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Franz Overbeck - Werke und Nachlaß, Band 7/1:  Autobiographisches.
Franz Overbeck - Werke und Nachlaß, Band 7/1: Autobiographisches. "Mich selbst betreffend"


Herausgeber:

Rudolf Brändle / Hildegard Cancik-Lindemaier / Hubert Cancik / Niklaus Peter / Barbara von Reibnitz / Marianne Stauffacher-Schaub / Mathias Stauffacher / Ekkehard W. Stegemann (Hrsg.)

Franz Overbeck: Werke und Nachlaß



Marianne Stauffacher-Schaub, Mathias Stauffacher (Hrsg.), Franz Overbeck

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476009692 (ISBN: 3-476-00969-6)
390 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, August, 2002

EUR 84,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Franz Overbeck (1837-1905) war Professor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an der Universität Basel. In seinen Studien zur Geschichte und Literatur des frühen Christentums hat er wichtige Einsichten über die Funktion von Kanonisierungsprozessen und Ansätze zu literatursoziologischen Methoden formuliert. Der Historiker Overbeck war ein skeptischer und zugleich sensibler und distanzierter Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Er steht an einer Bruchstelle europäischen Denkens. Mit Nüchternheit und Präzision beschreibt er die Problematik des Christentums in der Moderne. Seine Kritik moderner Theologie und insbesondere aller religiös sich begründenden Selbstlegitimationen des Bismarck-Reiches - hauptsächlich durch problematische Veröffentlichungen aus dem Nachlaß bekanntgemacht - wurden zunächst aus dem Blickwinkel seiner Freundschaft mit Friedrich Nietzsche gesehen. Später hat sich vor allem Karl Barth auf ihn als Wegbereiter der »Dialektischen Theologie« berufen. Auch die Namen von Walter Benjamin, Karl Löwith, Jacob Taubes und anderen weisen auf eine (noch ungeschriebene) Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-)Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses »antimodernen Modernisten« wichtig. Die Ausgabe macht wichtige Schriften neu zugänglich. Sie erschließt in originalgetreuer Edition ausgewählte Texte des Nachlasses und ermöglicht eine kritisch nachprüfbare Rezeption. Die zunehmende Unvereinbarkeit von öffentlichem Ansehen und persönlicher Überzeugung drängte Overbeck nach der Emeritierung (Frühjahr 1897) zum Versuch, sein Verhältnis zur christlichen Theologie offenzulegen - nicht nur um seine 27jährige Wirksamkeit als Professor der Theologie zu rechtfertigen, sondern auch um den Ertrag lebenslanger Vorarbeiten zu einer umfassenden »profanen Kirchengeschichte« erklärter-massen nicht mehr als Theologe publizieren zu können. Im Dezember 1897 hat er »tagebuchartige« Aufzeichnungen begonnen, die er bis kurz vor seinem Tod fortführte. 1899 suchte er seinen Standpunkt aus einer Selbstbiographie heraus zu erklären, die er allerdings nach der Darstellung seiner ersten Studienjahre nicht weiterführte. Diese schon 1941 von Eberhard Vischer als »Selbstbekenntnisse« veröffentlichten Texte, das bisher unpublizierte »Tagebuchartige« sowie weitere selbstbiographische Aufzeichnungen aus den Jahren 1897-1905 werden hier ediert.



Gliederung von Werke und Nachlaß



Band 1: Schriften bis 1873 (erschienen)

Band 2: Schriften bis 1880 (erschienen)

Band 3: Schriften bis 1898 und Rezensionen

Band 4: Kirchenlexicon Texte.

Ausgewählte Artikel A-I (erschienen)

Band 5: Kirchenlexicon Texte.

Ausgewählte Artikel J-Z (erschienen)

Band 6/1: Kirchenlexicon Materialien.

Christentum und Kultur (erschienen)

Band 6/2: Kirchenlexicon Materialien.

Gesamtinventar (erschienen)

Band 7/1: Autobiographisches.

»Mich selbst betreffend«

Band 7/2: Autobiographisches.

»Meine Freunde Treitschke, Nietzsche

und Rohde« (erschienen)

Band 8: Briefauswahl

Band 9: Vorlesungen (Auswahl)
Rezension
Franz Overbeck (*1837 in Sankt Petersburg; † 1905 in Basel) war ein evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker, dessen Bedeutung sich auch in seiner Freundschaft mit Nietzsche, Treitschke und Rohde zeigt. Band 7 der Franz Overbeck "Werke und Nachlaß" bietet in zwei Teilbänden eben diese biographischen Aspekte Overbecks, des Radikalkritikers des Christentums und Freunds Nietzsches, in Selbstzeugnissen dar: Band 7/1 ediert wissenschaftlich die Aufzeichnungen "Mich selbst betreffend" sowie das bisher unpublizierte `Tagebuchartige` und weitere selbstbiographische Aufzeichnungen aus den Jahren 1897 bis 1905. Der Historiker Overbeck war ein skeptischer und zugleich sensibler und distanzierter Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Er steht an einer Bruchstelle europäischen Denkens. Mit Nüchternheit und Präzision beschreibt er die Problematik des Christentums in der Moderne ebenso wie seine Kritik moderner Theologie und insbesondere aller religiös sich begründenden Selbstlegitimationen des Bismarck-Reiches. Insofern bietet sich in diesem Band ein interessanter Blick auf das Ende des 19. Jhdts.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Radikalkritiker des Christentums und Freund Nietzsches in Selbstzeugnissen
Wegbereiter der Dialektischen Theologie

