Innovation
"Neue Männer braucht das Land" sang Ina Deter zur Zeit der Neuen Deutschen Welle in den achtziger Jahren und hat mit ihrer selbstironischen Textzeile eine Denkfigur begründet, die in den folgenden Jahren bis in die Gegenwart allerlei Varianten hervorgebracht hat. Da braucht es neue Politiker' im Land (Landtagswahl 2002, Land Sachsen-Anhalt) oder ,neue Songs' (um der Musikszene wieder zu mehr Absatz zu verhelfen) und wer sich um die Ausbildung seiner schulpflichtigen Kinder sorgt oder den Standort Deutschland unter dem Aspekt der Entwicklung nachhaltiger Bildungsressourcen kritisch betrachtet, gelangt nunmehr zu der Einsicht: Neue Schulen braucht das Land und damit auch mehr Lehrerinnen und Lehrer.
Die Forderung nach neuen Schulen bzw. deren Renovierung ist zunächst einmal die Forderung nach mehr Geld im Bildungssektor und deren Berechtigung ist angesichts des baulichen Erscheinungsbildes vieler der alten Schulen in den Neuen wie auch den Alten Bundesländern offenkundig (wenngleich es für eine kurze Zeit lang durchaus reizvoll sein kann, zum Rhythmus der Tropfen, die durchs Dach auf so manche Schulbank klopfen, eine kleine Melodie zu erfinden). Allerdings wäre mit einer materiellen Erneuerung der Schulen wie übrigens auch der immer wieder als Innovation inszenierten Einführung der Neuen Medien in die Schulen noch nicht Entscheidendes gewonnen: Computer und Programme wie auch alle weitere Ausstattung der Schulräume stellen ja lediglich die materiellen Vorausbedingungen für einen gegenwartsnahen Unterricht dar. Zumal man auch mit Neuen Medien in Neuen Schulen durchaus ganz konventionellen Denkgewohnheiten und Zielvorstellungen verhaftet bleiben kann.
Innovation ist eben mehr als ein Update der Schul-Hardware: Die Ergebnisse der PISA-Studie haben erkennen lassen, dass u. a. in deutschen Schulen zu wenig problemlösendes Denken, dafür aber zu viel studienratstypisches Wissen gelehrt wird, welches, das darf man auch für den Musikunterricht befürchten, die Schülerlnnen mit der Frage allein lässt, was sie mit diesem bildungsbürgerlichem Wissen anfangen können im Umgang mit Kultur in den realen Situationen und Anforderungen ihres Alltags. Und keine Frage, es fehlt auch im Musikunterricht an produktiven Aufgaben und Herausforderungen, z. B. zu einem Text eine Regie, ein Bühnenbild, eine Musik etc. zu entwerfen und im Rahmen z. B. eines Projekts zu realisieren. Innovation ist daher im Kern die Forderung nach Umsetzung einer neuen Mentalität des Lehrens und Lernens in der Schule oder kürzer noch formuliert: "die Schule neu [zu] denken" (H. von Hentig 1993).
Neue Selbstbilder als Lehrende (Coach, Moderator, Organisator) müssen wir uns aneignen, neue Stile des Lernens müssen wir vermitteln, nach Maßgabe der pädagogischen Ziele, in Kenntnis der methodischen Wege, sie zu erreichen, getragen von einer diskursiven Kultur des miteinander Arbeitens. Hier, bei den Zielen, den Wegen und der sie konstituierenden Lehr-Lern-Kultur muss Innovation ansetzen und sichtbar werden. Das setzt bei den Handelnden, seien es Lehrerlnnen, Schülerlnnen, Eltern wie im Übrigen auch bei den Schulpolitikerlnnen nicht nur einschlägige Einsichten und Bereitschaften voraus (etwa die prinzipbedingte Offenheit des Arbeitens in Projekten als Chance zur Selbstorganisation des Lernens zu begreifen), sondern zum Beispiel auch den Mut, die eingetretenen Pfade des Vertrauens auf die normative Kraft der Stoffverteilungspläne in Gestalt von Rahmenrichtlinien und der kleinzelligen Rasterung von Lern- und Lehrzeit in 45-Minuten-Einheiten zu verlassen.
In den Beiträgen des vorliegenden Hefts finden Sie eine Reihe von Überlegungen und Vorschlägen, in denen sich die innovationsbezogenen Erfahrungen der Autorlnnen widerspiegeln und die Ihnen Ideen und Anregungen vermitteln sollen, innovative Ansätze der thematischen Aufbereitung und methodischen Gestaltung in ihrem Musikunterricht zu erproben bzw. weiter zu entwickeln. Indes, Sie werden wahrscheinlich in jedem der Beiträge innovative Elemente finden, die Ihnen aus der Geschichte der Musikpädagogik bereits bekannt sind: als explorierende Unterrichtsversuche, als idealtypische Forderungen, als theoriegeleitete Konzeptionsentwürfe etc. auch die Begründungen der Projektarbeit in der Schule z. B. sind ja schon einhundert Jahre alt. Vermutlich aber besteht wahre Innovation auch darin, die uns im Alltag der Schule zur Verfügung stehenden Potenziale zur Innovation tatsächlich auch in der Praxis zu nutzen. Mögen Ihnen die Beiträge dieses Hefts hierbei eine Hilfe sein.
