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Pädagogik in der Krise
Pädagogik in der Krise




Jürg Blickenstorfer

Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781509344 (ISBN: 3-7815-0934-6)
316 Seiten, 15 x 21cm, September, 1998

EUR 20,40
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In einer Neuinterpretation der Hauptwerke von Nohl, Spranger und Litt zur Zeit der Weimarer Republik gelangt diese Arbeit zu der These, daß die sogenannte „geisteswissenschaftliche“ Pädagogik im Kern als Antwort zu verstehen ist auf gesellschaftliche, ökonomische und politische Gegenwartskrisen.

Deutliche Unterschiede in der theoretischen Produktion, wie dann auch in der Rezeption bis heute, können so erklärt werden aus Unterschieden im Krisenbewußtsein.

Damit wird eine Interpretationsebene erreicht, die über Kritiken, Apologien oder bloße Darstellungen hinausgeht. Die Tatsache, daß dieses Denken in die pädagogische Praxis stets erneut auftaucht wird somit einer ersten Erklärung zugeführt.



Dr. Jürg Blickenstorfer hat Pädagogik und Psychologie an der Universität Zürich studiert. Seit 1984 lehrt er Allgemeine Heilpädagogik und Pädagogische Psychologie am Heilpädagogischen Seminar Zürich.
Rezension
Die sogenannte „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“ war bis Anfang der 1970er Jahre die dominierende Richtung innerhalb der Erziehungswissenschaft. Schüler Erich Wenigers proklamierten in einer ihrem Lehrer gewidmeten Festschrift, die erst 1968 erschien, der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik den „Ausgang ihrer Epoche“. Bereits 1962 forderte Heinrich Roth in seiner Antrittsrede an der Universität Göttingen „die realistische Wendung der Pädagogik“. In den 1970er Jahren vollzog sich innerhalb der wissenschaftlichen Pädagogik ein Paradigmenwechsel von der kulturphilosophisch geprägten Pädagogik zu einer modernen Sozialwissenschaft. Geisteswissenschaftliche Pädagogik wurde als überholt, traditionalistisch und spekulativ kritisiert. Kritisch-rationalistische Erziehungswissenschaft und eine sich der „Frankfurter Schule“ verpflichtete Kritisch-konstruktive bzw. Kritisch-kommunikative Erziehungswissenschaft bestimmten die pädagogische Diskussion im Jahrzehnt der sozial-liberalen Koalition. Aber bereits Mitte der 1980er Jahre setzte eine Rehabilitierung der verpönten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik ein, nachdem die Grenzen und Schwächen der anderen Richtungen zutage getreten waren. Zur Zeit lässt in der Erziehungswissenschaft zwar nicht von einer Renaissance Geisteswissenschaftlicher Pädagogik sprechen, wohl aber von einem verstärkten Rückgriff auf Theorien geisteswissenschaftlicher Pädagogen bzw. geisteswissenschaftliche orientierter Ansätze.
Ein Beleg für diese wohlwollende Rezeption pädagogischer Ideen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert ist auch das 1998 von dem Züricher Heilpädagogen Jürg Blickenstorfer im Verlag „Julius Klinkhardt“ erschienene Buch „Pädagogik in der Krise. Hermeneutische Studie, mit Schwerpunkt Nohl, Spranger, Litt zur Zeit der Weimarer Republik“. Mit seiner Untersuchung verfolgt der Wissenschaftler die Intention „Attraktivität, Möglichkeiten und Grenzen ‚geisteswissenschaftlicher Pädagogik‘ im Feld der pädagogischen Praxis von heute zu verstehen."(S. 17) Dieses Ziel versucht Blickenstorfer durch eine „Neuinterpretation bekannter Werke von Herman Nohl, Eduard Spranger und Theodor Litt“ zu erreichen (S. 9). Die Fokussierung auf diese drei Pädagogen begründet Blickenstorfer mit ihrem Beitrag für die Begründung einer autonomen Pädagogik und mit der Behauptung, dass die Zeit der Weimarer Republik geprägt sei von Problemen, die auch heutzutage Aktualität aufweisen (S. 17). Ausdrücklich betont Blickenstorfer, dass die Vergegenwärtigung Geisteswissenschaftlicher Pädagogik nicht unter dem Primat der „Konservierung“ steht, sondern unter dem der „Wiederaufbereitung und Wiedereinspeisung in den pädagogischen Diskurs der Gegenwart“ (S. 17).
Dabei stützt sich der Heilpädagoge auf zentrale klassische Texte von Nohl, Spranger und Litt, die Blickenstorfer unter Heranziehung von Forschungsliteratur gut verständlich interpretiert. Archivalien wie zum Beispiel ungedruckte Briefe der Protagonisten werden von dem Heilpädagogen nicht berücksichtigt. Der Blickenstorfer beginnt seine Darstellung der einzelnen Pädagogen einheitlich mit einer „biographischen Skizze“, auf die „anthropologische Grundlagen“ folgen. Darauf elaboriert der Pädagoge die zentrale Problemstellung des jeweiligen Denkers und entfaltet dessen pädagogisches Programm.
Mehrere Aussagen von Blickenstorfer über die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und ihren zeithistorischen Kontext bedürfen allerdings der Differenzierung. So wird das Verhältnis von Nohl zum Nationalsozialismus undifferenziert dargestellt (vgl. 30). Blickenstorfers Darstellung der ‚Normalform‘ Geisteswissenschaftler Pädagogik beschränkt sich auf nur drei Charakteristika dieser Richtung. Blickenstorfer übernimmt auch unkritisch ein Urteil Wolfgang Klafkis zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. So schreibt der Heilpädagoge unter Bezugnahme auf Klafkis Aufsatz „Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie“ (1971): „In ihrer Einengung der Fragestellung zog ‚geisteswissenschaftliche Pädagogik‘ aus tatsächlich vorhandenen Unzulänglichkeiten früher empirischer Forschungsansätze den falschen Schluss, solche Verfahren seien für pädagogische Wissenschaft an sich nicht oder bloss marginal bedeutsam.“ (S. 275) Diese Behauptung bedarf der Differenzierung, denn einer der ersten geisteswissenschaftlichen Pädagogen, der Philosoph Max Frischeisen-Köhler, den Blickenstorfer in seinem Werk nicht einmal namentlich erwähnt, hat in seinen Arbeiten sehr wohl die Möglichkeiten und Grenzen empirischer Ansätze gewürdigt. Der frühe Dilthey-Schüler forderte eine Pluralität erziehungswisschaftlicher Forschungsmethoden. Blickenstorfers Nicht-Berücksichtigung der ersten beiden geisteswissenschaftlichen Pädagogen Rudolf Lehmann und seines Schülers Max Frischeisen-Köhler leistet dem in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung verbreiteten Bild Vorschub, Geisteswissenschaftliche Pädagogik sei erst in den 1920er Jahren entstanden. Dadurch wird insbesondere Frischeisen-Köhlers Ansatz einer modernen interdisziplinären Pädagogik, der sich von den erziehungswissenschaftlichen Auffassungen von Nohl, Spranger und Litt unterscheidet, marginalisiert.
Fazit: Blickenstorfers verständlich geschriebene Buch zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik unterstreicht die Aktualität geisteswissenschaftlich orientierter Pädagogik.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Inhalt