Band 7/1: Die Aufzeichnungen "Mich selbst betreffend" aus den Jahren 1897 bis 1905, thematisch ergänzende Anhänge

Franz Overbeck war einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf Nietzsche, Barth, Löwith, Benjamin, Taubes und viele andere ist unbestritten. `Werke und Nachlaß` erschließt erstmals Overbecks Gesamtwerk und stellt den Theologen und Historiker vor als einen skeptischen und zugleich sensiblen und distanzierten Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-) Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses "antimodernen Modernisten" wichtig.

Band 7/1 umfassen die als `Selbstbekenntnisse` veröffentlichten Texte, das bisher unpublizierte `Tagebuchartige` und weitere selbstbiographische Aufzeichnungen aus den Jahren 1897 bis 1905. Die Anhänge umfassen thematisch zugehörige Artikel aus dem Kirchenlexikon, Aufzeichnungen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der "zweiten Christlichkeit", Overbecks Briefwechsel mit James Donaldson und seine briefliche Auseinandersetzung mit Carl Albrecht Bernoulli über die weitere Verwendung seines Nachlasses.

Bandherausgeber Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub

Marianne Stauffacher-Schaub (Basel), dpl. Naturwissenschaftlerin der ETH Zürich, bis 1996 Redaktionsassistentin der Werke- und Nachlaß-Ausgabe Franz Overbeck, Verlagsmitarbeiterin
Mathias Stauffacher (Basel), Dr. phil., Mittelaltergermanist, Generalsekretär der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten.

Pressestimmen

"Overbeck wird durch diese Ausgabe von Werken und Nachlaß vom Außenseiter und Geheimtip zum Klassiker und Theologiekritiker." Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte

"...der vorliegende Band ist gewohnt sorgfältig gemacht und wird durch eine Zeittafel, zwei Bibliographien und ein Register leicht erschlossen." Theologische Zeitschrift


Inhaltsverzeichnis
Franz Overbeck
Werke und Nachlaß 7/1
Autobiographisches
»Mich selbst betreffend«
© 2002 Verlag J. B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
3-476-00969-6 Franz Overbeck, Werke und Nachlaß
Franz Overbeck
Werke und Nachlaß
Editionskommission
Prof. Dr. theol. Ekkehard W. Stegemann (Basel), Präsident
Prof. Dr. theol. Rudolf Brändle (Basel)
Prof. Dr. phil. Hubert Cancik (Tübingen)
Dr. Hildegard Cancik-Lindemaier (Tübingen)
Dr. phil. Bernd Lutz (Stuttgart)
Prof. Dr. phil. Karl Pestalozzi (Basel)
Dr. theol. Niklaus Peter (Basel)
Dr. phil. Barbara von Reibnitz (Basel/Berlin)
Prof. Dr. theol. Martin Anton Schmidt (Basel)
Dr. phil. Mathias Stauffacher (Basel)
Marianne Stauffacher-Schaub (Basel)

Inhaltsübersicht

Einleitung VII

Arbeitsplan 1

Zu meiner Basler Professur 1870–97 9

Zur Selbstbiographie 37

Tagebuchartiges 51

Selbstbiographische Aufzeichnungen 159

Weitere Aufzeichnungen Franz Overbeck selbst betreffend 231

Anhang: Ergänzende Texte zu den Aufzeichnungen »Mich selbst betreffend« 253

I. Aus dem Kirchenlexicon 255
II. Zur 2. Auflage der »Christlichkeit unserer heutigen Theologie« 280
III. Briefwechsel mit James Donaldson 1899 und 1903–1905 286
IV. »Privatim uns beide betreffend«– Bernoulli und Overbeck März/April 1902 311

Zeittafel 343

Abkürzungen 356
Verzeichnis der von Franz Overbeck selbst publizierten Schriften 358
Verzeichnis der Publikationen aus Franz Overbecks Nachlass 360
Bibliographie der von Franz Overbeck zitierten Literatur 361
Bibliographie der im Kommentar verwendeten Literatur 369
Zu den Abbildungen 371
Register 373

