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Rudolf Steiner  Ein moderner Prophet - Biographie
Rudolf Steiner
Ein moderner Prophet - Biographie




Miriam Gebhardt

Random House , DVA
EAN: 9783421044730 (ISBN: 3-421-04473-2)
368 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, 2011, mit Abbildungen

EUR 22,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Rudolf Steiner war ein charismatischer Mann mit vielen Talenten. Als er zum Gründer der Anthroposophie wurde, war er Ende dreißigund hatte schon ein bewegtes Leben und eine Karriere als Lehrer, Philosoph und Journalist hinter sich. Fast über Nacht verwandelte sich Steiner in einen modernen Propheten, der mit seinen Lehren wie kaum ein zweiter den Nerv seiner Anhänger traf - und bis heute trifft. In ihrer Biographie geht Miriam Gebhardt dem Phänomen Rudolf Steiner auf den Grund und gibt dabei zugleich inen tiefen Einblick in die schillernde Welt der Esoterik- und Lebensreformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.



DVA
Rezension
Äußerlich an Eisenbahn-Metaphorik (Steiners Vater war k.u.k. Bahnbeamter) in 6 entsprechende Teile gegliedert (vgl. Inhaltsverzeichnis) sucht diese Steiner-Biographie den schillernden Gründer der Anthroposophie wesentlich aus der Zeit heraus zu verstehen und zu deuten "als modernen Proheten" (Untertitel) - die Anthroposophie als ein Mosaikteilchen inmitten der Reformanstrengungen eines gebildeten Bürgertums gegen reale oder eingebildete Bedrohungen in der Moderne: Die Zergliederung des Menschen, des Wissens, der Arbeit und der Zeit forderte das bürgerliche Selbstverständnis in der Wilhelminischen Zeit heraus, weshalb man sich zu lebensreformerischen und moralischen Vereinigungen zusammenfand. Die Patentrezepte zur Heilung des Selbst und der Gesellschaft hießen: Vegetarismus und Antialkoholismus, Nudismus, Abwehr von Schmutz und Schund, körperliche Ertüchtigung, Kleiderreform, Rassenhygiene, gesundes Wohnen und Bauen, Reformkost, ganzheitliche Medizin oder Rationalisierung von Sexualität und Fortpflanzung.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Lebensreformer, Mystiker, Pädagoge - Wer war Rudolf Steiner?

Miriam Gebhardt widmet sich in ihrer Biographie dem Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, dem Esoteriker und Philosophen Rudolf Steiner. Gebhardt bettet Steiner in den Kontext seiner Zeit ein und verortet ihn in der Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Ausgestattet mit einem feinen Gespür für die Sorgen und Wünsche seiner Zeitgenossen, griff Steiner deren Sehnsüchte geschickt auf und goss daraus ein Sinnfindungsprogramm für das Bürgertum. Wie viele andere Propheten und Reformer wandte er sich den Themen zu, die den Menschen auf den Nägeln brannten: Erziehung, Gesundheit, Religion und die Rasanz des modernen Lebens. Aber wie kaum einem anderen gelang es ihm, bis in die Gegenwart zu wirken. Nicht nur Waldorfschulen erfreuen sich großer Beliebtheit, auch Lebens- und Pflegemittel aus anthroposophischer Produktion finden sich heute in fast jedem Supermarkt.
• 150. Geburtstag Rudolf Steiners am 27. Februar 2011
• Von Waldorf bis Demeter – Steiner wirkt bis heute
»Ein großes Plus des Buchs ist es ..., dass es Steiner und seine Lehre konsequent vor dem Hintergrund seiner Zeit erklärt.«
dpa (17.01.2011)

Miriam Gebhardt, geboren 1962, ist Historikerin und Journalistin. Neben ihrer journalistischen Arbeit unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT, den STERN und für Frauenzeitschriften promovierte sie in Münster und habilitierte sich an der Universität Konstanz, wo sie als Privat-Dozentin lehrt. Sie wohnt in München.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9

