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Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen - Zeugnisse, Hinweise, Prävention Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt
Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen - Zeugnisse, Hinweise, Prävention
Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt




Andreas Zimmer, Dorothee Lappehsen-Lengler, Maria Weber, Kai Götzinger

Juventa Verlag , Beltz
EAN: 9783779922674 (ISBN: 3-7799-2267-3)
252 Seiten, paperback, 15 x 23cm, Januar, 2014

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
»Ich will dazu beitragen, dass so etwas heute nicht mehr passiert.« Dieses Anliegen greift der Band auf. Im Rahmen der Arbeit der Hotline der deutschen Bischofskonferenz wurden in tausenden Kontakten zahlreiche Hinweise gegeben, welchen Umgang sich Betroffene von sexueller Gewalt heute wünschen und wie in Zukunft Minderjährige in institutionellen Kontexten besser geschützt werden können.
Rezension
Neben schulischen Institutionen wie z.B. der Odenwald-Reformschule sind in den vergangenen Jahren insbesondere auch kirchliche Einrichtungen wegen sexuellen Kindesmißbrauchs ins Visier von Staatasanwaltschaften und Öffentlichkeit geraten. Die Katholische Kirche sucht unter Leitung des Bischofs von Trier Dr. Stephan Ackermann, beauftragt durch die Deutsche Bischofskonferenz, nun (hoffentlich) nach einer gründlichen Aufarbeitung der Situation zur Verbesserung des Schutzes für Opfer sexueller Gewalt in kirchlichen Institutionen. Dabei geht es insbesondere um folgende Aspekte, wie dieser Band deutlich macht: Die Wahrheit aufdecken, die Prävention stärken und Aufbau einer Hotline als niederschwelliges Angebot vetraulicher Kontaktaufnahme für Betroffene. So wird deutlich, welchen Umgang sich Betroffene von sexueller Gewalt heute wünschen und wie in Zukunft Minderjährige in institutionellen Kontexten besser geschützt werden können.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Andreas Zimmer, Diplom Pädagoge und promovierter Theologe, leitet seit 1999 die Beratungsdienste im Bistum Trier. Präventionsbeauftragter des Bistums Trier. Fachverantwortlicher für die Hotline der Deutschen Bischofskonferenz.
Dorothee Lappehsen-Lengler, psychologische Psychotherapeutin, langjährige Arbeit in der Erziehungs-, Ehe- und Lebensberatungsstelle des Bistums Trier in Saarbrücken, ab 1999 als Leiterin. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit mit traumatisierten Minderjährigen und deren Bezugspersonen, Aufbau von interdisziplinären Netzwerken mit dem Ziel, den Kinder- und Jugendschutz zu verbessern. Fachliche Leitung der Hotline für Opfer sexuellen Missbrauchs der deutschen Bischofskonferenz.
Maria Weber, Dipl.-Psych., langjährige Mitarbeiterin der Lebensberatung (Erziehungs-, Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle) des Bistums Trier in Lebach. Seit 2012 Leiterin der Lebensberatung Saarbrücken. Arbeitsschwerpunkt ist die Beratung von Eltern und Paaren mit besonderem Augenmerk auf die Auswirkungen von Traumatisierungen auf die Paarbeziehung und den Umgang mit den Kindern. Leitende Mitarbeiterin bei der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer von sexuellem Missbrauch.
Kai Götzinger, Dipl.-Psych., ist Leiter der Erziehungs-, Ehe-, Familien- und Lebensberatung des Bistums Trier in Saarlouis. Er befindet sich in fortgeschrittener Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten. Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Frühen Hilfen, Paarberatung sowie der Prävention sexuellen Missbrauchs. Er ist Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungs- und Familienberatung im Saarland sowie Mitglied des Vorstandes der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke).
Inhaltsverzeichnis
Teil A
Die Hotline der DBK für Opfer sexuellen Missbrauchs


Kapitel 1
Die Arbeit der Hotline 20

1.1 Konzeptionsphase und Auftrag: Vier Wochen Zeit für einen Baustein im Maßnahmenpaket gegen sexuellen Missbrauch 20
1.2 Arbeitsweise der Hotline 24
1.2.1 Fachliche Anforderungen an das Hotline-Personal 25
1.2.2 Drei Leistungsbereiche 29
1.2.3 Lotsenfunktion 34
1.2.4 Hintergrundarbeit 42
1.2.5 Schweigen, Auflegen, Stören – Eine Besonderheit der kostenfreien Hotline 46
1.3 Phasen der Hotline 48
1.3.1 „Jetzt will ich endlich reden.“ 49
1.3.2 „Darf ich noch mal mit Ihnen sprechen?“ 52
1.3.3 Abschluss der Hotline 55
1.4 Anliegen und Forderungen der Nutzer und Nutzerinnen 56
1.4.1 Anliegen 56
1.4.2 Forderungen 59
1.5 Funktionalität der Hotline 74
1.5.1 Anonymes Beratungsangebot 76
1.5.2 Internetberatung – Ein geeigneter Kommunikationsweg 77
1.5.3 Hotline als „Critical Incident Management System“ 79