Leseprobe:
Einleitung
Mit einer ausführlichen Einleitung soll nicht nur der Zugang zu einem
komplexen Bestand von Aufzeichnungen aus dem Overbeck-Nachlass
erschlossen, sondern auch an vier chronologisch und thematisch abgegrenzten
Textgruppen gezeigt werden, wie sehr es bei der Arbeit mit
nachgelassenen Aufzeichnungen von Franz Overbeck darauf ankommt,
den gesamten Kontext und vielfältige Querverbindungen zu berücksichtigen.
Das 1. Kapitel zur »Auseinandersetzung mit mir selbst« sowie »über
meine Basler Professur und die Art, wie ich sie geführt« zeigt die Entwicklung
und Interdependenz differenzierter Formen der Selbstreflexion
– von Overbecks ersten Betrachtungen zu seinem Wirken als
Theologe über die Aufzeichnungen um die Jahreswende 1897/98 bis zu
seiner Rückkehr zur »regelmässigen Arbeit« Mitte Januar 1898.
Im 2. Kapitel über Overbecks Erfahrungen mit »persönlicheren Confessionen
« bei der Arbeit an einer »Selbstbiographie als Theologe« (1899)
werden Vorüberlegungen und Kommentare zu den »Selbstbiographischen
Aufzeichnungen« im Kontext gleichzeitig entstandener Notizen,
besonders aber die verstreut eingeschobenen tagebuchartigen Bemerkungen
in ihrem Verhältnis zu Eintragungen im Heft »Tagebuchartiges
« betrachtet. Ein kleiner Exkurs gilt erst seit kurzer Zeit bekannten
Dokumenten aus Overbecks Göttinger Studienjahren.
Zu zwei entscheidenden, aus den edierten Texten nicht nachvollziehbaren
Phasen der Verständigung mit Bernoulli »über die ihm mit meinen
Papieren anzuvertrauenden Aufgaben« (1902) und »über die Zukunft
meiner Nietzschebriefe« (1904) ergänzen das 3. Kapitel und der Anhang
IV die wesentlichen Partien aus dem Briefwechsel. Die umfangreichen
Zitate könne auch veranschaulichen, dass komplementär zu den bereits
ediert vorliegenden Briefwechseln mit Nietzsche, Rohde und Köselitz
derjenige mit Carl Albrecht Bernoulli, der Overbecks letzte Jahre wohl
am vollständigsten dokumentiert, ebenfalls integral veröffentlicht werden
sollte.
Das eher biographisch ausgerichtete 4. Kapitel setzt dort ein, wo
Ende Januar 1905 die Aufzeichnungen im Heft »Tagebuchartiges« endeten,
und versucht, Overbecks letzte Arbeiten am »Kirchenlexicon«,
VIII Einleitung
Selbstreflexionen, Briefe und Gespräche »mit befreundeter Seele« anhand
der im gesamten Nachlass auffindbaren Zeugnisse darzustellen. Im
Mittelpunkt stehen die Arbeitsbesprechungen mit Bernoulli im März
und April 1905, auf die Overbeck lange hingearbeitet hat und die im
Briefwechsel wie in seinen letzten Zusätzen zu diversen Aufzeichnungen
immer wieder erwähnt sind.
Schliesslich kommentiert ein eigenes Kapitel zusammenfassend Anlage
und Textauswahl dieses Bandes.
1. »Auseinandersetzung mit mir selbst« sowie »über meine Basler
Professur und die Art, wie ich sie geführt« (1897 bis 1898)
Ende März 1897, in den letzten Tagen vor dem offiziellen Zeitpunkt
seiner Emeritierung, hat Overbeck im »Arbeitsplan« unter dem Stichwort
»Persönliches« sehr präzise eine Fragestellung umrissen, die ihn
vom folgenden Winter an intensiv beschäftigte und bis zu seinem Tode
nie mehr ganz losliess: »Meine gelehrte Laufbahn. Wie ich zur Religion
gestanden, wie zur Theologie gekommen. Wie ich mein Amt in Basel
aufgefasst und verwaltet und damit zu einem Ende kommen musste.
Meine Freunde Treitschke, Nietzsche u. Rohde.«1
Vom Übergang in die neue Lebensphase schrieb er sechs Wochen
später an Köselitz: »Ich bin also am 1. Apr. in den ersehnten ›Ruhestand‹
getreten, und dass ich über die Wünschbarkeit dieser Veränderung
anderen Sinnes geworden wäre werden Sie nicht annehmen. Nur
dass ich am Schluss des Wintersemesters, das ich bis dahin in recht
erfreulichem Wohlsein zugebracht, also im Augenblick des Uebergangs
in mein ›neues‹ Leben – das nur leider in Wahrheit der Rest eines alten
ist – wieder einen rechten Stoss erlitt, der mich ein paar Wochen tief
herabstimmte und zu Gedanken darüber veranlasste in wiefern sich
überhaupt noch eine Veränderung mit mir verlohne . . .«. Inzwischen
habe er »diese gedrückten Tage leidlich überwunden«, so dass er »auch
schon mitten in den Arbeiten stecke, die ich mir zur Ausfüllung der
selbstgeschaffenen Musse fürs Nächste aus dem aufgelaufenen Vorrath
