lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Winnenden Ein Amoklauf und seine Folgen
Winnenden
Ein Amoklauf und seine Folgen




Jochen Kalka

Random House , DVA
EAN: 9783421045119 (ISBN: 3-421-04511-9)
240 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, 2011

EUR 17,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Er wohnt in Winnenden. Er ist Journalist. Seine Frau ist Lehrerin. Seine beiden Töchter gehen in das Schulzentrum, zu dem auch die Albertville-Realschule gehört, wo am 11. März 2009 ein Amoklauf stattfand. Ein Jahr lang begleitet Jochen Kalka den Versuch der Einwohner Winnendens, in die Normalität zurückzukehren. Schlaglichtartig und eindringlich beschreibt er persönliche Eindrücke und Szenen einer traumatisierten Stadt, greift Dialoge der Menschen vor Ort auf, schildert mutlose Politik und das Fehlverhalten übermütiger Medien. Seine Beobachtungen sind genau, seine Beschreibungen behutsam, er liefert keine sensationsheischenden Details. Und es zeigt sich: Dies ist ein Buch über Deutschland. Denn Winnenden könnte überall sein.

Das sensible Psychogramm einer Stadt, die gezeichnet ist von einer brutalen Tat.

Jochen Kalka, geboren 1964, studierte Germanistik, Rhetorik und Politik. Journalistische Erfahrungen sammelte er u.a. bei der Stuttgarter Zeitung, der BILD-Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und beim SWR sowie als Chefredakteur verschiedener Marketingzeitschriften. Seit 2006 ist er Chefredakteur der Fachzeitschrift Werben & Verkaufen. Jochen Kalka lebt mit seiner Familie in Winnenden.
Rezension
Winnenden, 11. März 2009: 16 Menschenleben werden innerhalb kürzester Zeit an der Albertville-Realschule in Winnenden durch einen Amokläufer ausgelöscht. School shootings, Schulmassaker, Amokläufe in der Schule greifen nun auch in Europa und Deutschland vermehrt um sich, nachdem sie über lange Jahre als typisch amerikanisches Phänomen erschienen. Wie konnte das passieren? Seit dem Amoklauf in Winnenden hat das Thema AMOK die Öffentlichkeit aufgewühlt. Neben Medienberichten und der Einsetzung von Expertenkommissionen hat das Thema breite Diskussionen unter Schülern, Eltern und Lehrern, Polizeibeamten und Politikern ausgelöst. Nach der Tat gab es in Deutschland einen starken Anstieg von Drohungen mit einem Amoklauf an Schulen, wie es noch nie zuvor in diesem Ausmaß der Fall war. Darunter war ein großer Anteil an Drohungen, die nicht ernstgemeint waren. Das ändert aber nichts an der Verbreitung von Angst und Schrecken und der Unsicherheit bei der Beurteilung derartiger Ankündigungen. - Diesem Buch geht es nicht um Präventionsarbeit, um psychologische Täter-Muster, um Kriminologie, forensische Psychiatrie oder verhaltenstheoretische Kriminalistik, - diesem Buch geht es um das Psychogramm einer Stadt, die gezeichnet ist von einer brutalen Tat.

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Er wohnt in Winnenden. Er ist Journalist. Seine Frau ist Lehrerin. Seine beiden Töchter gehen in das Schulzentrum, zu dem auch die Albertville-Realschule gehört, wo am 11. März 2009 ein Amoklauf stattfand. Jochen Kalka zeichnet das Psychogramm einer Stadt, die gezeichnet ist von einer brutalen Tat.
Inhaltsverzeichnis
ohne Inhaltsverzeichnis

Leseprobe:

Winnenden ist zum Synonym geworden. »Winnenden« steht nicht mehr
für eine kleine schwäbische Stadt in der Nähe Stuttgarts, für
friedfertige, fleißige, brave Menschen, sondern für ein Verbrechen,
das als Amoklauf bezeichnet wird. »Winnenden« steht für
sechzehn Tote. Die Medien benutzen »Winnenden« in merkwürdigen
Konstellationen: »seit Winnenden«, »als Winnenden
war«, »das war wie Winnenden«. Für den Winnender gibt es
diese Wortkombinationen nicht. Auch wenn der Winnender
weiß: »Winnenden« wird man nicht vergessen.
Am 11. März 2009 erschießt ein siebzehnjähriger ehemaliger
Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden innerhalb
von drei Minuten zwölf Menschen: acht Schülerinnen,
einen Schüler und drei Lehrerinnen allein im Schulgebäude.
