprechend eine längere Vorgeschichte. Als epochaler
Hintergrund der im vorliegenden Band versammelten Positionen und Theorien
ist die im 19. Jahrhundert zunehmend anerkannte Überzeugung bzw. Einsicht zu sehen,
dass das menschliche Selbst- und Weltverständnis medial vermittelt ist. Mediale Vermittlung
meint hierbei nicht nur, dass irgendein Medium nötig ist, um Welt zu erkennen
und Verständigung zu ermöglichen. Mediale Vermittlung meint auch, dass das Medium
einen Einfluss auf den zu vermittelnden Inhalt ausübt, das Vermittelte also durch die
Vermittlung geprägt wird. Als Fluchtpunkt dieser Gedanken kann die Spätphilosophie
Ludwig Wittgensteins (1889-1951) gelten, in der die Alltagssprache als bedeutungsbildendes
Medium beschrieben und theoretisch anerkannt worden ist. Wittgensteins
Gedanken bilden dabei auch eine wichtige Voraussetzung für die Wende zum Bild, die
erst zum Ende des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftlich sichtbare Gestalt erhält.
Eine solche Wende konnte es im 19. Jahrhundert noch nicht geben, weil zum einen
nur oder vor allem die Sprache als welterschließendes Medium galt und weil zum anderen
(von einigen Ausnahmen etwa in der Romantik abgesehen) selbst in Gestalt der
Sprache ein medialer Einfluss zunächst nicht oder nur indirekt thematisiert worden ist.
Auch der Logische Positivismus, der am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
eine ideale Wissenschaftssprache zu entwerfen versuchte, ist in dieser Weise
nur eine indirekte Thematisierung dieser Annahme. Dies ist so, weil er zwar den medialen
Einfluss der Sprache berücksichtigt hat, ihn durch die Konstruktion einer idealen
Sprache aber gerade ausschließen will. Daher erkennt er ihn also gerade nicht als eine
eigenständige Möglichkeit des symbolischen Ausdrucks und der Erkenntnis an. Dies
geschieht explizit und in zustimmender Weise erst mit dem so genannten linguistic turn.
Wenn nun die medialen Effekte der Sprache erkannt, reflektiert und gewürdigt werden,
so geschieht das in zwei unterschiedlichen Formen. Auf der einen – radikaleren –
Seite konstatieren einzelne Theorien einen linguistischen Relativismus, auf der anderen
– gemäßigteren – wird die Sprache zum Gegenstand der so genannten Philosophie der
normalen Sprache. Entscheidend ist dabei, dass die Wende hin zur Sprache auch jene
zum Bild vorbereitet. Denn vor diesem Hintergrund kann die Wende zum Bild als der Versuch
verstanden werden, die übergeordnete Wende zum Medium in allgemeinerer und
zugleich in speziellerer Form zu realisieren: in allgemeinerer Form, insofern die Sprache
nun als ein Medium unter anderen betrachtet wird, dessen historisch auszumachende
Dominanz als nicht gerechtfertigt erscheint bzw. einer Rechtfertigung bedarf; in speziellerer
Form, insofern insbesondere Bilder als wichtiges, bisher vernachlässigtes Medium
in den Blick geraten. Bilder sind, so konstatiert man nun, in vielen gesellschaftlichen
Bereichen nicht nur unverzichtbar, sondern ebenfalls bedeutungskonstituierend. Sie
können vielleicht sogar als das elementarere oder historisch ursprünglichere Medium
gelten, aus dem oder mit dem sich die natürlichen Sprachen erst entwickeln konnten.
Die Wende zum Bild ist also nicht nur der Hinweis, dass es verschiedene wichtige Medien
gibt, die bedacht werden sollten, sondern die Aufforderung, Bilder als ein spezifisches
Medium zu konzeptualisieren, dessen besondere Weise der Bedeutungsbildung,
und damit des Einflusses auf unser Welt- und Selbstverhältnis, bisher vernachlässigt
wurde und die es nun auch wissenschaftlich zu würdigen gilt.
Diese Einordnung der Wende zum Bild in den größeren epochalen Zusammenhang
eines medial turn kann durch den Hinweis auf diejenigen konkreten historischen Bedingungen
ergänzt werden, die den gesellschaftlichen und soziokulturellen Aufstieg der
Bilder bewirkt und befördert haben. Zu diesen Bedingungen zählen insbesondere die
(medien)technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die mit der Erfindung von
Fotografie und Film eine massenhafte Reproduktion der Bilder überhaupt erst ermöglicht
und schließlich extrem vereinfacht haben. Entsprechend ist die frühe Geschichte
der Medientheorie von Walter Benjamin (1892-1940) bis Marshall McLuhan (1911-
1980) auch in bevorzugter Weise mit diesen Bildmedien befasst gewesen.1 In ähnlicher
Weise verdankt sich auch die gegenwärtige digitale Verwendung von Bildern technologischen
Innovationen. Ohne die bis heute ungebremst rasanten Verbesserungen im Hardund
Softwarebereich wären auch die für diese erforderlichen intensiven Speicher- und
Rechnerkapazitäten nicht geschaffen worden. Die Dominanz des Visuellen zeigt sich
also keineswegs zufällig im Kontext unserer modernen westlichen Informations- und Mediengesellschaften, sondern ist Folge eben gerade ihrer technologischer Verfasstheit.