Teil I
Im Wartesaal

Das Karma des Propheten 21
Ein magisch veranlagtes Kind 24
Geometrie und das Wissen der Welt 38
Wider den Materialismus 48
Nachsozialisation im Kaffeehaus 56
Steiner und die Juden 63

Teil II
Signale

Okkultismus in Zeiten der Eisenbahn 79
Steiners Flaschengeister 95
Anna in Weimar 102
Der bewegte Mann 115
Höllenfahrt 130

Teil III
Im Stellwerk

Du verstehst mich 139
Höhere Einsichten 150
Ein charismatischer Redner 163
Ein reformsüchtiges Publikum 172
Konkurrenten 181

Teil IV
Mit Volldampf

»Das ist er!« 195
Der Kongress staunt 211
Abkopplung 220
Freie Bahn 225
Einsamer Feldzug 230
Anthroposophie für das ganze Leben 235
Späte Liebe 250

Teil V
Knotenpunkte

Revolutionsfeuer und Zigarettenrauch 259
Das Kind seiner Zeit 266
Zitternde Ehrfurcht vor dem geliebten Lehrer 288
Waldorfpädagogik heute 297
Versteinerung 304
Mit »geistigem Mist« gedüngt 308

Teil VI
Übergang

Letzte Reisen 321
Epilog 334
Der moderne Prophet 337

Anhang

Zeittafel 347
Anmerkungen 350
Auswahlbibliographie 360
Personenregister 361
Bildnachweis 365


