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Reisen zum Ende der Welt Gespräche mit Sterbenden
Reisen zum Ende der Welt
Gespräche mit Sterbenden




Jörg M. Pönnighaus

Reihe: edition exemplum


Athena Verlag
EAN: 9783898965811 (ISBN: 3-89896-581-3)
132 Seiten, paperback, 14 x 21cm, 2014

EUR 14,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Wie geht man mit der Diagnose Krebs um, wenn die Hoffnung auf Genesung äußerst gering ist? Wie geht man als Arzt damit um, an Grenzen zu stoßen, sowohl fachlich als auch menschlich? Ist es moralische Verpflichtung, auch niederschmetternde Wahrheiten auszusprechen, oder verschweigt man, um noch Hoffnung geben zu können?

Pönnighaus macht es sich nicht leicht mit der Antwort auf diese Fragen, seine persönliche Betroffenheit ist immer gegenwärtig. Und doch wählt er im Gespräch mit seinen Patienten zumeist den direkten, kaum beschönigenden Weg.

Das ist verstörend und beklemmend – einerseits. Andererseits sind die Aufzeichnungen der den Leidensweg begleitenden Gespräche nicht nur »Reisen zum Ende der Welt«, sondern auch Geschichten vom Leben, von Hoffnung, menschlicher Nähe und Warmherzigkeit. Und sie zeigen, dass es auf die eingangs gestellten Fragen gar keine allgemeingültige Antwort gibt, denn jeder der Patienten geht vollkommen anders mit dem nahenden Tod um und somit auch mit der vom Arzt ausgesprochenen Wahrheit.

Der eine rückt näher an die Familie heran, der andere begegnet dem nahenden Ende mit Gelassenheit, der nächste mit Verdrängung. Man selbst empfindet beim Lesen, wie der schwerkranke Herr Böhm, trotz Traurigkeit auch Dankbarkeit für die ehrlichen Worte: »Das war gut […] Es hat mir erlaubt, diese seltsam schöne Erde noch einmal so richtig zu genießen.«

Jörg M. Pönnighaus, geboren 1947 in Ostwestfalen. Studium der Medizin in Gießen. 25 Jahre seines Lebens verbrachte er als Arzt und Krankenhausleiter in Afrika (Sambia, Malawi, Tansania). Nach seiner Rückkehr arbeitete er am Vogtlandklinikum in Plauen.
Rezension
Diagnose Krebs - tagebuchartig lässt der Oberarzt und Autor den Leser teilhaben an den Dialogen zwischen dem Hautarzt und seinen Patienten, geführt in den Jahren 1999 bis 2012. Ungewöhnlich offen spricht der Autor mit den betroffenen Männern über den nahenden Tod, er wählt im Gespräch mit seinen Patienten zumeist den direkten, kaum beschönigenden Weg. Darin aber zeigen sich nicht nur niederschmetternde Elemente, sondern auch Elemente vom Leben, von Hoffnung, menschlicher Nähe und Warmherzigkeit. Und es zeigt sich: Jeder Patient geht anders mit dem nahenden Tod um und somit auch mit der vom Arzt ausgesprochenen Wahrheit. Wichtig erscheint: Die Erzählenden finden einen Menschen, der zuhört, Empathie zeigt - und so Trost spendet.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Rezensionen

»Das Buch sei allen onkologisch tätigen oder tätig gewesenen Dermatologen wärmstens empfohlen. Sie werden sich und erlebte Gedanken und Situationen oft wiedererkennen.«
Prof. Dr. Lutz Kowalzick, Akt Dermatol 2015, Nr. 41, S. 30–34.

»Tagebuchartig lässt der Autor den Leser teilhaben an den Dialogen zwischen dem Hautarzt und seinen Patienten, geführt in den Jahren 1999 bis 2012 am Helios-Krankenhaus, an dem Pönnighaus viele Jahre Oberarzt der Dermatologischen Abteilung war. [...] Ungewohnt offen spricht Pönnighaus mit den Männern über den Tod, darüber, wie die ›Reise‹ sich ereignen wird, wie die Familie damit umgeht, was danach kommt. [...] Abseits der Gespräche über das Sterben offenbaren die kranken Männer ihr Leben, sprechen von Zeiten, in denen sie glücklich waren mit Ehefrau, Familie, in Beruf und Freizeit, im Eigenheim und dem kleinen Garten. In Pönnighaus finden die Erzählenden einen Menschen, der zuhört, Empathie zeigt, Trost gibt.«
Cornelia Henze, Vogtlandanzeiger 2015.
Inhaltsverzeichnis
Herr Böhm 9
Der Schmied 61
Herr Baum 79