Teil B
„Ich hatte Vertrauen“ – Hinweise von Betroffenen über die Verletzbarkeit von Minderjährigen


Kapitel 2
Datengrundlage und methodologische Einordnung der Daten 86

2.1 Beschreibung der Gesamtstichprobe 88
2.2 Regionale Verteilung der Inanspruchnahme 91

Kapitel 3
Licht ins Dunkelfeld – aus den Schilderungen Betroffener 96

3.1 Ein langer Weg – Betroffene brechen das Schweigen 96
3.2 „Ich war fast täglich dort.“ – Tatorte 103
3.3 „Es war doch Missbrauch, oder?“ – Art der gemeldeten Delikte 112
3.4 „Es war nicht nur einmal, …“ – Deliktserien 115
3.5 „Vergesst die Jungen nicht!“ – Männer und Frauen als Betroffene von sexueller Gewalt 120
3.6 „Sie haben nicht geholfen.“ – Missbrauch durch Peers 125

Kapitel 4
Sexuelle Gewalt durch kirchliche Funktionsträger aus Opfersicht 127

4.1 Missbrauch durch kirchliche Funktionsträger als Variante des Missbrauchs durch Inhaber helfender Berufe 128
4.2 Spezifische Ausnutzung des kirchlichen Rahmens durch Täter 136
4.2.1 „Ich hätte nie widersprochen.“ – Falsche moralische Autorität 137
4.2.2 „Ich habe das nicht durchschaut.“ – Religiöse Ergriffenheit und ausgeschaltete Schutzmechanismen 139
4.2.3 „Er sagte, wir seien jetzt in Liebe verbunden.“ – Spiritualität als Mittel der Verschleierung 141

Kapitel 5
Langzeitwirkungen auf Betroffene 143

5.1 Auswirkungen 143
Exkurs: seelische Verletzungen 144
5.2 Geschlechtsspezifische Folgen 151
5.3 Besonderheit: „Verstummte“ Religiosität 153

Kapitel 6
„Damit es künftig nicht mehr geschieht.“ Hinweise von Betroffenen für die Prävention in Institutionen 155

6.1 Sexuelle Gewalt in Institutionen allgemein 155
6.1.1 Strukturelle Stärken und Schwächen von Institutionen 156
6.1.2 Reaktionen von Institutionen auf sexuellen Missbrauch 161
6.1.3 Institution Kirche? – Zur verzweigten Aufbaustruktur kirchlicher Institutionen 164
6.1.4 Zur Notwendigkeit der Differenzierung: Institutionen und Täter mit überproportionaler Deliktfrequenz 165
6.2 Katholische Internate 170
6.2.1 Elitenbildung, Leistungsdruck, Ersatzfamilie – Risikofaktoren aus Sicht von Betroffenen 170
6.2.2 Hinweise für die Prävention aus einem Fallmosaik 173
6.2.3 Ansatzpunkte für künftige sichere Räume 195
6.3 Pfarreien 196
6.3.1 Individuelle Entwicklungskrisen, Familienkonflikte,Autoritätsstrukturen – Risikofaktoren aus Sicht von Betroffenen 196
6.3.2 Hinweise für die Prävention aus einem Fallmosaik 201
6.3.3 Ansatzpunkte für künftigen Kinder- und Jugendschutz 217
6.4 Kinder- und Jugendheime 218
6.4.1 Ausgeliefertsein, alltägliche Gewalt, Fehlen von Kontrolle, Täterkooperation – Risikofaktoren aus Sicht von Betroffenen 219
6.4.2 Hinweise für die Prävention aus einem Fallmosaik 223
6.4.3 Ansatzpunkte für künftige Kontrollmechanismen 234

Kapitel 7
Hinweisschilder auf dem Weg zu einer „Kultur der Achtsamkeit“ 236

7.1 Täterstrategien außer Kraft setzen und Schutzsysteme stärken 238
7.2 Partizipation stärken 240
7.3 Neue Räume für Betroffene/Opfer öffnen 241
7.4 Neue Zugänge zur Religiosität 242