Niels Knolle
Inhaltsverzeichnis
...denkbar
Peter Rummenhöller: Was haben die großen Komponisten gelernt?
...machbar
Christian Harnischmacher: Die Zauberflöte als Mini-Oper und Hörspiel
Wieland Reich: Neues von den Hebriden
James MacMillan: í (A meditation on lona)
Hubert Wißkirchen: Hör- und Deutungshorizonte zu Strawinskys "Marsch" aus "Die Geschichten vom Soldaten" (Jahrgangsstufe 13)
... singbar
8 Seiten Liedbeilage: Lieder und Kanons von und über Komponisten
... tanz- und spielbar
Halka Vogt: "Ah! vous dirai-je maman?" oder "Morgen kommt der Weihnachtsmann"
...die Seite mit der Maus
Carl Parma/Constanze Rora: Hyperscore – Eine Kompositionssoftware für Schüler
...Anstoß
Wolfgang Martin Stroh: Die "kritische ästhetische Erziehung" in der alten Bundesrepublik – am Beispiel der Musik
...im Gespräch
Birgit Jank: Gemeinsames musikpädagogisches Forschen in Europa – Gespräch mit Dr. eur. José Antonio Rodriguez-Quiles y Garcia aus Granada
Abstracts
...denkbar
Peter Rummenhöller: Was haben die großen Komponisten gelernt?
Der Aufsatz nimmt an den Beispielen von J. S. Bach, W. A, Mozart und F. Mendelssohn Bartholdy aufschlußreiche biografisch-analytische und zeitgeschichtliche Betrachtungen vor, die neue Fragestellungen für die Arbeit mit Komponistenporträts im Musikunterricht aufwerfen.
...machbar
Christian Harnischmacher: Die Zauberflöte als Mini-Oper und Hörspiel
Erfahrungsbericht und didaktische Anregungen zu einem Projekt in der Grundschule
Methodische Beschreibung der Erarbeitung einer szenisch-musikalischen Darstellung und einer CD-Produktion mit fächerübergreifenden Unterrichtsasketen in einer 4. Klasse
Wieland Reich: Neues von den Hebriden
James MacMillan: í (A meditation on lona)
Schwerpunkt dieses Beitrags zu Kompositionen von F. Mendelssohn Bartholdy, J. MacMillan und anderen sind Grundüberlegungen zu Wegen einer musikalischen Meditation, die sich auf die Spiritualität und landschaftliche Mystik einer unverwechselbaren schottischen Landschaft beziehen.
Hubert Wißkirchen: Hör- und Deutungshorizonte zu Strawinskys "Marsch" aus "Die Geschichten vom Soldaten" (Jahrgangsstufe 13)
Skizze eines Unterrichtsmodells mit umfangreicher Materialsammlung aus interdisziplinären künstlerischen Kontexten und mehrdimensionalen Verstehensebenen.
... singbar
8 Seiten Liedbeilage: Lieder und Kanons von und über Komponisten
... tanz- und spielbar
Halka Vogt: "Ah! vous dirai-je maman?" oder "Morgen kommt der Weihnachtsmann"
Überraschende textliche Betrachtungen und quellenkundliche Abwägungen verschiedener Liedvorlagen zu Mozarts bekannten Klaviervariationen in C-Dur
...die Seite mit der Maus
Carl Parma/Constanze Rora: Hyperscore – Eine Kompositionssoftware für Schüler
Eine Software für die Grundschule wird hier vorgestellt, die das Erfinden einfacher Musikstücke ohne Noten oder andere musikalischer Vorkenntnisse auf der Basis von Visualisierung ermöglicht.
...Anstoß
Wolfgang Martin Stroh: Die "kritische ästhetische Erziehung" in der alten Bundesrepublik – am Beispiel der Musik
Zwischen Integration und Isolation – kritische Rückschau auf die Umbrüche der Musikpädagogik der alten Bundesrepublik in den frühen siebziger Jahren und provokante Fragen an die Gegenwart
...im Gespräch
Birgit Jank: Gemeinsames musikpädagogisches Forschen in Europa – Gespräch mit Dr. eur. José Antonio Rodriguez-Quiles y Garcia aus Granada
Der erste Europadoktor für Musikpädagogik äußert sich zu gemeinsamen Perspektiven