hervorgeholt habe. Es ist vor Allem eine Umarbeitung und Ausführung
meines Programms über die Anfänge der Kirchengeschichtsschreibung.
«2
1 A 268d, p. 1 (unten S. 3).
2 O. an H. K., 10. Mai 1897 (OKB, S. 433f.).
Einleitung IX
Kaum zufällig hat sich Overbeck in den ersten Wochen seines Ruhestandes
neben der Facharbeit mit biographischen Darstellungen beschäftigt:
Zusammen mit Ida las er den zweiten Band der Lebensgeschichte
von Albrecht Ritschl3, und als sie im Mai 1897 am dritten
Band von Baechtolds Keller-Biographie waren, berichtete er Köselitz,
»wie entzückt ich davon bin. Es kommt mir in meiner zeitigen Stimmung
vor, als sei ich auf das Ideal einer erholenden Abendlectüre damit
gerathen . . .«4.
1.1. Erste Betrachtungen zu Overbecks Selbstverständnis als Theologe –
noch im »Kirchenlexicon« und in Notizen »Zur Vorrede« (März bis
Herbst 1897)
Während er in den letzten Jahren auch im »Kirchenlexicon« oft festhielt,
an welchem Tag der betreffende Artikel oder Nachtrag geschrieben
wurde, scheint Overbeck bis zum Dezember 1898 nur drei KL-Eintragungen
explizit als solche datiert zu haben5: Im Juni 1897 bezog er
sich auf die bereits erwähnte Ritschl-Lektüre6, und die beiden anderen
Texte gelten seinem Selbstverständnis als Theologe, als Lehrer der
Theologie und als Schriftsteller. Obwohl diese bereits in OWN 5 ediert
sind, sollen sie hier neben einer bisher nicht veröffentlichten Notiz als
früheste Ansätze Overbecks zur Selbstreflexion ausführlich zitiert werden.
3 OKB, S. 435f.; Albrecht Ritschls Leben dargestellt von O. R., 2 Bde.,
Freiburg und Leipzig, 1892 und 1896; vgl. die KL-Notate zu dieser Lektüre
OWN 5,353–359.
4 OKB, S. 435; J. B.: Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und
Tagebücher, Bd. 3, Berlin 1897 (Ida O. hatte den Band zu Weihnachten 1896
erhalten, vgl. OKB, S. 432). Zu O.s früherer Keller-Lektüre vgl. K. P.: »Stille Grundtrauer«. Franz Overbecks Lektüre des »Grünen Heinrich
«, in: Religion in Basel (FS Ulrich Gäbler), hg. von Th. Kuhn und
M. Sallmann, Basel 2001, S. 69–72.
5 Weitere fünf Datierungen – vgl. OWN 4,469.560; OWN 5,24.405; ausserdem
»Benedictiner (Regel) Vermischtes« in A 218 – beziehen sich nicht auf den
Zeitpunkt der Eintragung, sondern jeweils auf eine zurückliegende Lektüre
oder Begegnung. Ab Dezember 1898 (vgl. OWN 4,447.574) sind die KLArtikel
häufiger datiert.
6 Vgl. OWN 5,405
X Einleitung
Nr. 5 im Artikel »Theologie (Allgemeines)« beginnt mit der Aussage:
»Es liegt mir nicht im Geringsten daran mit irgend Jemand über Gott
und göttliche Dinge in Streit zu gerathen. Ich gebe denn auch gern zu,
dass ich eben darum zum Theologen nicht brauchbar bin und nehme
dageg. in Anspruch nur das Zugeständniss des Rechts meinerseits die
Theologie nicht zu mögen«. Gegenüber seinem Basler Kollegen Mezger7
habe er zu behaupten, »dass eine Theologie, die keinen Anspruch
darauf erhebt, die christl. Religion theoret. vertheidigen zu können gar
keine ist«. Die Eigenart seines Interesses an der Theologie – vor allem
daran, »zu erkennen, wie sie überh. aufkommen konnte« – führt Overbeck
zur Frage: »Wie konnte ich aber dabei je Theologe werden? Ich
bin es thatsächl. geworden, nur unter dem Einfluss eines Ideals, von
dessen Unhaltbarkeit mich Leben und Lernen überzeugten – des rationalist.
Ideals des aufgeklärten Menschenwohlthäters«. Anders als »bei
den Genien der Menschht« gelte für ihn »der Maasstab gewöhnlicher
Menschen, bei dem man mindestens ebenso sehr ist was man geworden
als was man gewesen ist. So schreibe ich am 1. Mai 1897. unter den
mancherlei Gedanken, die mich zu überlegen bewegen, warum ich vor
einem Monat aufgehört habe Lehrer der Theologie zu sein und mich
vollständig auf das Eigenthum meiner Privattheologie zurückgezogen
habe. Unläugbar bin ich so unter meinen Schülern derjenige, der am
meisten bei mir gelernt hat«, und die »immer mehr drückende Einsicht
der Geringfügigkeit dessen, was ich meinen theolog. Schülern sein
konnte, hat mich nicht aus meinem subject. Interesse an der Theologie,
der KG. vor Allem, hinausgedrängt, aber aus jedem öffentlichen, meine
Schüler bindenden Betrieb derselben. Ich bleibe theologischer Schriftsteller