Kapitel 8
Schlusswort 245

Literatur 247
Die Autoren und Autorinnen 251


Kapitel 1
Die Arbeit der Hotline
Als im Jahr 2010 das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs durch katholische
Amtsträger sichtbar wurde und entsprechend viele Meldungen eingingen,
stellte sich die Frage, wie man der Fülle an Einzelmeldungen gerecht werden
konnte. Sie sollten nicht in der Menge untergehen, sondern etwas bewirken.
Zwar hatten die Diözesen und Orden bereits 2002 durch die Benennung von
Ansprechpersonen für Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester einen Beschwerdeweg
geschaffen, auf diese große Zahl an Meldungen und Beschwerden
war jedoch niemand vorbereitet gewesen.
Da gute Erfahrungen mit der sogenannten Heimkinder-Hotline gemacht
worden waren, entschied die Deutsche Bischofskonferenz, in gleicher Weise
eine Tür für Betroffene von sexuellem Missbrauch zu öffnen.
1.1 Konzeptionsphase und Auftrag:
Vier Wochen Zeit für einen Baustein
im Maßnahmenpaket gegen sexuellen Missbrauch
Die Hotline im Themenfeld sexueller Missbrauch war ein Baustein in einem
ganzen Maßnahmenpaket, das verabschiedet wurde.
Anlässlich der Frühjahrsvollversammlung veröffentlichte die Vollversammlung
der Deutschen Bischofskonferenz am 25. Februar 2010 eine „Erklärung
aus Anlass der Aufdeckung von Fällen sexuellen Missbrauchs an
Minderjährigen im kirchlichen Bereich“. Darin wurden folgende Maßnahmen
beschlossen:
● „Die Wahrheit aufdecken“: Aufklärung, frei von falscher Rücksichtnahme,
wurde angekündigt.
● „Die Leitlinien auswerten“: Die bestehenden „Leitlinien zum Vorgehen
bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich
der Deutschen Bischofskonferenz“ vom 26. September 2002 sollten überarbeitet
werden. Dies geschah zum 23. August 2010 mit der neuen „Leitlinie
für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch
Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.
● „Die Prävention stärken“: Aus diesem Beschluss resultierte am 23. September
2010 die Vereinbarung einer Rahmenordnung „Prävention von
sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“
(ebd., S. 26 ff.).
● „Besonderer Beauftragter für alle Fragen im Zusammenhang des sexuellen
Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich“: Erstmalig
wurde ein Sonderbeauftragter ernannt. Ab dem 25. Februar 2010 übernahm
der Bischof von Trier, Dr. Stephan Ackermann, diese Funktion.
● „Aufbau einer Hotline“: Start einer bundesweiten Hotline zur Information
in Fragen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen
Bereich.
Die Hotline war also eine Sondermaßnahme, die dazu dienen sollte, zeitnah
ein Angebot für Betroffene einzurichten und so die Zeit zu überbrücken, bis
die neuen Regelungen für Intervention und Prävention erstellt waren. Auf
der Basis dieser Regelungen sollten die Diözesen und Ordensgemeinschaften
dann eigene Systeme zur Entgegennahme, Bearbeitung und Klärung von
Missbrauchsmeldungen aufbauen.
Zwischen der Entscheidung, eine Hotline einzurichten, und deren geplantem
Starttermin lagen vier Wochen. Damit war klar, dass keine neue Institution
aufgebaut werden konnte, die diese Aufgabe übernehmen würde.
Stattdessen sollte ein vorhandener Träger mit der Durchführung der Maßnahme
betraut werden. Im Heimbereich hatte sich bewährt, die Aufgabe eine
Hotline durchzuführen, an die katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung
im Erzbistum Köln zu übertragen. Daher suchte man wiederum
im Beratungsbereich und beauftragte die LEBENSBERATUNG im Bistum
Trier. Die LEBENSBERATUNG verfügt über Beratungsfachkräfte, die im
Themenfeld „sexuelle Gewalt“ geschult und im Umgang mit Betroffenen erfahren
waren. So konnte trotz der Kürze der Zeit ein Beratungsangebot in
einer den Anforderungen angemessenen Qualität bereitgestellt werden.
Dabei fielen sehr früh vier konzeptionelle Entscheidungen, die grundlegend
blieben:
1. Eine Hotline für Opfer: Zunächst wurde überlegt, eine Hotline für Täter
und Opfer anzubieten. Nach Beratung mit Fachkräften aus dem Bereich