Leseprobe:
EINLEITUNG
Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, konnte mit
den Toten sprechen. Sie gaben ihm Einblick in ihr Wissen,
und er kümmerte sich dafür um ihre Reinkarnationen. Wir
Normalsterblichen hingegen, die nicht so hellsichtig sind,
haben es schwerer. Eine Biographie über Rudolf Steiner zu
schreiben, ohne auf »karmisches Wissen« zurückgreifen zu
können, ist ein ehrgeiziges Projekt. Denn Steiner war ein
flüchtiger Prophet. Ungreifbar in jeder Hinsicht. Seine Familie
kam aus dem »Bandlkramerland« in Niederösterreich, einer
Gegend, in der die Menschen in Heimarbeit gefertigte Bänder
in Bündeln auf dem Rücken zu Markte trugen. Steiner wurde
auf seine Art auch ein Bandlkramer. Er war ein fahrender
Händler selbst gefertigter Wahrheiten. Aufgewachsen am
Schienenstrang der österreichischen Südbahn, der Vater ein
k. u. k. Bahnbeamter, verbrachte Steiner ein ganzes Leben auf
der Durchreise. Sechs Vorträge in drei Städten an drei Tagen,
das war ein typisches Pensum in seinem Prophetenleben. Nie
richtete er sich irgendwo ein oder gründete gar einen bürgerlichen
Hausstand.
So entwurzelt sein physisches Leben war, so wechselhaft
war sein Geist. Als Kind verzauberte ihn die Mathematik. Als
Student sollte er Realschullehrer werden, aber lieber trieb er
Philosophie. In seinen jungen Jahren wurde er Hauslehrer,
in seinen mittleren Goetheforscher. Er strebte eine akademische
Karriere an und endete als Lehrer an Liebknechts
Arbeiterbildungsschule. Erst mit Ende dreißig fand er zu seiner
eigentlichen Lebensthematik, der Anthroposophie. In
der vergleichsweise kurzen Zeit, die ihm dann noch blieb,
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formulierte er eine Kosmologie, eine Christologie, eine Meditationsschule,
die anthroposophische Medizin, die Eurythmie,
die biodynamische Landwirtschaft und – nicht zuletzt – die
Waldorfpädagogik.
All das, seine wechselvolle und dynamische Laufbahn, die
vielen Fragen, die er aufgriff und in seinen Händen zur alles
erklärenden Weltanschauung modellierte, macht Steiner
zu einem schwer fassbaren Protagonisten. Er hatte zu viele
Talente und Facetten. Das erkannten auch schon seine Zeitgenossen,
von denen sich etliche ereiferten über so viel Universaldilettantismus
und die »geradezu pathologische Gründerkühnheit
« eines »modernen Warenhausbesitzers«.
Doch trotz dieser Lebensfülle ist die Faktenlage zu seinem
wechselhaften Leben dünn. In seinen arg stilisierten
Selbstauskünften, verschlossen und verschleiernd, von den
Siegelträgern seiner Lehre beschützt, liegt dichter Nebel über
Rudolf Steiners Leben.1 Das beginnt bei ganz banalen Fragen
zu seiner Vita. Was löste den Umschwung in seiner Karriere
aus vom akademischen Prekariat hin zur freischaffenden Esoterik?
War es wissenschaftlicher Misserfolg, der ihn in die
Arme des Okkultismus trieb? Warum blieben seine beiden
Ehen kinderlos? Wollte er keine Kinder, oder war ihm Sex
zu »animalisch«?
Anthroposophen finden diese Fragen nicht wichtig, ja
eigentlich nicht einmal zulässig. »Wer schreibt schon eine
Biographie über Steiner? Das ist so, als wollte man über
Buddhas Leben schreiben«, formulierte mir gegenüber eine
Anthroposophin ihre grundsätzlichen Bedenken gegen jede
biographische Annäherung. Steiner war der große »Meister«
und keine historisch erforschbare Person. Er war ein Menschheitsführer,
Religionsstifter und Seher, den zu recherchieren
und zu beschreiben fast schon ein Sakrileg sei.
Was man über sein Leben weiß, ist außerdem noch unzuverlässig.
Heilige leben in ihren Legenden weiter. Eine immer
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wiederholte ist zum Beispiel, Rudolf Steiner sei aus einfachsten
Verhältnissen emporgestiegen. Das stimmt nicht, aber vor
einem dunklen Hintergrund funkelt eine Erfolgsgeschichte
eben umso heller. Eine weitere Hürde bei der Beschäftigung