soweit meine Kräfte noch zureichen und mich jemand lesen will,
vom Katheder braucht mich Niemand mehr zu hören. Gemeinhin gilt
›Wem Gott ein Amt giebt, giebt er auch Verstand‹. Als Lehrer der
Theologie habe ich wenigstens in eigenthümlicher Buchstäblichkeit erfahren,
dass Gott es auch anders macht. Ich bin darüber für mich selbst
in Zweifel darüber gerathen, dass ich überh. einen Amtsverstand habe.
«8 Auf diesen fünfeinhalb KL-Seiten finden wir, noch in Overbecks
eigener Form, Anregungen aus seiner Lektüre lexikalisch zu verarbeiten,
in nuce bereits ausgeführt, was er dann vom Winter 1897/98 an
immer und immer wieder neu hinterfragt hat.
7 P. M.: Christlicher Gottesglaube und Offenbarungsglaube. Antrittsvorlesung.
Basel 1896.
8 OWN 5,472–474; die letzten Sätze variiert O.s undatierte Notiz A 268a,14
(unten S. 237).
Einleitung XI
Nicht im »Kirchenlexicon«, sondern auf Makulaturblättern, wie er
sie jeweils für Entwürfe zu wissenschaftlichen Manuskripten verwendete,
ist Overbeck im Oktober 1897 auf das Stichwort »theologischer
Schriftsteller« zurückgekommen. In der letzten von drei Notizen »Zur
Vorrede« für die Neubearbeitung seines Universitätsprogramms von
18929 rückt anstelle von Eusebius oder Harnack unvermittelt der Verfasser
selbst ins Zentrum: »Ich muss in der Vorrede um allen unliebsamen
Erfahrgen, die ich mit meiner scheinbar theolog. Schriftstellerei
gemacht zuvorzukommen feststellen: Ich bin nie Theologe gewesen,
jedenfalls ist in meinen Schriften nichts für Theologen bestimmt.
Sie haben mich denn auch nie verstanden und das habe ich ihnen nicht
einmal übel zu nehmen. Ich bitte sie vielmehr um Entschuldigung,
wenn sie bei mir zu wenig finden für ihre Zwecke und sie interessirendes,
was sie interessirt, interessirt mich eben gar nicht. Haben sie
sich in rechter Weise damit abgefunden, so wird sich wohl auch von
selbst die rechte Vorsicht in der Beurtheilung meiner Arbeiten einstellen.
Meine Person mögen sie nur aus dem Spiele lassen, sie gehen dabei
unvermeidlicher Weise von ganz verkehrten Ansprüchen an mich aus
und können sich nur blamiren. Sachlich natürlich denke ich nicht daran
mich ihrer Strenge zu entziehen. Aber bei ihrem Urtheil sachli. zu
bleiben haben sie in meinem Falle besondere Ursache.« Erst am Schluss
dieses Abschnitts, wo Overbeck als Gegenbeispiel zur »möglichst object.
Beobachtg« anführte, wie von Schubert ihm »Durchdrückg liebgewordener
Theorien« vorgeworfen habe10, erweist sich auch dieser unerwartete
Exkurs als zumindest indirekte Reaktion auf einen Anstoss aus der
Lektüre.
Am 9. oder 10. November 1897 schrieb Overbeck zwar nochmals im
»Kirchenlexicon«, aber nur noch formal als Artikel zum Lemma »Unsterblichkeit
(Individuelle) Begründung« und ganz ohne Bezug auf Gehörtes
oder Gelesenes: »1. Ich werde auf dieser Erde nicht fertig, nicht
in mir selbst, noch mit dem was ich aus mir heraussetzen kann – das ist
gewiss und ist auch das beweglichste Argument, das es für jeden Menschen
zum Glauben an seine individuelle Fortdauer giebt. Aber wie
weit soll er darauf bauen? Soll ich meinen, dass ich zu allen kleinen und
9 »Zur Vorrede (Oct. 1897)«, 2 Bl. in A 202, bisher nicht veröffentlicht. – Zum
zweiten der in Ov II, S. 96 aufgeführten Entwürfe vgl. unten S. XVII und
OWN 3.
10 H.S.: Rez. F. Overbeck: AKg. In: Theol. Litteraturzeitung Jg. 19,
Nr. 3, 3. Feb. 1894, Sp. 76–79.
XII Einleitung
grossen Aufgaben, die ich in meinem Beruf noch gern erfüllte und
erfüllen zu können mit geringerer oder grösserer Deutlichkeit und Zuversicht
absehe, noch auf unabsehbare Zeit zu rechnen habe?« Was er
z. B. gegen Harnack noch zu beweisen gedenke, »das werden doch auch
andere für mich thun können, ja die stärkste Zuversicht, die ich dabei
zu mir habe, ruht auf der intimen Ueberzeugung, dass die Sache bald
einmal auch ohne mich besorgt werden wird. Ich weiss aber unzählige
ganz unverhältnissmässig interessantere und wichtigere Probleme der
KG., die ich mit Nutzen anfassen könnte.« Bevor er sich dann Konsequenzen
aus der Einsicht überlegte, »dass ich zur Zeit – in meinem in 8
Tagen vollendeten 60. Jahre – nur noch verschwindend weniges von
dem, was ich im Sinne habe oder nur haben könnte, fertig bringe, wenn