der Opferberatungsstellen wurde davon aber Abstand genommen. Das
Leid der Opfer sollte im Mittelpunkt stehen und deren Wunsch entsprochen
werden, kein Angebot mit Tätern gemeinsam wahrnehmen zu wollen.
Demnach arbeitete die Hotline als Angebot der Deutschen Bischofskonferenz
für Opfer sexuellen Missbrauchs.
2. Ein niedrigschwelliges Angebot: Die Hotline sollte ein gebührenfreies
Angebot sein und den Anrufenden eine vertrauliche Kontaktaufnahme
ermöglichen. Anrufende sollten ihre Namen daher nicht nennen müssen,
sondern auf Wunsch eine anonyme Beratung und Informationen erhalten.
Ratsuchende sollten selbst darüber entscheiden, ob und in welchem
Umfang sie über die Delikte berichten und welche weiteren Schritte
sie gehen möchten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hotline
sollten der Schweigepflicht nach § 203 StGB unterliegen. Hierdurch
konnten sie Verschwiegenheit zusichern und würden sich strafbar machen,
wenn sie gegen diese Pflicht verstießen. Diese Anforderung wurde
bei der Personalauswahl und bei der institutionellen Verankerung der
Hotline berücksichtigt. Deshalb konnte versprochen werden, dass Informationen
nur bei ausdrücklichem Wunsch der Anrufenden an Dritte
weitergegeben wurden. Auch alle Informationen, die in dem hier vorgelegten
Buch zur Verfügung gestellt werden, unterliegen diesen Vorgaben.
Die Einzelheiten von Fallberichten wurden so vermischt, dass sie keinen
konkreten Personen mehr zugeordnet werden können.
Hauptanliegen der Hotline sollte es sein, Opfern eine Gelegenheit zu geben,
ihre Geschichte mit beraterisch-therapeutisch geschultem Personal
am Telefon oder durch Austausch von Nachrichten per Internet zu besprechen.
Diese Gespräche waren als Erstberatung mit Clearingfunktion
gedacht. Die Mitarbeitenden der Hotline waren darauf vorbereitet, dass
sich Menschen in akuter Reaktivierung von traumatischen Erlebnissen
an die Hotline wenden würden, und sollten dann mittels der fachlich üblichen
Verfahren stabilisieren und die Bewältigung der individuellen
psychischen Krise initiieren.
3. Ein Türöffner zu den Verantwortlichen in den Diözesen und Ordensgemeinschaften:
Der Auftrag der Bischofskonferenz stellte klar, dass
die Hotline nicht die Aufgaben der Diözesen und Ordensgemeinschaften
übernehmen sollte. Sie sollte vielmehr Missbrauchsvorwürfe (sofern von
den Anrufenden gewünscht) an die entsprechenden Beauftragten zur
weiteren Bearbeitung weiterleiten und damit „Türöffner“ zu den Verantwortlichen
in den Diözesen und Orden sein. Ein anspruchsvoller Auftrag,
wie sich bei der vorbereitenden Arbeit zeigte. Denn es galt, die verschachtelte
und gewachsene Struktur kirchlicher Verantwortlichkeiten
beschwerdeführend transparent zu machen.
4. Ein Angebot, das neue technische Möglichkeiten nutzt: Es sollten die
Möglichkeiten moderner Technik genutzt werden. Dies hatte vor allem
einen fachlichen Grund: Das vorhandene Personal, dass im Bereich der
LEBENSBERATUNG im Bistum Trier arbeitete, war über zwanzig
Dienststellen zwischen Trier, Bad Kreuznach, Koblenz und Saarbrücken
verteilt. Positiv ausgedrückt bedeutete dies, dass sie alle über eingerichtete
Arbeitsplätze verfügten, in ein Fachteam zur Intervision eingebunden
waren und auf die Logistik ihrer Beratungsstelle zurückgreifen konnten.
Diese Ressourcen sollten genutzt werden. Es galt auch, dass die notwendigen
Versetzungsverfahren und die Schaffung einer zentralen Logistik
nicht in der Kürze der Zeit möglich gewesen wären. Dies sollte dann in
der zweiten Phase vom 01. Juni 2010 bis 30. September 2011 geschehen.
Aufgrund der guten Erfahrungen in Phase 1 von März bis Mai 2010 blieb
aber eine Mischform aus dezentralen und zentralem Angebot erhalten.
Daher wurde in Trier lediglich eine Leitstelle eingerichtet, die technisch
die Schaltung der Hotline zu den unterschiedlichen Standorten, an denen
die Mitarbeitenden saßen, regelte. Ebenso wurden die Beratung über
das Internet und ein Internetportal als Angebote technisch integriert.
Dabei war das Angebot nicht nur für Menschen offen, die Opfer der Verbrechen