mit einem »Erleuchteten« ist seine historische Einordnung.
Welchen Platz hat Rudolf Steiners Denken im großen Bild
der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts? Auch
diese Frage ist in seiner Gemeinde unstatthaft. Wer sich mit
dem Werkzeug der Geschichtswissenschaft auf die Spuren
des Gurus macht, hat schon zweimal verloren. Erstens, weil
Steiner das historische Denken verhasst war; zweitens, weil er
von der akademischen Wissenschaft nicht viel hielt. Er hatte
seine eigene »Geisteswissenschaft«, die eigentlich eine Geister-
»Wissenschaft« war. Seine Themen, von der Kunst über die
Gesundheit, Landwirtschaft, Religion bis hin zur Erziehung
lagen für ihn nicht, wie für all die anderen Reformerkollegen
seiner Zeit, auf der Straße – er fand sie anderswo, beim Hellsehen
nämlich, in der ominösen »Akasha-Chronik«, die sich
angeblich nur ganz wenigen Eingeweihten offenbarte.
Aus der Sicht der Historiker ist das kein gangbarer Weg.
Wer nicht nur glauben will wie die Anhänger Steiners, sondern
nachvollziehen, muss sich an weniger obskure Erkenntnisquellen
halten. Die wichtigste ist zweifellos der historische
Kontext. Nur über Steiners Zeitgenossenschaft wird
man ihm näherkommen. Seine Anliegen und Lösungsvorschläge
werden nur im Kontext der Wilhelminischen Ära
und der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erkennbar, also vor
dem Panorama einer Zeit, als im gebildeten Bürgertum die
Reformanstrengungen grassierten. Anlass waren reale und
eingebildete Bedrohungen in der Moderne. Die Zergliederung
des Menschen, des Wissens, der Arbeit und der Zeit forderte
das bürgerliche Selbstverständnis heraus, weshalb man sich
zu lebensreformerischen und moralischen Vereinigungen
zusammenfand. Die Patentrezepte zur Heilung des Selbst
und der Gesellschaft hießen: Vegetarismus und Antialkoho-
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lismus, Nudismus, Abwehr von Schmutz und Schund, körperliche
Ertüchtigung, Kleiderreform, Rassenhygiene, gesundes
Wohnen und Bauen, Reformkost, ganzheitliche Medizin
oder Rationalisierung von Sexualität und Fortpflanzung.
Manche der Beteiligten engagierten sich unter christlichem
Vorzeichen und suchten eine modernere Form des Glaubens.
Andere beteten das Volk oder die Rasse an. Fast alle schlossen
sich vereinsmäßig zusammen und machten damit das Wilhelminische
Zeitalter zu einem bunten weltanschaulichen Biotop.
In derselben Zeit also, als Steiner an den Brutstätten der
Reformbewegungen lebte und ebenfalls Antworten – sowie
einen Broterwerb – suchte, nachdem seine akademische
Karriere beendet war. Diese Vielfalt an Reformbestrebungen
bildet den Hintergrund, vor dem sich die Konturen unseres
Propheten abzeichnen.
Aus der Perspektive nach 1945 haben diese Reformbewegungen
in Kaiserreich und Weimarer Republik den Deutschen
einen Ruf als besonders hartnäckige Modernisierungsverweigerer
eingehandelt; mit ihrer Haltung wurde der deutsche
»Sonderweg« in den Nationalsozialismus erklärt. Und
damit fiel auch über Reformpropheten wie Rudolf Steiner
das Urteil, Antimodernisten und unmittelbare Vordenker des
Nationalsozialismus gewesen zu sein. Das populäre Bild des
Anthroposophen bekam somit zwei Gesichter: ein vom Heiligenschein
verklärtes bei seinen Anhängern und eine hässliche,
rassistische Fratze bei den Gegnern und Indifferenten.
In den letzten Jahren hat sich die Sicht auf den Reformeifer
und die Vereinsmeierei der Deutschen um 1900 jedoch verändert.
Nicht jeder krude Gedanke, der um die Jahrhundertwende
entstand, führte in die Hitlerdiktatur. Heute sieht
die Geschichtswissenschaft im hohen Organisationsgrad der
bürgerlichen Reformgesellschaft sogar ein vielversprechendes
Kapital unter modernen und antimodernen Chiffren. Denn
wir haben begonnen, uns selbst in dem Wertepluralismus
jener Zeit wiederzuerkennen. Viele Antworten von damals