Als die Polizei nach wenigen Minuten eintrifft, flüchtet der
Mörder, der wohl ein noch viel schlimmeres Massaker geplant
hatte. Im Park der Psychiatrischen Landesklinik tötet er einen
Angestellten. Dann kidnappt er ein Fahrzeug mit Fahrer. Zwei
Stunden irren die beiden durch die Gegend, bis der Fahrer in
der Nähe einer Polizeisperre bei Wendlingen aus dem Wagen
springen kann. Der Täter flüchtet weiter zu Fuß zu einem
nahen Autohaus, wo er einen Verkäufer und einen Kunden
erschießt, bevor er sich selbst tötet.
Der siebzehnjährige Mörder soll am Vorabend der Tat seine
Zeit mit Killerspielen am PC verbracht haben. Die ungeschützt
lagernde Großkaliberwaffe seines Vaters hat er aus dem elterlichen
Schlafzimmer genommen. Wenige Wochen vor dem
Attentat soll er gemeinsam mit seinem Vater rund tausend
Patronen gekauft haben, 284 davon nimmt der Täter mit, 113
verschießt er. Sohn und Vater waren Mitglied im Schützenverein.
Eine Mutter, irgendeine, ist spät dran, viel zu spät. Es ist
längst nach zehn Uhr. Wenn sich
kein Unfall auf dem Weg ereignet hat und nicht alle Ampeln
auf Rot stehen, ist es noch zu schaffen. Heute muss sie nur
zwei Stunden unterrichten, Englisch, wie jeden Mittwoch.
Schnell das Autoradio an, SWR 3. Einmal links abbiegen,
dann rechts.
»Wie fährt der denn? Spinnt der?«
Die Frau muss scharf bremsen. Dabei fliegt ihre Tasche vom
Beifahrersitz auf den Boden.
»Was fällt dem ein?«
Sie sieht jetzt, dass es ein ziviler Wagen mit aufgesetztem
Blaulicht ist, der ihr da so sportlich entgegenkommt. Dabei ist
die Gerberstraße eine Tempo-30-Zone. Und dann noch diese
verdammte Baustelle, wo es hier eh so eng ist.
Im Verkehrsfunk hört sie etwas von »keine Anhalter mitnehmen
«, die Lehrerin stellt lauter, bevor sie in die Bundesstraße
einbiegen will. »Im Raum Winnenden«, bekommt sie
noch mit.
»Wohl wieder einer aus der Psychiatrischen Klinik ausgebrochen
«, denkt sie. Kurzer Kontrollblick auf die Knöpfe
an den Türen, sie sind alle unten, alles dicht, die Frau wähnt
sich in Sicherheit.
»Wir kriegen gerade eine Meldung rein«, meldet die
Stimme aus dem Radio. Die Autofahrerin konzentriert sich
auf den Verkehr. Es ist nicht gerade leicht, an dieser Kreuzung
auf die stark befahrene B14 zu kommen. Gut, dass in einem
halben Jahr die Umgehungsstraße endlich fertig sein wird.
Dann wird es ruhig in Winnenden werden.
Von links kommt ein großer Lastwagen, danach könnte frei
sein. Rechts kommt grad keiner, erst weiter hinten. »Amoklauf
«, »Schule«, »Winnenden« schnappt die Mutter aus dem
Radio auf, gibt Gas, um die Lücke zu nutzen, und zweifelt
plötzlich an dem, was sie vernommen hat. Sie schaltet in den
zweiten Gang, beschleunigt mit ihrem Fahrzeug, während sie
das Piepen ihres Handys hört, das Piepen einer SMS.
Obwohl sie überhaupt keine Zeit hat, lenkt sie den Wagen
geistesgegenwärtig nach rechts auf einen Stellplatz. Vor ihr ein
Schild »Privatparkplatz Allianz«.
Hektisch angelt die Frau nach ihrer schwarzen Tasche, stellt
sie zurück auf den Beifahrersitz, wühlt nach dem Handy und
sieht, dass die Nachricht von ihrer elfjährigen Tochter Emma
ist.
Sie wundert sich, dass ihre Tochter während des Unterrichts
eine Mitteilung schickt. Emma schreibt so gut wie nie eine
Kurznachricht an ihre Mutter. Kinder kommunizieren viel mit
der ganzen Welt. Aber wenig mit der eigenen Familie.
Klick, Klick, dann flammen ihr, der Mutter, die Worte auf
dem Display entgegen:
»Amoglauf an Schule. Mind 1 toter, 2 verletzt. Pass auf!«
Emmas Mutter ringt nach Luft, kann kaum mehr atmen,
dreht das Radio lauter, doch da läuft längst wieder Musik.