überh. etwas . . .«, notierte Overbeck in einer Anmerkung zu den denkbaren
wissenschaftlichen Arbeiten: »Auch noch ganz Anderes: Wie viel
hätte ich noch über meine Freunde Treitschke und zumal Nietzsche zu
sagen und sagte es gerne, und hier sehe ich keinen Stellvertreter ab.
Von mir selbst bleibt vollends Ungesagtes nach mir zurück . . .«11 Dass
Overbeck dann in der kurzen Nr. 2 vom Charakter »vorstehender Betrachtg
« aus zum Schlussgedanken kam, er wolle »doch jetzt im Alter
nicht mehr wissen, als mir und Anderen gut ist«12, bestätigt nur, dass
dieser ganze KL-Artikel sowohl inhaltlich wie nach seiner Gedankenführung
bereits zum Typus der Aufzeichnungen »Mich selbst betreffend
« gehört.
Noch im Kontext und auch formal in der Art seiner wissenschaftlichen
Notizen exponierte Overbeck mit den hier zitierten Texten bereits
wesentliche Themen seiner kommenden Versuche, über sich selbst, seine
Beziehung zu den Freunden und sein theologisches Amt Rechenschaft
abzulegen. Darauf bezieht sich wohl auch seine Bemerkung vom
25. Februar 1899, mit dem Gedanken an selbstbiographische Aufzeichnungen
habe er »einmal schon vom Tage an, da ich mein hiesiges
theologisches Lehramt niederlegte (Frühj. 1897), nur zu spielen, und
zwar selten und nur sehr zerstreut zu spielen, kaum aufgehört«13.
11 OWN 5,608–609.
12 OWN 5,610.
13 SbA p. 2, unten S. 162.
Einleitung XIII
1.2. Selbstverteidigung auf einem »stillen Blatte« – der Übergang zu einer
neuen Form persönlicher Aufzeichnungen (Mitte Dezember 1897)
In der Sonntagsbeilage der Allgemeinen Schweizer Zeitung vom 5. Dezember
1897 fand Overbeck in einer kurzen Rezension Albert Bruckners
zur neuen Publikation von Carl Albrecht Bernoulli14 seine »Christlichkeit
« von 1873 auf die Behauptung reduziert, »der Geistliche brauche
sich in seiner Amtswirksamkeit in keiner Weise durch seine wissenschaftliche
Ueberzeugung beeinflussen zu lassen; er habe einfach das zu
lehren, von dem er wisse, daß es dem Glauben seiner Kirche entspreche
«. Zwar dachte er sofort daran, dies in einer Replik richtigzustellen,
liess es dann jedoch bleiben, weil er von der »ziemlich vollkommenen
Arglosigkeit« des Verfassers überzeugt war, dessen Lizentiatsarbeit und
Dissertation er mit betreut hatte.15 Aber im Kontext dieser Aussage von
Bruckner empfand es Overbeck umso mehr als indirekten Angriff auf
seine eigene Lehrtätigkeit, dass in derselben Sonntagsbeilage ein anderer
ehemaliger Hörer, Albert Barth, von Treitschke rühmend hervorhob,
er habe den Studenten nie »seine Hauptweisheit für noch zu publizierende
Bücher« vorenthalten und in seinem Kolleg immer alles
gesagt, »was ihm als Wahrheit erschien«16. Nur in der zufälligen Koinzidenz
konnte diese Aussage eine tiefe persönliche Erschütterung und
letztlich Overbecks intensive Auseinandersetzung mit seinem Wirken
als Lehrer der Theologie auslösen.
14 A. B.: Rez. C. A. B.: Die wissenschaftliche und die kirchliche
Methode in der Theologie. Ein encyclopädischer Versuch. Freiburg i. B.
1897. In: Allgemeine Schweizer Zeitung, Sonntags-Beilage Nr. 50 vom
5. Dez. 1897, S. 200.
15 Vgl. KL »Bruckner (A.)«, unten S. 262.
16 A. B.: Rez. T. S.: Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre
1834–1866, München und Leipzig 1896. 2. Teil. In: Allgemeine
Schweizer Zeitung, Sonntags-Beilage Nr. 50 vom 5. Dez. 1897, S. 198–199.
Der volle Wortlaut macht noch deutlicher, weshalb O. von der zitierten Stelle
so betroffen war: »So wurde er mit ganzer Seele der Lehrer seiner Schüler
und hat darum von den ersten Tagen seiner Docentenlaufbahn bis in sein
letztes Semester hinein nie leeren Bänken predigen müssen, sondern hat stets
eine große Zahl aufrichtig begeisterter Zuhörerschaft vor sich gehabt, denn
man hatte stets das unbedingte Vertrauen zu ihm, daß er nicht seine Hauptweisheit
für noch zu publizierende Bücher hinter dem Berge halte und den
Studenten nur die Abfälle zukommen lasse. In jedem Kolleg hatte man den
ganzen Menschen und bekam ohne Umschweife und weise Zurückhaltung
das, was ihm als Wahrheit erschien. . . .« (a.a.O. S. 198).
XIV Einleitung
Nicht in seiner gewohnten Art – weder mit einer Replik noch im
»Kirchenlexicon« wie bei Bruckner – hat sich Overbeck gegen Barths
