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Warum es kein islamisches Mittelalter gab Das Erbe der Antike und der Orient
Warum es kein islamisches Mittelalter gab
Das Erbe der Antike und der Orient




Thomas Bauer

Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406727306 (ISBN: 3-406-72730-1)
175 Seiten, hardcover, 14 x 22cm, August, 2018

EUR 22,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Dem Islam wird gerne vorgeworfen, er sei im Mittealter stecken geblieben. Was aber, wenn es gar kein islamisches Mittelalter gab? Thomas Bauer zeigt an zahlreichen Beispielen, wie in der islamischen Welt die antike Zivilisation mit florierenden Städten und Wissenschaften weiterlebte, während im mittelalterlichen Europa nur noch Ruinen an eine untergegangene Kultur erinnerten. Ein kleines Meisterwerk, das konzis, verständlich und mit der nötigen Portion Gnadenlosigkeit unser Bild von einem reformbedürftigen "mittelalterlichen" Islam widerlegt.
Rezension
Muss der Islam noch die Renaissance und die Aufklärung durchlaufen? Ist der Islam eine mittelalterliche Religion? Gehört der Islam zu Deutschland? Solche von Vorurteilen und Unwissenheit geprägte Sichtweisen auf „den“ Islam dominieren den politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Essentialistische Formulierungen werden der Vielfalt der Muslima und Muslime mit ihren unterschiedlichsten Lebensweisen und Weltauffassungen in keinster Weise gerecht; es gibt nicht „den“ Islam. Persönlichkeitspsychologisch gesehen, besitzen Menschen „multiple Identitäten“, d. h. Menschen sind nicht auf ein einziges Identitätsmerkmal (z. B. Religion, Kultur, Geschlecht) zu fixieren, sondern sie „basteln“ sich ihre Identität aus unterschiedlichen Bausteinen. Wer über kulturhistorische Grundkenntnisse verfügt, ist ebenfalls über die in der Öffentlichkeit dominierende Sicht auf Muslima und Muslime sehr verwundert.
Dringend notwendige Aufklärungsarbeit leistet hierbei Thomas Bauer mit seinem Werk „Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient“. Der Münsteraner Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, bekannt u.a. durch seine Bücher „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011) und „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ (2018), dekonstruiert in seinem neuesten Untersuchung den pejorativ gebrauchten Begriff „islamisches Mittelalter“. Die eurozentrische Epochenbezeichnung „Mittelalter“, gemeinhin zur Charakterisierung der Zeit von 500 bis 1500 n. Chr. benutzt, entbehrt für die Welt des Mittleren Osten einer sachlichen Grundlage.
Anhand eines exzellenten kulturgeschichtlichen Vergleichs von Orient und Okzident vom 5. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts kann der Islamwissenschaftler überzeugend darlegen, dass in der islamischen Welt gar keine Epoche des Mittelalters existierte. Im Unterschied zum die Antike vergessenen Abendland bewahrte der Orient im so genannten Frühmittelalter das kulturelle Erbe der Antike und entwickelte es sogar weiter. Anhand von 26 Beispielen aus den Bereichen Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Alltag demonstriert Bauer eindrucksvoll die Überlegenheit der islamischen Welt gegenüber dem in Bildung und Kultur rückständigen Okzident. Im „A-Z des Mittealters“ finden sich kulturelle Erzeugnisse aufgeführt, die in der islamischen Kultur Verwendung fanden, während sie im Abendland erst über den islamischen Kulturtransfer wieder entdeckt werden mussten, wie z. B. Ziffern, Astrolab, Bäder, Dachziegel, Glas, Papier, Kupfermünzen. Im islamischen Kulturraum waren Lese- und Schreibfähigkeiten nicht wie in West- und Mitteleuropa die Ausnahme.
Minderheiten anderer Religionen wurden von den Muslima und Muslimen toleriert und die säkulare Sphäre geachtet, während im Okzident Xenophobie und Erbsündenlehre verbreitet waren. Bei dem von Bauer angestellten Vergleich, der verdient in Geschichtsbüchern aufgenommen zu werden, vermisst man allerdings die Philosophie. Ein Blick in die Philosophiegeschichte bestätigt Bauers Fazit. Während im Abendland zwischen den Philosophen Boethius (ca. 480-525) und Anselm von Canterbury (1033-1093) nur Johannes Eriugena (ca. 800-877) von Bedeutung ist, kann die islamische Welt mit drei Universalgelehrten und mit philosophischen Schulen aufwarten. Erwähnung verdienen der Erkenntnistheoretiker Abū Yūsuf al-Kindī (800-873), der Medizinethiker Abū Bakr ar-Rāzī (865-932), welcher für eine von der Theologie autonome Philosophie eintrat, sowie der Wissenschaftstheoretiker und politischer Denker Abū Nașr al-Fārābī (870-950).
Aufgrund seiner historischen Analysen und geschichtstheoretischen Reflexionen plädiert Bauer mit starken Argumenten dafür, auf die Epochenbezeichnung „Mittelalter“ grundsätzlich zu verzichten und die vorherrschende Trias Antike – Mittealter - Neuzeit durch eine andere, nicht-eurozentrische Periodisierung zu ersetzen: „romano-graeco-iranische Antike“ bis 250 n. Chr., Spätantike bis 1050, „Neuzeit“ bis 1750 mit einer Binnendifferenzierung zwischen einer „frühen oder ersten Neuzeit“ bis 1500 und einer „späteren oder zweiten Neuzeit“ bis 1750, ab 1750 Moderne. Bei seinem Vorschlag setzt der Wissenschaftler eine Epochenschwelle von 50 Jahren an.
Fazit: Bauer ist mit seinem kulturgeschichtlichen Buch „Warum es kein islamisches Mittealter gab“, erschienen bei C.H.Beck, ein wichtiger Debattenbeitrag zum „Islam-Diskurs“ und zur historischen Periodisierung gelungen, der Gehör verdient von Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten, Historikerinnen und Historikern sowie von Autorinnen und Autoren von Geschichtslehrwerken. Aufgrund der in kompakter Form, gut lesbar dargebotenen wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse kann Bauers Werk allen Lehrkräften, die sich im Unterricht differenziert mit Orient und Okzident in der Spätantike(!) auseinandersetzen möchten, sei es im Geschichts-, islamischen Religions- oder Ethikunterricht oder in einem fächerübergreifenden Projekt, nur zur Anschaffung empfohlen werden.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de