»Heaven is a place on earth«. Sie zappt durch die Sender,
Antenne, Energy, alle bringen nur Musik.
Es ist 22 Minuten nach zehn. Ein Amoklauf bei ihrer Tochter?
Ein Toter? Wieso schreibt sie »Pass auf«? Wieder und wieder
liest sie die SMS. Was ist da los? Was kann sie tun? Wo soll
sie hin? Jetzt noch zur Arbeit fahren? Die junge Frau ist nervös.
Nein, nicht, so lange ihre Tochter in Gefahr ist. Hinter ihr
ertönt das Geräusch einer Polizeisirene.
Die Lehrerin ruft bei ihrer rund zehn Kilometer entfernten
Schule an. Als sie die nüchterne Stimme der Sekretärin hört,
schnürt es ihr die Kehle zu. Mit gequetschter Stimme teilt sie
mit, dass an der Winnender Schule ein Amoklauf sei, vielleicht
bei ihrer Tochter, sie wisse nichts Näheres, könne heute nicht
zum Unterrichten kommen …
Wieder saust ein Polizeiwagen mit Martinshorn vorbei.
Mehr kann die Mutter nicht sagen – ob die Sekretärin
ihre Situation nachvollziehen kann? Sie kann. Und sie kann
nicht.
Nach dem Telefonat will die Lehrerin wieder zurücksetzen,
auf die Bundesstraße, doch sie sieht nur noch verschwommen.
Ihre Augen sind feucht, die Kontaktlinsen trüb. Sie zwinkert
einmal, zweimal, es wird besser, doch es kommen neue Tränen
nach. Obwohl sie noch gar nicht genau weiß, was los ist.
Eine Lücke, schnell raus, sie gibt kräftig Gas, dann muss
sie bremsen, stark bremsen, der Verkehr vor ihr stockt. An der
nächsten Kreuzung will sie links abbiegen, in Richtung Schulzentrum.
Dort, wo ihre Tochter ist. Doch in dem Moment
stellt sich ein Polizeiwagen quer, lässt kein Auto mehr durch.
Die Mutter lässt ihr Fenster herunter. Hemmungslos schreit
sie über den Gegenverkehr hinweg einem Polizisten zu:
»Ich will zu meiner Tochter. Ich will sie da rausholen. Lassen
Sie mich durch, bitte lassen Sie mich da durch …«
Der Polizist erklärt der aufgelösten Mutter, dass sie die
Innenstadt umfahren müsse, es werde eine Sammelstelle für
Schüler und Eltern gebildet, am Wunnebad.
Die Frau hat keine Wahl. Sie muss zur Sammelstelle. Wie das
klingt, Sammelstelle. Ein Wort, das sie noch nie aktiv benutzt
hat in ihrem Leben. Das irgendwie nach Krieg riecht, nach
Flucht, nach Vermissten. Das Wort hat nichts Angenehmes an
sich.
Und wieder Polizei. Eine ganze Polizeikolonne kommt
da an. Von hinten ein Krankenwagen, die schrillen Töne der
Martinshörner überschwemmen den kleinen Ort, die Sirenen
verschmelzen zu der dröhnenden, bedrohlich klingenden
Musik eines Panikorchesters.
Als die Frau sich wieder auf der B14 eingeordnet hat, geht
nichts mehr. Der ganze Verkehr bricht zusammen. Auch in der
entgegengesetzten Richtung Stillstand.
Herzstillstand einer Stadt.
Da ist es wieder, dieses »Amoklauf« im Radio. Von »aktuellen
Informationen« ist die Rede, von »mindestens zwei Toten«,
von »womöglich mehreren Tätern« an einer »Schule in Winnenden
«, »anscheinend der Albertville-Realschule«.
Ein bisschen atmet die Mutter auf, weil ihre Tochter an
dem gegenüberliegenden Gymnasium ist und nicht an der
eben genannten Schule. Wenn es denn die ist. Beunruhigt ist
sie aber auch. Weil die Täter noch auf der Flucht sind, abermals
der »dringende Hinweis, nehmen Sie bitte im Raum Winnenden
keine Anhalter mit …«
Nichts geht mehr, das ganze Leben scheint ins Stocken
geraten zu sein, Schockstarre in Winnenden.