implizite »Verdächtigung meiner Aufrichtigkeit« verwahrt, »die Möglichkeit
vollkommen und ohne Groll gegen den Missverstehenden anerkennend,
dass ich so gröblich missverstanden sein könnte«: Seine
Rechtfertigung formulierte er zunächst auf einem »stillen Blatte« im
grösseren Format, dessen Titel »Zu meiner Wirksamkeit als Lehrer der
Theologie in Basel 1870–1897« verrät, dass er sich nun grundsätzlich
mit der schon mehrmals angesprochenen Problematik befassen wollte17.
Schon auf der dritten Seite hat Overbeck aber diesen ersten Versuch
abgebrochen und auf p. 4 mit Datum vom 15. Dezember, aber ohne
neue Überschrift, nochmals anders eingesetzt, diesmal direkt bei seinem
»Schriftchen« von 1873 (ChT2). Ohne den Zeitungsartikel von Barth
überhaupt noch zu erwähnen, kommt diese zweite Fassung unverzüglich
zu jenem Dilemma, das Overbeck zunächst bis Mitte Januar 1898
fast ausschliesslich beschäftigt und später immer wieder umgetrieben
hat: »Ich habe nicht gelehrt, was ich glaubte, d.h. was ich wollte, sondern
was ich für zweckmässig, d.h. für meine sogen. Pflicht hielt.« Mit
seiner »Christlichkeit« habe er »vor nunmehr bald 25 Jahren zunächst
nur mir selber zu helfen gedacht. . . . Niemand sollte mich noch für das
ansehen, wofür ich jedenfalls nicht angesehen sein wollte, nämlich für
einen Vertheidiger des Christenthums.«18
Mit diesem neuen Ansatz hatte Overbeck offenbar den richtigen Einstieg
gefunden, denn er kopierte zumindest das, was auf der durchgestrichenen
vierten Seite noch erhalten ist, praktisch wörtlich als Anfang
einer neuen Aufzeichnung »Basler Professur 1870 – 97«19, der ersten
umfassenden Analyse von Absicht und Wirkung seiner »Christlichkeit«
von 1873 und seiner Lehrtätigkeit in Basel. Vermutlich noch am gleichen
15. Dezember 1897 unterbrach Overbeck diese rückblickenden
Reflexionen, die ähnlich auch in weiteren Texten bis zu ChT2 immer
wieder auftauchen, um in einem Einschub zu definieren, was er »möglichst
treu und ausschliesslich beschreiben« wolle: Er lasse z. B. »die
Frage ganz ausser Betracht: wie war ich überhaupt dazu gekommen
Theolog zu werden, wie mit der Theologie auch wieder so auseinandergekommen?
«. Ebensowenig könne er auf die Hintergründe seiner
17 In A 267b, unten S. 11–13.
18 Zitiert nach p. 4 des Ms. in A 268b (vgl. unten die textkrit. Anm. S. 11 zu
Z. 7 und S. 14 zu Z. 13).
19 In A 267a, unten S. 13–20.
Einleitung XV
Berufung nach Basel oder auf die persönlichen Einflüsse eingehen, die
seine Gedanken und Entschlüsse in der Periode um 1873 bestimmt
hätten, insbesondere seine »continuirlichsten, nämlich täglichen Beziehungen
zu Nietzsche, der in allem was mich anging, seit ich ihm wirklich
näher gekommen war, überhaupt magna um nicht zu sagen maxima
pars fuit«. Zu all diesen Fragen, »über die, da ich allein über sie
etwas weiss, ich auch insbesondere etwas zu sagen hätte«, schweige er,
um »so zu sagen nur eine einzelne Ecke der Landschaft meiner Gedanken
zu beschreiben – es muss mir hier, wo ich zu mir selbst rede,
gestattet sein, mich so preciös auszudrücken, überhaupt mir alle nur
wünschenswerthe Freiheit zu nehmen, deren ich zur Deutlichkeit bedarf
«. Dann setzte er seine Analyse der mit ChT2 verfolgten Absichten
sowie (am 18. und 20. Dezember) seines Verhaltens gegenüber den Studierenden
fort20.
Diese beiden Manuskripte sind nicht nur die frühesten Aufzeichnungen
in einer neuen Form, die Overbeck von da an sehr häufig verwendet
hat, sondern zeigen auch exemplarisch, wie er allgemeiner angelegte
und weiterführende Erörterungen von seiner unmittelbaren und
expliziten Reaktion auf Gelesenes abgrenzte. Den zweiten, am 15. Dezember
begonnenen Text hat er selber stets als Ausgangspunkt der
schriftlichen Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Lehrtätigkeit
bezeichnet. Was ihn im Dezember 1897 so sehr erschüttert und
diese Selbstreflexionen ausgelöst hat, erwähnte Overbeck zwar nie
mehr, doch hat er jene auf Barth’s Artikel bezogene Vorstufe auch bei
späterer Durchsicht seiner Papiere nicht vernichtet, sondern weiter aufbewahrt.
1.3. »Tagebuchartiges« und thematisch verwandte Aufzeichnungen bis
Ende Dezember 1897