Verlagsinfo
Der Islam ist im Mittelalter steckengeblieben, hat Renaissance, Reformation und Aufklärung verpasst. So lautet die gängige Diagnose. Was aber, wenn es gar kein islamisches Mittelalter gab? Thomas Bauer zeigt an zahlreichen Beispielen, wie in der islamischen Welt bis zum 11. Jahrhundert die Antike weiterlebte, und widerlegt damit überzeugend die eingespielten Epochengrenzen und unser Bild von einem reformbedürftigen «mittelalterlichen» Islam. Jahrhundertelang waren im Orient die antiken Städte lebendig, mit Bädern, Moscheen und anderen steinernen Großbauten, während sie in Europa zu Ruinen verfielen. Ärzte führten die Medizin Galens fort, Naturwissenschaften und Liebesdichtung blühten auf. Kupfermünzen, Glas, Dachziegel, Papier: Im Alltag des Orients gab es lauter antike Errungenschaften, die Mitteleuropäer erst zu Beginn der Neuzeit (wieder) neu entdeckten. Thomas Bauer schildert anschaulich, wie die antike Kultur von al-Andalus über Nordafrika und Syrien bis Persien fortlebte und warum das 11. Jahrhundert in ganz Eurasien, vom Hindukusch bis Westeuropa, eine Zäsur bildet, auf die in der islamischen Welt bald die Neuzeit folgte. Ein kleines Meisterwerk, das konzise, verständlich und mit der nötigen Portion Gnadenlosigkeit eingefahrene Sichtweisen auf Orient und Okzident zurechtrückt.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt

Vorwort 7

1. Das «islamische Mittelalter»:
Sechs Gründe dagegen 11
1. Mangelnde Präzision 13 – 2. Fehlschlüsse 15 – 3. Mögliche
Herabsetzung 19 – 4. Exotisierung 21 – 5. Imperialistischer
Beiklang 23 – 6. Ein Begriff ohne sachliche Grundlage 28
2. Orient und Okzident im Vergleich:
Von «Analphabetismus» bis «Ziffern» 33
Analphabetismus 34 – Bäder 35 – Chancen 37 – Dachziegel
38 – Erbsündenlehre 41 – Feste 42 – Glas 43 – Homoerotik
45 – Individualismus 47 – Juden 49 – Kupfermünzen 51
Liebesdichtung 54 – Medizin 56 – Naturwissenschaften 58
Ordal 60 – Papier 61 – Quellen 62 – Religion 62 – Sexualität
64 – Tiere und Pflanzen 65 – Urbanität 66 – Verkehrswege
68 – Witze 68 – Xenophobie 69 – Ysop 70 – Ziffern
und Zahlen 72

3. Auf der Suche nach dem ganzen Bild:
Vom Mittelmeer bis zum Hindukusch 79
Epochenkonstruktionen 80 – Merkmalsbündel 88 – Die restringierte
Antike 90 – Die islamische Spätantike 99 – Zwei
Regionen in zwei Epochen? 103 – Die ausgehende Spätantike
als formative Periode 107 – Das erste Jahrtausend als
Epoche 115

4. Die islamische Spätantike:
Die formative Periode der islamischen
Wissenschaften 119

Das islamische Curriculum: Zwei Zeugen aus dem siebzehnten
und achtzehnten Jahrhundert 119 – Das elfte Jahrhundert, ein
saeculum horribile? 141

5. Das 11. Jahrhundert als Epochengrenze:
Fazit und Ausblick 149

Warum es kein islamisches Mittelalter gab 149 – Ein Blick auf
Afrika 151 – Und danach? 154

Zur Umschrift des Arabischen 159
Anmerkungen 160
Literatur 169
Bildnachweis 171
Personenregister 172