von Priestern, Ordensangehörigen und Angestellten der katholischen
Kirche geworden waren, sondern auch für andere, denen Familienmitglieder
oder Menschen aus dem familiären oder sozialen Nahbereich sexuelle
Gewalt angetan hatten. In den folgenden Ausführungen wird von „Kindern“,
„Jugendlichen“ oder „Minderjährigen“ gesprochen, da die Tatzeitpunkte der
Delikte in diese Lebensphase der Opfer fielen.
Für den Namen der Hotline boten sich verschiedene Varianten an, sowohl
bei dem Begriff „Opfer/Betroffene/Geschädigte“ wie auch bei dem Begriff
„sexueller Missbrauch“ oder „sexuelle Gewalt“. Der Begriff „Opfer“
nimmt Bezug auf den Opferbegriff aus dem Strafrecht und betont, dass Verbrechen
begangen wurden. Der Gesetzgeber gibt die Verantwortung für alle
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zu denen auch Missbrauch
an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen gehört, den Tätern, unabhängig
davon, ob die Opfer Widerstand entgegen gesetzt haben oder nicht.
Die Opfer haben in keinem Fall Schuld.
In zivilrechtlicher Sicht würde man die Adressaten der Hotline „Geschädigte“
nennen. Der Begriff betont, dass Ihnen Leid zugefügt wurde. Aber
auch bei diesem Begriff können bei einigen unangenehme Gefühle geweckt
werden. Auch wenn das Zivilrecht das nicht intendiert, macht „geschädigt
sein“ einigen Angst. Sie befürchten, dass der „Schaden“ doch größer sein
könnte als sie ihn erleben und dass sie vielleicht nicht so lebenstüchtig seien
wie andere.
Einige Opfer bevorzugen den Begriff „Betroffene“. Bei ihnen löst die
Formulierung „Opfer“ unangenehme Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein
aus. Der Begriff „Betroffene“ ist jedoch nicht eindeutig, da er auch
für Familienmitglieder oder Menschen in den sozialen Systemen verwendet
wird, die den Opfern nahe stehen. Auch Täter verwenden immer wieder für
sich diesen Begriff.
Schließlich wurde der Begriff Opfer gewählt. Damit sollte erstens betont
werden, dass es sich nicht um Bagatellen handelt, sondern um Verbrechen;
zum zweiten, dass die Jungen und Mädchen schuldlos sind; und drittens,
dass eindeutig nur Opfer und nicht Täter angesprochen werden sollten.
Aus ähnlichem Grund entschied man sich für den Begriff „sexueller
Missbrauch“. Wieder ist es der Begriff aus dem Strafrecht, der betont, dass
alleine die Täter verantwortlich sind und dass diese an den Opfern Verbrechen
verübt haben.
Bei den Hilfsangeboten für Opfer spricht man zwar eher von „sexueller
Gewalt“, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine Kindeswohlgefährdung
handelt, und die Missbraucher ihre Macht ausnutzen, um Delikte an Minderjährigen
zu verüben. Allerdings trennt man hier nicht klar zwischen
Straftaten und sexuellen Übergriffen. Sexuelle Übergriffe sind Formen von
Machtmissbrauch durch sexualisiertes Verhalten, also sexuelle Handlungen
vor und an Minderjährigen, die noch nicht strafbewehrt sind. Auch dieser
Begriff wäre möglich gewesen, da er Erkenntnisse aus der Tätertherapie berücksichtigt:
Sexuelle Übergriffe werden als typische Strategie zur Vorbereitung
und Planung sexueller Straftaten eingesetzt. Täter wollen so herausfinden,
wie gut sie ihre Taten vertuschen können.
Deshalb wurde der Name „Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für
Opfer sexuellen Missbrauchs“ gewählt.
In den Gesprächen selbst stellten sich die Mitarbeitenden der Hotline auf
die bevorzugten Begriffe der Menschen ein, die Kontakt aufnahmen.
Schließlich wurde festgelegt, dass eine Statistik geführt werden sollte, die
sich an fachlichen Standards von Opferberatungsstellen orientierte. Hierzu
wurde in der Konzeptionsphase fachliche Beratung eingeholt. Auf dieser statistischen
Erfassung basieren alle in diesem Buch wiedergegebenen Fakten.
1.2 Arbeitsweise der Hotline
Alle Angebote der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen
Missbrauchs wurden am 29. März 2010 um 13.00 Uhr öffentlich frei
geschaltet. Das Medieninteresse war enorm. Alle Fernseh- und Radiosender
und alle großen Printmedien brachten die Nachricht. Sie machten die Telefonnummer,