Wieder greift die Frau zu ihrem Handy. Erst jetzt kommt
sie auf die Idee, ihre Tochter anzurufen. Sie weiß die Nummer
nicht auswendig, zu selten wählt sie sie. Sie klickt nochmals
die SMS ihrer Tochter an, ihr Atem stockt, als sie wieder dieses
»Amoglauf« liest, dann drückt sie auf Wählen.
»Emma« ist auf dem Display zu lesen, »Verbindung aufnehmen
«, die Pfeile bewegen sich durch die Anzeige, ewig dauert
das, dann, endlich, das Leerzeichen.
»Ja? Hier ist Emma«, meldet sich das Kind mit seiner so
unschuldigen, hohen Stimme. Obwohl absolut klar ist, dass es
lebt, dass es nicht in Gefahr ist, kämpft die Mutter mit den
Tränen. Tapfer spricht sie: »Hallo, Emma, hier ist deine Mama.«
Pause.
»Hallo, Mami«, antwortet das helle Stimmchen des Mädchens.
Auf der B14 geht es jetzt ein klein wenig voran, zwei, drei
Meter vielleicht, dann stockt der Verkehr wieder. Abermals
Stillstand.
»Wie geht es dir denn?«, fragt die Mutter ihre Tochter und
muss sich dabei richtig zusammennehmen, um nicht doch
noch in Tränen auszubrechen.
»Ganz gut«, sagt das Mädchen, »weißt du, wir sitzen hier
am Boden und machen Spiele. Und wir dürfen alle mit dem
Handy telefonieren. Aber, Mami«, fährt es fort, »du musst aufpassen,
der Amokläufer ist noch unterwegs. Es gibt schon mindestens
zwei Tote und ganz viele Verletzte, pass auf, bitte pass
auf!«, sagt das Kind zu seiner Mutter mit völlig ungewohnt
empathischer Stimme.
»Ja, ich pass schon auf. Du musst aber auch aufpassen, versprichst
du mir das?«
»Na klar, Mami.« Und nach einer kurzen Pause: »Mami,
holst du mich nachher ab?«
»Natürlich hol ich dich ab, ganz sicher hol ich dich ab,
wenn das Ganze hier vorbei ist …«
Wieder steigen der Mutter Tränen hoch. Hätte sie ihr Mädchen
nur schon bei sich, in Sicherheit.
»Wie lange dauert das noch?«, fragt Emma ihre Mutter.
»Nicht mehr lange, es ist sicher gleich vorbei«, versucht
die Mutter zu trösten. »Kannst du mir mal deinen Lehrer
geben?«
»Mami, das ist doch voll peinlich«, regt sich das Kind auf.
Aber es leistet nicht lange Widerstand, wenige Sekunden später
ist der Lehrer dran.
»Ja, hier Lorsch.«
»Hier ist die Mutter von Emma. Ich wollte nur fragen, wie
die Situation ist.«
»Wir sind hier im Klassenraum in Sicherheit. Die Türen
sind alle abgesperrt, es kann nichts passieren«, versucht der
Lehrer zu beruhigen. »Auch das Schulgebäude ist abgerie11
gelt, wir sind in Sicherheit«, wiederholt er. »Ihrer Tochter geht
es gut. Allen Kindern hier geht es gut. Wir machen gerade
Spiele.«
»Vielen Dank, Herr Lorsch.«
»Ich gebe Ihnen Ihre Tochter wieder.«
»Hallo, Mami!«
»Hallo, mein lieber Spatz, mein Schatz, meine Maus, du,
dir geht es gut, ja?«
»Ja klar, wir sitzen hier auf dem Boden und machen Spiele.
Ich muss jetzt aufhören …«
»Also gut. Melde dich bitte wieder, wenn ihr raus könnt.
Melde dich. Ich hol dich dann ab, ja?«
»Ja, ich weiß. Tschüss, Mami, bis gleich, Mami, tschüss, …
Tschüss.«
»Tschüss, Süße, tschüss, ich komme dann, ich bin gleich
da, tschüss …«
Wieder kann die Frau kaum noch etwas sehen, sie blickt
wie durch einen Schleier.
Längst müssen die Autos eine Gasse für die vielen Einsatzkräfte
bilden. Ein Polizeiwagen nach dem anderen. Dann
wieder Krankenwagen. Sie fahren in alle Richtungen. Es hat
etwas Zielloses, völlig Willkürliches.
Ihr Mann, ihr Mann weiß ja noch gar nichts. Sie muss ihn
sofort sprechen, sofort anrufen, in München, warum muss er
ausgerechnet heute in München sein, drei Stunden von Winnenden
entfernt, warum heute?
Eigentlich ist er jeden Tag in München, fast jeden Tag, denn
er arbeitet dort.
