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Lebensschutz neu denken
Bioethik im Spannungsfeld von Menschwürde und Selbstbestimmung
Christian Tepe
Reihe: Reihe Philosophie
Tectum Verlag
EAN: 9783828849976 (ISBN: 3-8288-4997-0)
112 Seiten, paperback, 12 x 18cm, November, 2024
EUR 24,00 alle Angaben ohne Gewähr
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Rezension
Die Frage nach der Legalisierung von Abtreibung war entscheidend für den Ausgang der letzten Wahl in Polen. Auch im jüngsten US-Wahlkampf entspannte sich ein Kulturkampf zwischen Demokraten und Republikanern um die Beantwortung dieser rechtlichen und moralischen Problemfrage. In der BRD ist der berühmte §218 Ausdruck eines rechtspolitischen Notstands: Abtreibung in den ersten drei Monaten ist, wenn nicht das Leben der Frau unmittelbar bedroht ist, eine Straftat, die aber rechtlich nicht sanktioniert wird. Zunehmend mehren sich in der Bundesrepublik die Stimmen, die angesichts des Anstiegs von Gewalt gegenüber Frauen, der Zunahme vom Femiziden und des Gender Paygap, für eine Legalisierung der Abtreibung in den ersten drei Monaten und die Abschaffung des §218 plädieren. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterstützt die Bundestagsinitiative zur Entkriminalisierung von Abtreibungen in den ersten drei Monaten und damit zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Die Diskussion um Abtreibung und Lebensschutz ist somit weltweit ein Politikum. Kontroversen werden in Politik, Gesellschaft und den Medien nicht selten sehr emotional geführt.
Umso verdienstvoller ist es daher, dass in einem Buch das Thema philosophisch analysiert und diskutiert wird. „Lebensschutz neu denken. Bioethik im Spannungsfeld von Menschenwürde und Selbstbestimmung“ lautet der Titel des Traktats von Christian Tepe (*1968), Lehrbeauftragter für Bioethik im Fachbereich Biologie/Chemie an der Universität Osnabrück. Erschienen ist dieses als 44. Band in der „Reihe Philosophie“ im Tectum Verlag, einem Imprint der Nomos Verlagsgesellschaft. Der Universitätsdozent, welcher 2019 im Tectum Verlag das Buch „Wege zum nachhaltigen Denken. Ein philosophisches Traktat über Naturschutz, Ethik und Umweltpolitik“ publizierte, identifiziert, wie der Untertitel seines Bandes verdeutlicht, als zentralen ethischen Wertkonflikt, welcher der kontroversen Debatte zugrundeliegt, die konfligierenden Werte Menschenwürde und Selbstbestimmung.
Auf eine persönliche Vorbemerkung, in welcher der Autor zu erkennen gibt, dass er selbst wohl in der christlichen Pro Life-Bewegung involviert war, folgt ein Kapitel zu den philosophischen Grundlagen des Lebensschutzes. Dabei berücksichtigt Tepe u.a. den ethischen Egoismus von Max Stirner, Jeremy Benthams Utilitarismus, die Existenzanalyse Viktor E. Frankls, Hans Küngs Weltethos-Projekt und Immanuel Kants deontologische Moralphilosophie. Im zweiten Kapitel stellt er Argumente von Pro Life für den Schutz des ungeborenen Lebens vor, unter Bezugnahme u.a. auf den Personenbegriff des katholischen Philosophen Robert Spaemann und dessen Kritik am Personenbegriff des Präferenzutilitaristen Peter Singer. Außerdem verweist er auf Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes und auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1993.
Die zentralen Argumente von Pro Choice für den Schutz und die Selbstbestimmung werden von Tepe im dritten Kapitel vorgestellt. Dabei gelingt es ihm sehr gut aufzudecken, wie sich seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart in medizinischen Veröffentlichungen frauenfeindliche Stereotypen finden, die sich kaum von den misogynen Äußerungen Arthur Schopenhauers unterscheiden. Zurecht erinnert Tepe daran, dass der Bundestag erst 1997 ein Gesetz beschlossen hat, nach dem Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand gilt. Bekanntheit besitzt dieses Gesetz heutzutage in der Öffentlichkeit, weil der heutige Kanzlerkandidat der CDU Friedrich Merz gegen es gestimmt hat. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper, was nicht per se eine Abtreibung impliziert, macht Tepe stark unter Rekurs auf Carol Gilligans moralpsychologisches Buch „Die andere Stimme“(1984).
Die Möglichkeit, die Dichotomie zwischen Pro Choice und Pro Life zu überwinden, sieht er in der materialen Werteethik von Max Scheler begründet, was noch ausführlicher hätte ausgeführt werden können, außerdem in bestimmten Gehalten einer christlichen Ethik, welche die Würde und Selbstbestimmung der Frauen schützen. Als philosophischen Lösungsvorschlag für das Spannungsfeld der Lebensschutzdebatte plädiert Tepe insgesamt für eine Würdigung des ethischen Urteils, genauer der reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants. Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Ethik, Religion und Biologie werden durch das vorliegende Buch angeregt, in ihrem Unterricht oder in einem fächerübergreifenden Projekt zur Bio- oder Medizinethik zusammen mit Schüler:innen die philosophischen Dimensionen des Lebensschutzes und der Menschenwürde - von Frauen, Kranken, Sterbenden und Kindern - problemorientiert zu thematisieren.
Fazit: Mit seinem philosophischen Traktat „Lebensschutz neu denken“ leistet Christian Tepe einen wichtigen bioethischen Beitrag zur Versachlichung der in Politik und Öffentlichkeit kontrovers geführten Debatte über Abtreibung. Die Lektüre des Buches empfiehlt sich für alle, die sich mit der komplexen Thematik philosophisch fundiert auseinandersetzen möchten.
Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
„Lebensschutz neu denken“ ist ein doppeltes Plädoyer sowohl für Pro Life als auch für Pro Choice, die den Diskurs oft polarisieren: Schutz des ungeborenen Lebens oder Recht auf Abtreibung, moralische Ächtung des Suizids oder Befürwortung der Sterbehilfe. Beide Seiten können aber auch viel voneinander lernen. Bricht man die gegenseitigen Diffamierungen auf, so zeigt sich, dass die widerstreitenden Ansätze bei allem Dissens in der Anwendung doch gemeinsame Werte wie Solidarität, Fürsorge, Gewaltfreiheit, Selbstbestimmung und Achtung der Menschenwürde teilen. Das Buch lädt dazu ein, die Ethik des Lebensschutzes neu zu denken und zeigt Wege zu einem vorurteilsfreien Dialog zwischen Pro Life und Pro Choice auf.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung: Zweifel eines Lebensschützers 7
Erstes Kapitel: Ethische Grundlagen des Lebensschutzes 13
Zweites Kapitel: Die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens:
ein Plädoyer Pro Life 34
Drittes Kapitel: Die Schutzwürdigkeit der Frauen:
ein Plädoyer Pro Choice 50
Zwischenbetrachtung: Die Schutzwürdigkeit der Kranken und Sterbenden 75
Viertes Kapitel: Die Dichotomien des Lebensschutzes und die Würde
des ethischen Urteils 81
Literaturverzeichnis 105
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