die Internetseite und die Internetberatungsmöglichkeit bundesweit
bekannt. Ohne diese Hilfe der Medien wäre es nicht möglich gewesen,
das Angebot in diesem Umfang den Adressaten mitzuteilen. Und das
zeigte Wirkung. In kürzester Zeit waren alle Telefonleitungen ausgelastet.
Viele Menschen schienen angespannt darauf gewartet zu haben, wann sich
endlich die angekündigte Möglichkeit zu telefonischem Kontakt eröffnen
würde.
Der Ansturm, wie über 8 000 Anrufversuche am ersten Tag zeigten, war
in der Planung so nicht erwartet worden. Binnen weniger Minuten lief der
Anrufbeantworter mit Nachrichten von berechtigterweise verärgerten Anrufenden
voll, die statt des erhofften Angebotes vertröstet wurden.
Das war nicht prognostiziert worden. Auch aus Fachkreisen wurde vorab
die Einschätzung geäußert, dass beim Anrufbeantworter die Info-Ansage
wichtiger war, nicht so sehr die Aufzeichnung, von der man annahm, dass
sie aufgrund der sensiblen Thematik kaum genutzt werden würde. Skeptische
Stimmen in der Öffentlichkeit hatten sogar bezweifelt, dass Betroffene
überhaupt ein Angebot der katholischen Kirche annehmen würden. Ausgangspunkt
der Planung war wiederum die Heimkinderhotline gewesen, bei
der es am ersten Tag um die 1 000 Anrufversuche gegeben hatte. Nun galt es,
schnell umzusteuern. Ein neuer Anrufbeantworter mit Festplatte bot unbegrenzte
Aufnahmezeit. Aber vor allem musste die Personalkapazität ausgeweitet
werden. Die flexible Struktur der Hotline erwies sich jetzt als Vorteil.
Denn die Zahl der Telefonplätze konnte aufgestockt werden. Und es kam ein
Zufall zu Hilfe. Bedingt durch den Starttermin befanden sich viele Mitarbeitende
in den Osterferien. D. h., sie hatten keine bereits festgelegten Beratungstermine
zu bewältigen. Dieser Umstand und die hohe Motivation der
Mitarbeitenden, auch ihre eigene Urlaubszeit zu unterbrechen, machten es
möglich, die Kapazität deutlich zu steigern und ab der zweiten Woche zumindest
die Hälfte bis zwei Drittel der Anrufenden direkt zu verbinden. Zudem
wurde ein Rückrufdienst für die Personen eingerichtet, die eine Nummer
auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatten.
Die Arbeitsweise der Hotline bestand in dieser Anfangsphase im Wesentlichen
darin, Betroffenen Gelegenheit zu geben, ihre Erlebnisse mit beraterisch-
therapeutisch geschultem Personal zu besprechen. Die telefonische
Beratung stabilisierte Menschen, die in akuter Reaktivierung von traumatischen
Erfahrungen anriefen, um so zur Bewältigung der Krise beizutragen.
Die Internetberatung bot zusätzlich die Möglichkeit zu einem längeren Begleitungs-
und Beratungsprozess.
1.2.1 Fachliche Anforderungen an das Hotline-Personal
Bei der Auswahl der Fachkräfte für die Hotline der Deutschen Bischofskonferenz
für Opfer von sexuellem Missbrauch wurde darauf geachtet, dass diese
Kenntnis von den typischen Reaktionen traumatisierter Menschen hatten,
wussten wie sie damit umzugehen haben und welche Interventionen
den Regeln der Kunst entsprechen.
Diese Reaktionen und die entsprechenden entsprechenden Interventionen werden im
Folgenden kurz skizziert.
26
Kontrolle über die weitere Schritte gewähren. Um den fachlichen Notwendigkeiten
zu genügen, die aus der Beachtung der psychischen Verletzung
von Opfern sexueller Gewalt und der daraus folgenden biographischen
Disposition entstehen, wurde darauf geachtet, dass die Kontrolle und die
Entscheidung über das weitere Vorgehen bei den Anrufenden blieben. Sie
entschieden, welche Leistung sie in Anspruch nehmen wollten und was der
nächste Schritt sein sollte. Da sexuelle Gewalt bedeutet, manipuliert und gefügig
gemacht zu werden oder ohnmächtig zu sein, sollten die Nutzer und
Nutzerinnen der Hotline im Kontrast dazu erfahren, dass sie das weitere
Verfahren bestimmen. Wenn sie wollten, wurden gemeinsam mit ihnen die
Vor- und Nachteile verschiedener Optionen besprochen.
Ungünstiger narrativer Speicherung entgegenwirken. Die Fachkräfte der
Hotline waren zusätzlich darin geschult, einer ungünstigen narrativen Speicherung