Die Nummer kennt sie auswendig. Doch er geht nicht ran,
ans Telefon. Sie wählt nochmal, nochmal und nochmal. Nicht
einmal die Mailbox springt an.
Sie wählt die Nummer seines Sekretariats, das immer zu
erreichen ist, nur diesmal nicht. Da gibt es doch noch diesen
Freund, den Kollegen, mit dem man sich schon mal privat
getroffen hat, sie hat sogar seine Nummer in ihrem Handy
eingespeichert. Die Frau wählt, erreicht auch ihn nicht, aber
immerhin geht die Mailbox an.
»Hi, Philipp, hier bin ich. Pass auf, hier ist ein Amoklauf, an
der Schule, würdest du bitte meinen Mann anrufen, sagst du
ihm, dass es Emma gut geht, wenn du das hier abhörst, okay,
ja? Danke dir, liebe Grüße, tschüss.«
Polizeiwagen mit Blaulicht von vorne, noch einer und
noch einer. Dann geht es wieder ein paar Meter voran. Sirenen.
Hubschrauber kreisen über der Stadt. Einer, zwei, mindestens
drei Hubschrauber. Es wirkt so, als sei man in den Universal
Studios in Hollywood. Das, was hier passiert, kann nicht real
sein.
Jetzt, endlich, kann die Mutter rechts abbiegen. Sie merkt,
dass es sinnlos ist, zur Sammelstelle zu fahren. Da wird sie nie
ankommen. Nicht mit dem Auto. Also rechts ab und dann
irgendwie wieder zurückfahren. Doch auch hier ist alles verstopft.
Langsam geht es, ganz langsam geht es doch voran,
immer wieder ein paar Meter. Etwas später rechts ab, irgendwie
hintenrum wieder zurück, nach Hause.
»Wen muss ich noch anrufen? Was kann ich nur tun? Was
mach ich denn jetzt?«, fragt sie sich, als sie etwas später in die
Garage ihres Einfamilienhauses fährt.
Ein Vater, irgendeiner,
muss los. Punkt zehn Uhr beginnt die Konferenz in der
Münchner Redaktion. Wie jeden Mittwoch. Das Handy klingelt.
Er hat es wieder nicht ausgemacht. Da er einen wichtigen
Rückruf erwartet, stellt er den Klingelton aus. Es vibriert. Er
schaut auf die Anzeige: Anrufer unbekannt. »Das kann nur VW
sein«, denkt der Journalist. »Da hatten wir eine Personalie im
Blatt, die sicher für Ärger sorgt. Vom Wechsel im Marketing
wusste noch keiner.« Und wieder vibriert das Handy.
Dass seine Frau ihn erreichen will, verzweifelt, kann er nicht
ahnen.
Längst hat die Konferenz begonnen. Es geht um Termine, dann,
etwas später, um die Titelplanung des nächsten Magazins. Wieder
und wieder vibriert das Telefon. Auf der Anzeige ständig
»unbekannt«. »Nein, ich gehe nicht ran, nicht jetzt.« Das
Handy nervt den Journalisten. Dessen Kollegen sind ebenfalls
genervt, weil es ständig rattert.
Dass seine Tochter ihn anrufen will, die in ihrer Schule eingesperrt
ist, kann er nicht ahnen.
Als er sich gerade wieder in die Besprechung einklinken will,
geht die Tür auf. Eine aufgeregte Mitarbeiterin aus dem Sekretariat.
»Kommst du bitte mal ganz dringend«, ruft sie ihm zu.
»Nicht jetzt«, mault er zurück, »wir ziehen erst die Konferenz
durch …«
»Nein, bitte, es ist ganz dringend, der Philipp ist am Telefon.
« Seine Mitarbeiterin wirkt äußerst beunruhigt.
Er verlässt den Raum, folgt ihr zum Telefon.
»Hallo?«
»Hallo, hier ist der Philipp«, sagt sein Kollege und Freund.
»Deine Frau hat mich eben angerufen. Keine Angst, es geht
ihr gut«, sagt er. Einfach so.
Das sagt man doch nur, wenn was ist, wenn es ihr nicht gut
geht, durchzuckt es ihn.
»Was ist denn los?«, platzt es aus ihm heraus.
In ganz ruhigen Worten erklärt er sehr, sehr langsam: »Es –
ist – ein – Amoklauf – an – der – Schule. Aber, keine Angst, es
sind alle in Sicherheit …«
Der Journalist will antworten und merkt, dass er keine
Stimme mehr hat.