Vorwort 7

Einleitung 9

I. Herman Nohl

1. Exposition
a) Biographische Skizze 27
b) Anthropologische Grundlagen: Überindividuelle Ebene 30
c) Anthropologische Grundlagen: Individuelle Ebene 39

2. Entwicklung
a) Ausgangslage und Problemstellung 54
b) Mythos einer deutschen Bewegung 64
c) Mythos eines Schichtenbaus der Seele: Kampf um Integration 74

3. Theorie der Bildung
a) Ausführung 83
b) Zusammenfassung und erste Beurteilung 94

II. Eduard Spranger
1. Exposition
a) Biographische Skizze 103
b) Anthropologische Grundlagen: Überindividuelle Ebene 112
c) Anthropologische Grundlagen: Individuelle Ebene 122

2. Entwicklung
a) Ausgangslage und Problemstellung 134
b) Mythos einer Erlösung der Kultur 143
c) Mythos des sittlichen Helden 151

3. Philosophische Pädagogik
a) Konstruktion 159
b) Zusammenfassung und erste Beurteilung 179

III. Theodor Litt
1.Exposition
a) Biographische Skizze 185
b) Anthropologische Grundlagen: Überindividuelle Ebene 193
c) Anthropologische Grundlagen: Individuelle Ebene 201

2. Entwicklung
a) Ausgangslage und Problemstellung 210
b) Mythos eines übermächtigen Geistes 221
c) Mythos Diener des Geistes 229

3. Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik
a) Ausführung 238
b) Zusammenfassung und erste Beurteilung 251

IV. Diskussion und Integration

1. Nohl-Spranger-Litt
a) Krisenbewusstsein und Vermittlungsversuche 259
b) Pädagogische Theorie 264
c) Probleme 266

2. Rezeption
a) Entwicklung theoriepolitischer Hauptfronten 1945-1975 269
b) Rezeption ‚geisteswissenschaftlicher Pädagogik‘ als Kritik 273
c) Rezeption ‚geisteswissenschaftlicher Pädagogik‘ als Rückbesinnung 280

3. Lektionen
a) Kritik der ‚Normalform‘, in apologetischer Einstellung 289
b) Pädagogik in der Krise 295

Literaturverzeichnis 307