der Missbrauchserfahrung entgegenzuwirken.
Aus den Prozessen der Verarbeitung psychischer Traumata weiß man,
dass nicht alleine das Ausmaß eines traumatischen Erlebnisses über die Heilung
und Bewältigung entscheidet, sondern auch die Art, wie diese Erfahrung
narrativ im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, und ob das eigene
Verhalten als selbstwirksam zur Beendigung der Krise und Steuerung der
Erholung und Heilung erlebt wird.
Unter narrativer Speicherung versteht man die Festigung von Erinnerungsinhalten
im Langzeitgedächtnis. Diese Erinnerung wird dadurch möglich,
dass das Erleben in Worte gefasst wird. Betont diese sprachliche Speicherung
die Ohnmacht, das Entsetzen, das Ausgeliefertsein oder andere
unangenehme Gefühle wie Ekel, Scham, Abscheu, dann werden diese bei
aktiver oder passiver Erinnerung wieder aktiviert und setzen das körpereigene
Alarmsystem in Kraft. Der Körper reagiert so, als sei er wieder in Gefahr,
ohne zu erkennen, dass es sich nicht um eine reale Gefahr, sondern nur
um eine Erinnerung handelt. Die dadurch freigesetzten Stoffe, die nötig und
wichtig sind, um eine reale Gefahr abzuwenden, wirken jetzt nicht nur auf
das Herz-Kreislaufsystem schädigend, sondern auch auf das Gehirn.
Intrusionen unterbrechen, bei Flashback beruhigen und stabilisieren.
Der Slogan „Sprechen hilft“ stimmt nicht ganz. Das spürten auch diejenigen,
die lange abwägten, anzurufen und von ihren bedrückenden Erlebnissen
zu berichten oder doch nicht an dieser Wunde zu rühren. Denn ob
Sprechen hilft, hängt von der Art ab, wie über ein Trauma gesprochen wird.
Wird durch (wiederholtes) Sprechen wieder der Schrecken, der Ekel, die
Ohnmacht betont, dann versetzt das Sprechen den Berichtenden erneut in
diese Gefühle und fördert ein Nacherleben des Unerträglichen.
Die Fachkräfte unterbrachen diese Intrusionen und lenkten die Aufmerksamkeit
auf die aktuelle Sicherheit der Nutzer und Nutzerinnen der
Hotline.
Mit Intrusion wird ein intenives Nacherleben eines traumatischen Geschehens
benannt. Bei einigen Menschen geht dieses Nacherleben soweit,
dass sie wieder alles erneut durchmachen. Sie riechen wieder die Gerüche
von damals, sie hören die Geräusche, sie fühlen die Berührungen auf ihrer
Haut, sie erleben wieder dieselbe Angst, das Entsetzen, die Scham, die Ohnmacht
– ohne Einflussmöglichkeit. Im Unterschied zu Halluzinationen wissen
die Menschen, dass es eine Erinnerung ist, aber sie haben keine Kontrolle
darüber. Sie können sie nicht willentlich beeinflussen. Eine Zeitlang nahm
man an, dass diese Art des Wiedererlebens heilsam sei, weil sie karthartische
(reinigende) Wirkung habe. Für Menschen, die eine traumatische Erfahrung
verarbeiten müssen, trifft dies aber nicht zu. Die Problematik wird
im Gegenteil sogar verfestigt. Intrusionen sind erneute Traumatisierungen
mit körperlichen Begleiterscheinungen, die Betroffene teilweise emotional
in helle Aufregung versetzen, aber ihnen nicht helfen. Hilfreich ist vielmehr,
bei dem Darüber-Sprechen Selbstwirksamkeit zu erleben, indem man zum
Beispiel dem Opfer vor Augen führt, wie jemand dadurch das Schweigegebot
bricht und den Täter entmachtet. Das ist das Gegengewicht zur Ohnmacht.
Hilfreich ist auch, sich mit dem klaren Wissen, jetzt in Sicherheit zu
sein, ganz bewusst und kontrolliert zu erinnern. Der Peiniger oder die Peinigerin
ist nicht anwesend, es besteht keinerlei Gefahr. Es ist nur der
Mensch da, der sich erinnert. Und dieser kann lernen, die Art und Weise
des Erinnerns zu steuern.
Unter Flashbacks versteht man das Überflutetwerden von heftigen Gefühlen,
die mit dem traumatisierenden Geschehen verbunden sind, ohne
dass aktuell eine Gefahr besteht.
Angst und Wut sind Gefühle, die ein körpereigenes Stress- und Aktivierungssystem
in Gang setzen. Dieses System befähigt, zu kämpfen oder zu
flüchten. Angst vor einem Menschen zu haben, der einem etwas Böses antun
will, hilft, sich zu schützen. Ekel soll helfen, Unverdauliches und Verdorbenes
zu erkennen. Wut setzt Stoffe frei, die das Kämpfen gegen einen
