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Die Kalte Wut Theorie und Praxis des Ressentiments
Die Kalte Wut
Theorie und Praxis des Ressentiments




Jürgen Große

Büchner-Verlag
EAN: 9783963173752 (ISBN: 3-9631737-5-0)
384 Seiten, hardcover, 16 x 23cm, März, 2024

EUR 39,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Rede vom »Ressentiment« ist im heutigen Gesellschaftsfeuilleton inflationär. Auch Politologie, Literatur- und Kulturwissenschaft nutzen den Begriff gern. Oft ist von Ressentiment die Rede, wo es schlicht Neid, Hass oder Groll heißen könnte. Hat der Begriff mehr zu bieten als das Renommee eines Fremdworts? Ist Ressentiment gar eine kulturelle Schlüsselstimmung, die erschreckende Einsichten über uns bereithält? Jürgen Große stellt sich diesen Fragen auf unkonventionelle Weise. Er forscht der Geschichte des Ressentimentbegriffs nach, aber auch den Bedürfnissen, die dieser bis heute befriedigt. Die Studie ist systematisch und historisch angelegt. Der erste Teil diskutiert die Theorien einiger Ressentiment-Klassiker. Der zweite Teil erkundet die Funktion des Ressentimentgedankens von der frühneuzeitlichen Moralistik bis zur bundesdeutschen Gegenwart. »Ressentiment«, so wird dabei immer klarer, steht für das paradoxe Versprechen einer mehrheitsfähigen, sozial friedfertigen Bürgerlichkeit.

Jürgen Große (geb. 1963) ist promovierter Historiker und habilitierter Philosoph; er lebt als freier Publizist in Berlin. Sein Interesse gilt den dunklen Seiten der europäischen Geistesgeschichte, vor allem den Sonderwegen der Deutschen, so in »Der Tod im Leben. Philosophische Deutungen von der Romantik bis zu den life sciences« (2008, 2017), »Philosophie der Langeweile« (2008), »Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989« (2010), »Fünf Zeitbilder. Geschichtsphilosophische Glossen« (2010), »Der beglückte Mann. Posterotische Meditationen« (2015, 2022), »Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch« (2019), »Der sterbende Gott. Agnostische Anmerkungen« (2020), »Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch« (2021), »Die kreative Klasse. Nachrichten aus Winkel, Szene und Betrieb« (2022).
Rezension
Verschwörungstheorien haben Konjunktur und mit ihnen die Ressentiments, die ethnisch, religiös, kulturell oder sozial begründet sind; hier werden Ängste und Gefühle des Bedrohtseins stimuliert. Vorurteile und Ressentiments sind angesichts des Populismus in der Welt wieder auf dem Vormarsch. Ressentiments sind verknüpft mit der Rolle von Minderheiten, Verlust- und Bedrohungsängsten in der Mehrheit, der Eskalation von Feindbildern in öffentlicher Gewalt und Abwehrstrategien gegen "Fremde" oder "Andere". Der Autor dieses Buchs forscht der Geschichte des Ressentimentbegriffs nach, aber auch den Bedürfnissen, die dieser bis heute befriedigt. Die Studie ist systematisch und historisch angelegt. Der erste Teil diskutiert die Theorien einiger Ressentiment-Klassiker. Der zweite Teil erkundet die Funktion des Ressentimentgedankens von der frühneuzeitlichen Moralistik bis zur bundesdeutschen Gegenwart. Keine Studie über ›Populismus‹ kommt heute ohne den Ressentimentverdacht als Ausgangs- und oft auch Fluchtpunkt ihrer Analysen aus. Der Autor betrachtet den populären Ressentimentbegriff kritisch; denn prinzipiell ist die Zahl der Ressentiment-Genitive unbegrenzt. Wer sich als ›Ressentimentmensch‹ oder ›Ressentmentmilieu‹ bloßgestellt sieht, weiß sich sozial erledigt. In ironischer Weise plädiert der Auor für ein Ressentimentressentiment. Die heutige Hochkonjunktur von ›Ressentiment‹ gehört zu einer kulturellen Atmosphäre, in der politische, soziale, vor allem aber moralische Selbst- und Fremdbestimmung wesentlich über öffentlich prämierte Gefühle erfolgt, - so der Autor.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
PROLOG: Ressentiment-Alarm! 9

TEIL A: THEORIE

KAPITEL I: Französische Moralisten 21

1 Die Anfänge bei Montaigne 22
2 La Bruyère 24
3 Chamfort 30
4 Transformationen der Ranküne 36

KAPITEL II: Friedrich Nietzsche 38

1 Hermeneutische Aufwertung des Ressentiments 39
2 Verschränkung der Perspektiven 41
3 Der expressive Stil 43
4 Stellung, Rezeption, Problemerbe 44

KAPITEL III: Max Weber und Max Scheler 49

1 Kritik und Fortbildung von Nietzsches Entwurf 49
2 These, Motiv und Ort der Ressentimentschrift in Schelers Gesamtwerk 50
3 Weltanschauliche und methodische Eigenarten von Schelers Nietzschekritik 54
4 Von der Ressentimentphänomenologie zur Modernekritik 59
5 Überwindung des Kapitalismus? 62