Leseprobe:

Herr Böhm
Freitag, 13. August 2010
Halb sieben in der Klinik. Verbandswechsel. Oberarztvisite. Dann ein
ungeduldiger Anruf vom Op, dass Herr Gustmann seit einer halben
Stunde auf dem Tisch liege … den Patienten zusammen mit den Unfallchirurgen
operiert. Ein Anruf von Frau Froh, wo ich denn bleibe,
sie habe eine Privatpatientin für eine Ultraschalluntersuchung für mich.
Aber als ich von Frau B. (der Pflegedienstleiterin, die ich für die Ethikkommission
gewinnen wollte) zurückkam, nahm ich mir einfach die
Zeit und ging zu Herrn Böhm. Er war gerade im Bad, genauer gesagt,
in der »Nasszelle« von seinem Zimmer. Ich setzte mich an sein Bett am
Fenster. Draußen regnete es schon wieder in Strömen. Herr Böhm ist
65 Jahre alt. Er kam am Mittwoch. Er erzählte mir bei der Aufnahme
kurz, dass er mich kenne, ich hätte vor 12 Jahren ein Melanom bei ihm
herausgeschnitten. Auf seinem Rücken.
Herr Böhm setzte sich auf sein Bett.
»Ich habe keine guten Nachrichten für Sie«, sagte ich, »alle fünf Knoten
waren Melanommetastasen. Und da hat es einfach keinen Sinn, darum
herumzureden. Alle fünf Knoten waren Metastasen. Ich habe eben das
Untersuchungsergebnis bekommen.«
Herr Böhm nickte: »Sie hatten ja gesagt, Sie würden heute das Ergebnis
bekommen. Und es überrascht mich nicht, dass es Metastasen waren.
Die Knoten kamen so schnell …«
Drei von den fünf Metastasen hatte ich nicht einmal im Gesunden
exzidiert, aber das wollte ich Herrn Böhm nicht sagen.
»Die Metastase in der Oberlippe ist vielleicht noch nicht im Gesunden
herausgeschnitten. Aber das hatte ich auch nicht erwartet, dass ich die
vollständig exzidiert hatte. Ich wollte Ihre Oberlippe nicht verunstalten,
ohne zu wissen, was es genau war.«
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Herr Böhm nickte.
»An der Oberlippe werde ich also bestimmt noch einmal nachschneiden
müssen. Dort können wir keine Metastase wachsen lassen. Das
wäre schlimm!«
»Und wie wird es jetzt weitergehen?«
»Na ja, jetzt müssen wir Sie einfach von Kopf bis Fuß durchuntersuchen
und dann weitersehen. Wenn wir keine weiteren Auffälligkeiten
finden, sollte ich nicht nur die Oberlippe noch einmal operieren – das
sowieso – sondern einfach alle Stellen noch einmal nachschneiden, um
eventuelle Krebszellen in der Umgebung noch zu erwischen … Wenn
wir keine weiteren Metastasen finden, heißt das freilich nicht, dass Sie
keine weiteren haben. Metastasen müssen einfach eine gewisse Größe
haben, bevor sie im CT oder im Röntgen und erst recht im Ultraschall
auffallen. Einen Beweis dafür, dass keine Melanomzellen mehr im
Körper sind, gibt es nicht.«
Herr Böhm nickte. »Und was gibt es noch für Optionen«, fragte er
dann.
»Na ja, wenn sich nichts weiter findet, werden wir Ihnen eine sogenannte
Immuntherapie anbieten. Wenn sich weitere Metastasen finden,
bleibt nur eine Chemotherapie – soweit sich der eine oder andere Knoten
nicht vielleicht auch noch herausschneiden lässt. Aber von beiden
Behandlungen dürfen Sie nicht viel erwarten, nicht zu viel erwarten.
Auf eine Chemotherapie sprechen kaum 20 % aller Melanompatienten
an und die Immuntherapie verlängert die Lebenszeit im Schnitt auch
nur von 33 auf 36 Monate, wenn ich mich richtig an die Studie erinnere,
auf der die ganze Immuntherapie basiert. Mehr nicht.«
»Und was sind die Nebenwirkungen?«
»Die übelste Nebenwirkung der Immuntherapie ist eine Depression.
Wenn die sich einstellt, muss man einfach mit der Behandlung aufhören.
Es hat keinen Sinn, wenn sich ein Patient wegen der Behandlung vor