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sind Antworten von heute geworden, ob es um den Umgang
mit Gesundheit, mit der Natur oder der Erziehung geht. Aus
dem lebensreformerischen Warenhaus bedienen wir uns
noch immer. Und manches Versatzstück, das wir heute in
den Händen halten, hat die Anthroposophie beigesteuert.
In diesem Licht bekommt auch Rudolf Steiners Gesicht
vertraute Züge. Er war ein moderner Prophet – modern in
dem Sinne, dass er sich nicht entscheiden konnte zwischen
Tradition und Gegenwart. Er war ein Chamäleon; bediente
sich der modernen Naturwissenschaften, aber benutzte eine
überwiegend verquaste philosophische, eine, wie ein Zeitgenosse
spöttelte, »courtsmahlerische« Sprache. Er bewegte
sich in modernen Organisationsstrukturen, beherrschte die
modernen Kommunikationsmittel, ließ sich gerne im Maybach
herumkutschieren, warnte aber vor dem Grammofon.
Er war, wie viele Reformbewegte jedweder Couleur, ein
public intellectual und hasste Intellektualismus, er war Prophet,
Nationalist und eingefleischter Individualist, er glaubte an
die natürliche Hierarchie der Geschlechter und der »Rassen«,
aber arbeitete für Juden und ließ sich ganz maßgeblich von
Frauen beeinflussen. Er stand dem demokratischen Parteiensystem
distanziert gegenüber, bevorzugte ein autoritäres, von
Sachfragen gesteuertes Elitenwesen, gleichzeitig hoffte er,
dass eine Schulreform und genossenschaftliches Zusammenarbeiten
mehr soziale Gerechtigkeit brächten. Er interessierte
sich nicht für den Spiritismus, aber er kommunizierte mit
Toten. Steiner verortete sich im Christentum und verstand
sich als dessen »Testamentsvollstrecker«. Er war Seelenarzt
und verabscheute Sigmund Freuds Psychoanalyse. Um es
grundsätzlich zu formulieren: Steiner war der modernste
Prophet des bürgerlichen Zeitalters, weil er, behände seine
Positionen wechselnd, sich so großzügig wie kein anderer
aus dem Kaufhaus der zeitgenössischen Ideen zu bedienen
verstand, um daraus ein eigenes, originelles Weltbild zu basteln.
Sein Motor waren die großen Fragen seiner Zeit: Woran
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kann man noch glauben? Wohin führen Kapitalismus und
Hochindustrialisierung? Welchen Stellenwert haben Armut,
Krankheit und Tod in einer Gesellschaft, die auf Wissenschaft
und Sozialtechnologie setzt? Seine Antworten entwickelte er
häufi g spontan beim Reden, schon deshalb waren sie widersprüchlich
und alles andere als konsistent. Seine Anhänger
mögen sein mäanderndes Denken »organisch« nennen, es
war wohl eher assoziativ, analogieverliebt, undiszipliniert,
auch eine Spur größenwahnsinnig. Er war ein bulimischer
Denker und Redner, seine Vorträge gingen in die Tausende
und seine Texte immer noch in die Hunderte.
Rudolf Steiners Lehren sind deshalb unfassbar. Eine eindeutige
und richtige Interpretation seines Werkes ist undenkbar.
Gegner und Befürworter haben ein leichtes Spiel, sich
mit passenden Steinerzitaten gegenseitig zu beharken. Aber
es soll uns heute, 150 Jahre nach seiner Geburt, ohnehin
nicht um eine abschließende Würdigung gehen, sondern
darum, was an Steiner noch gültig ist. Diese Relativierung
bedeutet jedoch nicht, dass seine Biographie und sein Werk
nicht verbunden gewesen wären. Nur orthodoxe Gläubige
sehen in ihm den geborenen Erfinder der Anthroposophie,
der schon als Achtjähriger nach seiner Initiation als Okkultist
tiefere Einsichten in den Gang der Welt hatte. Er war alles
andere als eine immer schon fertige und in sich schlüssige
Persönlichkeit, der man in jedem Lebensabschnitt die spätere
Karriere hätte ansehen können. Als zutiefst moderne Person
nahm er sich wiederholt das Recht auf eine neuerliche Selbsterfindung
heraus. Die einzige Klammer, die seine Biographie
zusammenhält, ist sein Leben zu einer bestimmten Zeit, in
einer spezifischen Kultur, in der er Erfahrungen machte, die
ihn prägten.