Angreifer ermöglichen, Ekel setzt Stoffe frei, die zwingen, sich fernzuhalten.
Angst, Wut und Ekel sind Gefühle der körpereigenen Alarmanlage. Sie
warnen vor Gefahren.
Allerdings geht diese Alarmanlage nicht nur an, wenn jemand tatsächlich
gefährlich ist oder wird, sondern sie kann bei Allem aktiviert werden, was
mit der ursprünglichen Gefahr verknüpft wurde. Gefühle werden auf alles
Mögliche übertragen, das im Zusammenhang mit der Tat/den Taten steht.
So schildern Betroffene, dass ihnen beim Geruch von Weihrauch schlecht
wird, oder dass sie beim Geläut von Glocken oder beim Anblick eines Pries-
ters im Messgewand nicht mehr still sitzen können, weil sie eine innere Unruhe
erfasst. Eine „salbungsvolle“ Art zu sprechen, bestimmte Worte, die aus
dem Mund des Täters bekannt sind, können den intensiven Wunsch auslösen,
zu fliehen oder anzugreifen. Lösen die Hinweisreize diese heftigen
emotionalen Reaktionen aus, nennt man sie Trigger.
Aktualisierung normalisieren. Fernsehen, Internet, Presse und Hörfunk
boten über einen langen Zeitraum hinweg ständig Erinnerungsreize. Das
musste bei Opfern Reaktionen auslösen. Positiv gesprochen ermöglichte (erzwang)
diese intensive Medienpräsenz bei Betroffenen, dass diese mit ihren
eigenen psychischen Verletzungen wieder in Kontakt kamen (Zimmer 2011,
S. 4).
Sie schilderten, wie sich auf einmal – für sie selbst überraschend und
schwer zu verstehen – Erinnerungen aufdrängten, die sie nicht mehr aus
dem Kopf bekamen und die sie bis in den Schlaf verfolgten. Gestandene
Persönlichkeiten, die im Beruf erfolgreich waren und von einem erfüllten
Privatleben sprachen, brachen bei den Schilderungen immer wieder in Tränen
aus und konnten nur stockend sprechen – so nah waren für sie die Szenen
wieder. Die Anrufenden brachen zum Teil Gespräche ab, wenn die unangenehmen
Erinnerungen zu belastend wurden. Ebenso gab es viele, die
schwiegen – förmlich die Luft anhielten –, wenn der telefonische Kontakt
zustande kam, oder ankündigten, sie würden sich nochmals melden, sobald
sie sich wieder gefasst hätten. Vielfach waren Gespräche von Tränen und
Schluchzen begleitet, manche von Wut.
Für einige war es mit enormen Stress verbunden, zu sprechen; sie fühlten
sich wieder wie das Kind, das ausgeliefert war, das sich verwirrt und geschockt
schämte und sich allein fühlte.
Generalisierungen gelassen begegnen. Einige der Hotline-Nutzerinnen
und Nutzer waren voller Angst, andere voll Wut – Gefühle, die gegenüber
denjenigen, die sie gequält hatten, gesund und angemessen sind. Manche
übertragen diese Gefühle auch auf Unbeteiligte, die die Taten weder begangen
hatten, noch sie in irgendeiner Weise billigten. Die Fachkräfte kannten
dieses Phänomen der Generalisierung und versuchten, bei Beschimpfungen
gelassen zu bleiben.
Zur Generalisierung gehört auch das Phänomen, dass harmlose Reize
(bestimmte Kleidung oder Geräusche) panische Reaktionen oder Ekel auslösen
können.
Zwiespältigkeit ernstnehmen. Die Fachkräfte rechneten mit unterschiedlichen
Wünschen bei den Nutzerinnen und Nutzern der Hotline. Jahrzehntelang
„Vergessenes“ war diesen teilweise wieder so deutlich vor Augen, als sei
es gestern gewesen. Das verunsicherte, machte Angst und wühlte auf. Oft
waren die Impulse zwiespältig. Der Wunsch, sich zu melden, stand neben
dem Wunsch, die Sache wieder schnell zu vergessen. Das Anliegen, die Geschichte
dürfe nicht verloren gehen, konkurrierte mit der Sorge, als unglaubwürdig
dazustehen oder sich als „Nestbeschmutzer“ mit der Bekanntmachung
nur Ärger und Unannehmlichkeiten einzuhandeln. Der Wunsch,
eine Forderung nach Entschädigung zu stellen, kämpfte gegen die Angst,
man würde für mitschuldig erklärt oder als Trittbrettfahrer gesehen werden.
Die Fachkräfte am Telefon waren gefordert, warmherzig zuzuhören, zu stabilisieren,
von Schuldgefühlen zu entlasten, zu informieren. Immer wieder
äußerten die Anrufenden, sie hätten noch nie mit jemandem darüber gesprochen,
was ihnen angetan worden war. Vielen hatte es große innere
Kämpfe abverlangt, sich bei der Hotline zu melden.