Die Einordnung der Wende zum Bild in den größeren Zusammenhang eines medial
turn lässt sich durch einen zweiten, systematisch orientierten Hinweis erläutern: Hochgradig
vernetzte Mediengesellschaften tendieren auch deshalb zum Bild, weil komplexe
Informations-, Steuerungs- und Organisationsformen in visueller Gestalt besonders
effektiv sind und ab einem gewissen Komplexitätsgrad in textlicher Gestalt auch gar
nicht mehr handhabbar wären. Obwohl eine unmittelbare Verständlichkeit von Bildern
zuweilen nur scheinbar besteht, stellen sie doch eine Reduktion der durch Vernetzung
zunehmenden Komplexität in Aussicht. Das gilt auf jeden Fall für reduzierte Bildformen,
wie sie etwa bei Piktogrammen und bestimmten Diagrammen vorliegen. Die damit einhergehende
Betonung des Visuellen in den modernen Informationsgesellschaften bewirkt
dann, dass alle gesellschaftlichen Angelegenheiten schließlich in visueller Gestalt
aufbereitet werden müssen, um in dieser medial wirksam zu werden bzw. überhaupt
noch wirksam werden zu können. Als Beleg hierfür können sowohl die Bemühungen um
Bildsprachen für die internationale Kommunikation als auch das Aufkommen moderner
Bilderstreite (siehe die Mohammed-Karikaturen oder die Fotografien aus dem Foltergefängnis
Abu-Ghraib) dienen.2 Diese den komplexen Informationsgesellschaften inhärenten
Visualisierungstendenzen führen derzeit dazu, dass selbst die traditionellen
Bereiche von Recht und Politik brüchig geworden sind und sich insbesondere das Verhältnis
von Öffentlichkeit und Politik zunehmend wandelt.
Die Aufsätze zu Beginn dieses Bandes dokumentieren vor allem die kulturwissenschaftlichen
oder kunstgeschichtlich inspirierten Reaktionen der 1990er Jahre auf die
zunehmende Bedeutung des Visuellen. In programmatischer Form sind damit die Namen
Gottfried Boehm und W.J.T. Mitchell verbunden. Der erste Text ist ein kurzer Briefwechsel
zwischen beiden Protagonisten, der zwar erst 2006 stattgefunden hat, in seiner rückblickenden
und reflektierenden Ausrichtung aber eine gute Einführung in die Überlegungen
gibt, die Jahre vorher zu den Bezeichnungen »iconic turn« (Boehm) bzw. »pictorial turn«
(Mitchell) geführt haben. Der Briefwechsel dokumentiert einerseits die gemeinsame Folie
beider Forscher – etwa ihre kritische Haltung dem linguistic turn gegenüber – macht
andererseits aber auch die Unterschiede zwischen ihnen deutlich. Die zentrale, hermeneutisch
orientierte Frage von Boehm besteht darin, wie Bilder Sinn erzeugen und worin
das Originäre einer solchen bildlichen Bedeutungskonstitution liegt. Kunstgeschichtlich
ist dies gegen die klassische Ikonographie bei Erwin Panofsky (1892-1968) gerichtet,
der Sinn über bildexterne Texte zu erschließen empfiehlt und diesen auf die dargestellten
Inhalte reduziert. Dagegen stellt Mitchell – eher kulturtheoretisch orientiert – die
Ikonologie in den Zusammenhang mit Ideologie und Ideologiekritik und verfolgt derzeit
die vitalistisch oder gar animistisch anmutende Frage danach, was Bilder »wollen«.3
Diese Positionen werden in zwei Aufsätzen von Boehm und Mitchell weiter konturiert,
in denen beide ihre Positionen in paradigmatischer Weise konkretisiert haben.
Mitchells Aufsatz »Pictorial Turn« erschien ursprünglich 1992 in Artforum, Boehms Text
»Jenseits der Sprache« in dem 2004 von Christa Maar und Hubert Burda herausgegebenen
Sammelband Iconic Turn. Gemeinsam ist beiden Aufsätzen wiederum eine
Frontstellung gegenüber dem linguistic turn bzw. gegenüber allen Auffassungen, die
der Sprache eine primäre oder dominante Funktion zuweisen und die Unvergleichbarkeit
der bildlichen Bedeutungskonstitution damit zu vernachlässigen scheinen. Die
Unterschiede zwischen beiden Positionen zeigen sich unter anderem in der positiveren
Sicht auf die semiotische Bildtheorie – vor allem von Charles Sanders Peirce (1839-
1914) und Nelson Goodman (1906-1998) –, die sich bei Mitchell findet. Auch die
stärkere Betonung ideologischer Momente ist eine durch den kulturellen Hintergrund
bedingte Eigenart Mitchells. Umgekehrt ist Boehm – sehr viel kontinentaler orientiert –
weniger an den pragmatischen Kontexten der Bildverwendung, sondern an den Bildern
selbst und an ihre eigentümlichen »Logik« interessiert, deren nicht-prädikative Sinnerzeugung
zur zentralen Größe avanciert.