Als Ergebnis dieses verschlungenen Lebenswegs stoßen wir
auf einen bemerkenswerten Tatbestand: Zu Lebzeiten zählte
Steiner wenige Anhänger. Auch war er nur einer von vielen
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Propheten. Aber im Gegensatz zu fast allen anderen Reformern
seiner Zeit hat er es nicht nur bis in die Gegenwart
geschafft, er hat sogar einen stetig wachsenden Einfluss auf
das gegenwärtige Leben und Denken. Unter all den Visionären
des frühen 20. Jahrhunderts ist sein Name populär
wie nie. Sein Erfolg war keine Eintagsfliege, und das nicht
nur, weil er sehr rührige Anhänger hat, die quasi stündlich
neue Beiträge von ihm und über ihn ins Internet stellen.
Seine Langlebigkeit hat vielmehr mit der Aktualität seiner
Angebote zu tun. Abgesehen davon, dass man im Internet
»Guru«-Taschen und T-Shirts mit einem warholesken Konterfei
Rudolf Steiners in allen aktuellen Modefarben bestellen
kann2; dass die von ihm initiierte biodynamisch arbeitende
Erzeugergemeinde »Demeter« ein Global Player mit
4300 Betrieben und 130 000 Hektar Ackerfläche auf allen fünf
Kontinenten geworden ist; dass es ein auf der Fernsehserie
Star Trek basierendes Rollenspiel mit Anthro-Charakteren
gibt3; dass sich heutige Hollywoodschönheiten mit Kosmetika
der Marke »Weleda« pflegen, die auf Steiners Konzept aus
den zwanziger Jahren zurückgeht; abgesehen davon zeugt
vor allem der wachsende Zuspruch der Waldorfpädagogik für
eine beachtenswerte Kontinuität über rund hundert Jahre.
Während die Anthroposophische Gesellschaft mit Sitz in Dornach
in der Schweiz mit knapp 46 000 Seelen (davon ein
Drittel in Deutschland) seit 1989 schrumpfende Mitgliederzahlen
und die Überalterung ihrer Funktionäre beklagt, blüht
die angewandte Anthroposophie immer mehr auf. Nicht nur
ökonomisch, sondern als Kulturfaktor. Erstmals widmeten
im Jahr 2010 zwei allgemeine Museen der anthroposophischen
Lebenswelt Ausstellungen, die beim Publikum großen
Anklang fanden. Die Pädagogik Steiners ist indes zum
wichtigsten Praxisfeld geworden. 70 000 Kinder pro Jahr
besuchen Steiner- beziehungsweise Waldorfschulen. Rechnet
man die Schülergenerationen zurück, kommt man auf
einen vor allem in den Mittelschichten relevanten Anteil der
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Bevölkerung, der entweder selbst mit anthroposophischem
Denken groß geworden ist – bewusst oder nicht, gewollt oder
nicht – oder zumindest jemanden kennt, der Schüler einer
Waldorfschule war. Allen bekannt sind die Namen etlicher
Prominenter aus dem Dunstkreis der Anthroposophie: Das
Spektrum reicht von Politikprominenz wie Altkanzler Helmut
Kohl, dem ehemaligen Innenminister Otto Schily, dessen
Bruder Konrad Gründungspräsident der anthroposophischen
Universität Witten-Herdecke war, dem Ex-Wirtschaftsminister
Wolfgang Clement, dem Ex-Arbeitsminister Walter Riester,
dem Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den ehemaligen
Bürgermeistern von Berlin und von Hamburg, Eberhard
Diepgen und Klaus von Dohnanyi, der Ex-Justizministerin
Herta Däubler-Gmelin und der früheren bayerischen Kultus-
und Bildungsministerin Monika Hohlmeier über Wirtschaftseliten
wie den Autobauern Ferdinand Alexander und
Wolfgang Porsche, dem ehemaligen BDI-Präsidenten Michael
Rogowski, dem »dm«-Drogerieketten-Gründer Götz Werner,
dem Unternehmer und Sohn von Beate Uhse, Ulrich Rotermund,
und dem ehemaligen Bundesbankpräsidenten Karl
Otto Pöhl bis hin zu Kulturprominenz wie Marie Bäumer,
Caroline Herfurth, Heiner Lauterbach, Oliver Hirschbiegel,
Freimut Duve oder Rainer Werner Fassbinder. Diese Namen
sind unterschiedlich eng mit der Anthroposophie assoziiert.
Manche waren Waldorfschüler, manche haben ihre Kinder
nach der Steinerpädagogik lernen lassen. Andere glauben
wirklich an die Sache. Herta Däubler-Gmelin tritt als Referentin
bei Anthroposophenkonferenzen auf, und die Schilys