einen Zug legt. Und die Chemotherapie geht halt aufs Knochenmark.
In rosigeren Farben kann ich Ihnen die Behandlungsmöglichkeiten
einfach nicht malen.«
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»Ich danke Ihnen, dass Sie so ehrlich zu mir sind. Und ich danke Ihnen,
dass Sie sich diese Zeit für mich genommen haben. Wozu würden Sie
mir denn raten?«
Ich zögerte: »Ach, wissen Sie, da spielt so vieles eine Rolle … Sind Sie
verheiratet?«
»Ja.«
»Und was macht Ihre Frau?«
»Sie ist auch in Rente. Sie war Krankenschwester … Und ich verdanke
ihr mein Leben. Als wir 1997 auf Kreta im Urlaub waren, hat sie mich
immer eingerieben. Und im Frühjahr 98 hat sie dann plötzlich gesagt,
da ist was Neues auf deinem Rücken. Du musst damit zum Arzt. Na
ja, wie Männer so sind, ich bin dann erst im Herbst 98 zu Ihnen gekommen.
Aber trotzdem.«
»Dachte ich es mir doch, dass Sie von Medizin eine Ahnung haben!
Haben Sie Kinder?«
»Eine Tochter.«
»Und Enkel?«
»Ja, zwei Enkel, die sind 16 und 18.«
»Und wo wohnen die?«
»In Erfurt. Aber mein Schwiegersohn arbeitet in Köln und kommt nur
wochenends. Und da fahre ich alle drei Monate nach Erfurt, um mich
für meine Tochter ums Haus zu kümmern. Die ist nicht so praktisch
veranlagt.«
»Was haben Sie von Beruf gemacht?«
»Ich war Bauingenieurlehrer.«
»Ah ja. Aber wieso führt Ihre Tochter eine Wochenendehe.«
»Mein Schwiegersohn ist Wessi. Meine Tochter hat ihn bei einem
Besuch in Frankfurt am Main kennen gelernt. Er war Bereichsleiter
bei LIDL und wurde dann nach Erfurt versetzt. Dort haben sich die
beiden dann ein Haus gebaut. Aber nach ein paar Jahren wurde ihm
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eine Stelle als Gebietsleiter in Köln angeboten. Und seitdem führen
die beiden eine Wochenendehe.«
»Das taugt nichts. Oder jedenfalls nur für eine gewisse Zeit.«
»Nein, das taugt nichts. Kein bisschen taugt das. Ich habe damals
bei der Wende gesagt, wir haben uns seit vierzig Jahren auseinander
entwickelt. Nun glaubt doch bloß nicht, wir würden nahtlos wieder
zusammen passen. Aber alle waren so euphorisch. Da durfte man so
etwas nicht laut sagen. Dann gehörte man zu den Gestrigen. Jetzt weiß
ich, dass ich Recht hatte.«
»Und was haben Sie nach der Wende gemacht?«
»Erst war ich ein Jahr lang arbeitslos, dann habe ich eine Sauna gebaut
und die betrieben. Dabei habe ich natürlich mit meiner Gesundheit
Raubbau betrieben. Morgens um acht bis abends um halb zwölf in
der Sauna. 600 000 DM hat der Bau damals gekostet, aber inzwischen
habe ich die Schulden auf die Hälfte reduzieren können und die Sauna
abgegeben. Nicht verkauft, abgegeben. Mit den restlichen Schulden.«
»Wo wohnen Sie?«
»In Auerbach.«
»Richtig, das sagten Sie schon am Mittwoch. Und, reicht denn die
Rente?«
»Ja, ich habe zu DDR Zeiten gut verdient, und darum reicht die Rente.
Aber wie lange habe ich denn jetzt noch?«
»Ach, wissen Sie, das kann Ihnen niemand sagen, wie viel Zeit Sie noch
haben. Es kann sein, dass Sie nur noch sechs Monate haben und es kann
sein, dass Sie noch sechs Jahre haben. Das weiß wirklich niemand. Sie
müssen einfach mit dem Schlimmsten rechnen und doch die Hoffnung
nicht aufgeben.«
»Na ja, so schlimm ist das Sterben ja auch nicht.«
»Das sagen Sie so. Wenn das Sterben noch weit weg ist, kann man
leicht sagen, das ist nicht so schlimm. Aber wenn es näher und näher
kommt, ist es dann plötzlich doch nicht mehr so einfach zu sterben.
Das kenne ich wohl. Glauben Sie, dass mit dem Tod alles vorbei ist?«