KAPITEL IV: Ludwig Klages 64

1 ›Leben‹ als Zentralbegriff 65
2 Problematisierung und Umbildung von Nietzsches Lebensmetaphysik 66
3 Der Lebensneid 68
4 Die NietzscheKritik im Detail: Psychologie, Etymologie, Kulturdeutung 69
5 Bedeutung und Wirkung 71

KAPITEL V: Emil Cioran 74

1 Strukturen von Denken und Schreiben: Entsublimierung, Übersteigerung, Auflösung 75
2 Klarblick, Seinsschmerz und Rachsucht 80
3 Verhältnis zu Nietzsche und Klages 87
4 Die Weisheit der Moralisten 91
5 Ressentiment als Stellvertreterphänomen 93
6 Gnosis: Übermensch und alter Adam 97

ZWISCHENBILANZ: Passion der gefährdeten Mitte? 100

TEIL B: PRAXIS

KAPITEL I: Provinz und Zentrum 109

1 Der Hof und die Stadt 109
2 Kopien des Zentrums 112
3 Antizentralismus 113
4 Zurück in die Provinz 116
5 Entwurzelung, Entgrenzung, Enthemmung 119

KAPITEL II: Besitzgier und Statusneid 123

1 Egalitarismus versus Antiegalitarismus 124
2 Helmut Schoeck – Stardenker des Antiegalitarismus 125
3 Nach 1990 130
4 Sloterdijks Zornbankenthese und ihre Kritiker 131
5 Zangentheoreme 134
6 MitteMiseren oder: Zynismus versus Heuchelei 137
7 The End of History, revisited 139
8 Schelers Erbe 145

KAPITEL III: Affektreaktion und Anarchokalkül 148

1 Ambivalenzen der Réaction 149
2 De Maistres Groll 152
3 Theodizee der modernen Geschichte 153
4 Renouveau catholique: Stolze Armut, grollender Stolz 156
5 Das deutsche Seitenstück: Carl Schmitt 162
6 Rechte Reaktionäre und linke Radikale 164
7 Christliche Repression und atheistische Revolte 165
8 Anarchie und Apologie der Affekte 167
9 »Die freie Gesellschaft« 168
10 Haß auf den Bürger, scheiternde Mitte, Antisemitismus 170
11 Karl Mannheims Analyse 173

KAPITEL IV: Naturstolz und Kulturleid 176

1 Emanzipation, Feminismus, Gender 178
2 Deutungsvorschläge: Nietzsche und Scheler 179
3 Überdauernde Szenarien 180
4 Negative Andrologie 181
5 Die befreite Hausfrau 183
6 Häusliche Pflichten und bürgerliche Rechte 184
7 Autonomieverheißung: Entleiblichung und objektiver Geist 187
8 Simone de Beauvoirs »Welt des Ressentiments«: eine WeiningerReprise? 191
9 Reconstruction, Repression, Resentment 196
10 Teil-Ganzes-Ambivalenzen 199
11 Gleichursprünglichkeit von Gleichheit und Differenz 200
12 Affektbejahung und Männerhaß 202
13 Misandrie als sublimierte Christlichkeit 205
14 Rechtslinkes Ressentimentszenario um ›Gender‹ 206
15 Repräsentative Schwierigkeiten, zerbrechliche Synthesen 208
16 ›Allmachtsfeminismus‹ 210
17 Totalitarismus? 213

KAPITEL V: Berufskunst und Bildungsphilisterium 217

1 Der abhängige Wirtschaftsbürger und der betrogene Berufsautor 219
2 Frühformen ressentimentaler Selbstreflexion 221
3 Der intellektuelle Gegenimpuls 223
4 Unbehagen am genialen Unverstandenen: Spätaufklärung 225
5 Von der Spätaufklärung zur Frühromantik 228
6 Philister überall 230
7 Empfindsame Selbstreflexion und Romantikkritik 233
8 Klassik, Ganzheit, Souveränität 236
9 Probleme bürgerlicher Mannwerdung: Von Hegel zu Heine 239
10 Weltschmerz und Philisterhaß 242
11 Unbehagen im Biedermeier 243
12 Kodifikation des Bürgerhasses 247
13 Flauberts Bekenntnis zur Wut 250
14 Politische Radikalisierung und poetische Fiktionalisierung des Bürgerhasses: Baudelaire 254
15 Ein Spätling des Bürgerhasses 258
16 Der Fall Nietzsche – Musterkonflikt und Wendepunkt 262
17 Marxistischer Antinietzscheanismus 264
18 Nazistische Antibürgerlichkeit 268
19 Liberale Philisterapologie 272
20 Totalitäre Ressentimentkunst als soziale Anpassungsstörung 274
21 Stalinistischer Künstler und Intellektuellenhaß 279
22 Von der Staatskunst zur Kulturrevolution 284
23 Sozialaussteiger, Bewußtseinsbefreier, Welterlöser 286
24 Revolutionäre 291
25 Umschichtungen 296
26 Yuppies 299
27 Expansion und Diffusion des Yuppietums 301
28 Art of Resentment, State of the Art: Bobo-Kapitalismus 303
29 Linke Spießer – rechte Ressentiments? 310
30 Ordnungsliebe 312
31 Mitteträume 314
32 Schöpfungsglaube 315
33 Exkurs: Gegenwartskunst und Publikumsressentiment 318
34 Triumph und Gefährdung 322
35 Ausblick 326

EPILOG: Gefühl zeigen 328

Anmerkungen 335
Literaturverzeichnis 365
Personenregister 377