gehörten schon in der Weimarer Zeit zur Anthroposophenclique.
Hellhörig macht der Name Andreas Schleicher, der als
»Erfi nder« der PISA-Studie selbst eine alternative schulische
Sozialisation nach den Lehren Steiners absolviert hat, und
heute den öffentlichen Schulen Versagen vorwirft.
Anlass, an eine Verschwörung zu glauben, besteht trotzdem
nicht. Gemessen an den Absolventenzahlen der Waldorf-
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schulen ist ihre Produktion von Eliten auch angesichts des
Umstands, dass es sich um eine Privatschule für Privilegierte
handelt, eher gering. Die meisten ehemaligen Waldorfkinder,
die es »geschafft« haben, sind Schauspieler oder Künstler
geworden, was auch zum Curriculum der Steinerschulen
passt. Für die wenigen wirklich mächtigen Eltern, die ihre
Kinder diesen Weg gehen lassen, dürften außerdem eher
elitistische als ideologische Motive eine Rolle spielen, denn
allzu groß ist das Angebot an Privatschulen mit gutem Ruf
in Deutschland nicht. Die Erkenntnisse über die Missbräuche
an kirchlichen Internaten und an der berühmten Odenwaldschule
dürften den Waldorfschulen noch mehr Kundschaft
zuspielen. Zum Einfl usskreis der Anthroposophen lassen sich
auch die zahlreichen Einrichtungen und Verbände rechnen,
die in den jeweiligen Arbeitsfeldern tätig sind. Dazu zählen:
anthroposophische Kindergärten, Schulen und Hochschulen,
heilpädagogische Institutionen, Jugendkreise, Banken,
landwirtschaftliche Erzeugerringe, Kosmetik- und Pharmazieunternehmen,
Krankenhäuser und Kurkliniken, Verlage,
Buch- und Spielzeugläden sowie Hochschulen.4
Von diesem breiten Sortiment auf eine entsprechende Wirkungsmacht
zu schließen, wäre dennoch vorschnell, denn
dann müssten all diese Institutionen in einem machthungrigen
Konglomerat zusammenhängen, was nicht der Fall ist.
Steiners Anthroposophie wirkt vielleicht total, weil sie auf
so viele Lebensbereiche zugreift, aber sie ist nicht totalitär;
trotz aller Konsum- und Wohlfühlangebote bleibt sie eine
verschworene, eben eine okkultistische Angelegenheit, die
sich im Großen und Ganzen an eine akademisch gebildete,
bürgerliche Schicht richtet, die nicht in die Öffentlichkeit
drängt oder sogar lieber im Verborgenen operiert.
Trotzdem ist es wichtig, sich mit der Person des Anthroposophiebegründers
realistisch und unvoreingenommen auseinanderzusetzen.
Die heutigen Kunden des Warenhauses
Anthroposophie sollten zumindest wissen, dass sich Steiners
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Nachkommen wenig um die Weiterentwicklung seiner Lehren
gekümmert haben, dass sie also seine Art zu denken
wie schockgefroren in die Gegenwart transportieren. Wer
heute eine Antifaltencreme von Weleda oder Kartoffeln von
Demeter kauft, oder den Nachwuchs auf eine Steinerschule
schickt, sollte sich zumindest bewusst sein, wie viel Mittelalter,
wie viel 19. und frühes 20. Jahrhundert damit in Kauf
genommen werden muss. Wer weiß schon, welches Menschenbild
damit verbunden ist, wenn Kinder im Klassenzimmer
nach Temperamenten sortiert werden, wie es heute
an Waldorfschulen immer noch üblich ist. Deshalb lohnt es,
einen genaueren Blick auf die Person Rudolf Steiners zu
richten.
Über seine intellektuelle Biographie ist genug geschrieben
worden. Wer sich mit den geistesgeschichtlichen Quellen seines
Denkens vertraut machen will, ist von der Forschung
bereits ganz gut versorgt.5 Der historische Steiner in seiner
Zeit nimmt jedoch erst langsam Gestalt an. Zu lange wähnten
ihn voreingenommene Historiker im okkultistischen Spukschloss
des späten 19. Jahrhunderts. Der Schlüssel zum Verständnis
seiner ungeheuer lang anhaltenden Wirkung liegt
jedoch nicht in seiner Stilisierung zum dämonischen Propheten,
wie die Anthroposophiekritiker glauben, aber auch
nicht in seiner Heiligsprechung durch die Adepten – er liegt
im Tatbestand der gekonnten Verkörperung eines modernen
Gurus.