Über ein neues Manuskript hat Overbeck am 24. Dezember 1897 den
zunächst überraschenden Titel »Tagebuchartiges« gesetzt, diesen aber
mit »(denn ein eigentl. Tagebuch soll hier nicht geführt werden)« sofort
wieder relativiert. Tatsächlich beginnt diese Aufzeichnung wie ein
20 Unten S. 17–20. – Wie viel vom ursprünglichen Text die am 20. Dez. auf
einem separaten Blatt (p. 9b) notierte Variante zu p. 8–9 (vgl. S. 18, Anm.
zu Z. 25) ersetzen oder ob allenfalls der ganze Rest der ersten Fassung wegfallen
sollte, bleibt unklar, weil p. 9〈a〉 oben nichts mehr durchgestrichen ist.
XVI Einleitung
Tagebuch: »Nach einer sehr guten Nacht – dgl. ich einige Wochen nicht
gehabt und die mich in Hinsicht auf neuerdings quälend dringlich
gewordene Besorgnisse über meine Gesundheit u. ihren Bestand beunruhigen,
beschliesse ich, die seit dem 15ten an die Hand genommene
Auseinandersetzung über meine Basler Professur und die Art, wie ich
sie geführt, bei Seite zu legen und die Arbeit an meinem Eusebius
wieder aufzunehmen.« Doch sogleich erweist sich das in doppelter Weise
als Trugschluss, weil Overbeck nun nicht etwa mit weiteren Tagebuchnotizen
weiterfuhr, sondern daran ging, in einer neuen Erörterung
über mehrere Heftseiten hinweg seine »Facharbeit« und die »Auseinandersetzung
mit mir selbst« gegeneinander abzuwägen, und erst auf
der vierten Seite auf seinen Entschluss zurückkam: »Ich gebe also den
ganzen Gedanken auf und damit was ich etwa über meine immerhin 27
Jahre meines Lebens ausfüllende Laufbahn als Professor der Theologie
zu sagen habe, dem natürlichen Zusammenhg, den die Sache in einer
Darstellung meines Lebens überhaupt findet, zurück.«21
Zwei Tage darauf hat Overbeck ein weiteres Mal neu eingesetzt und
in einer separaten Betrachtung »Zu meiner Lebensbeschreibung« seine
einleitende Aussage, er »gehe an selbstbiographische Aufzeichnungen
nicht ohne jede Selbstüberwindung«, ausführlich und oft repetitiv mit
der Geringfügigkeit seiner Talente und Leistungen, aber auch mit seiner
»Gleichgültigkeit gegen die Meinung Anderer« begründet22. Dann
liess er auch diesen ersten Text im Umschlag »Zur Selbstbiographie«
vorerst liegen, befasste sich am 30. Dezember auf drei Blättern im KLFormat,
aber ohne Stichwort oder Überschrift23, erneut eingehend mit
seiner Talentlosigkeit und seinen geringen wissenschaftlichen Erfolgen,
und bedachte dann, wie aussichtslos es ohnedies sei, »dem Traum, in
den ich im Frühjahr in der ersten Freude über die erlangte Freiheit
verfiel, nachzuleben. Wie ich zu spät zur freien Arbeit komme so auch
zu spät zur Beschäftigung mit mir selbst. Obwohl ich in ausserordentl.
Maasse bei meinen Arbeiten darauf aus war, sie als mein persönlichstes
Eigenthum zu beherrschen und eine andere Sorge im Grunde dabei
nicht gehabt habe, ist diess auffallender Weise in mir stets von äusserst
geringer Neigung begleitet gewesen in mich selbst Einkehr zu halten.
Das hat nun zur Folge gehabt, dass ich zur Zeit solchen Stössen ausgesetzt
bin, wie dem am 15. d. M. erlittenen, bei welchem ich die Feder
21 TbA, p. 1–4 (unten S. 53–55).
22 In A 267d (unten S. 39–42).
23 268a,1a-c (unten S. 42–44).
Einleitung XVII
zu meinem Eusebiusaufsatz . . . niederlegte, um an selbstbiographische
Aufzeichnungen zu denken. Ich machte schon in wenigen Tagen die
Erfahrung, dass ich damit nur in kürzester Zeit den kleinen Rest von
Kräften aufreibe, der mir noch überh. bleibt, mit fast sicherer Aussicht
auf einen für mich unannehmbaren, jedenf auf einen ganz problemat.
Erfolg.« Nach einem Exkurs über die Gefahren der Selbstbetrachtung
in der Jugend und im Alter erschien ihm der Vorteil einer »zweckmässigen
Reduction des Stoffes . . . mehr als aufgewogen durch das Bedenken
der durch sie erhöhten Willkür und Freiht des Betrachtens. So
halte ich denn schon jetzt den ganzen Gedanken nur in sehr stark
reducirter Form fest, und denke an eine Ausführung nur noch in einer
durch die stärksten Cautelen gegen Verirrg geschützten Form.«
Ebenfalls in den letzten Dezembertagen dürften drei undatierte Aufzeichnungen
zur Thematik »Basler Professur« entstanden sein, die
ebenfalls ohne Überschrift auf Zettel im KL-Format notiert sind: Ein
längerer Text gilt Overbecks Verhältnis zur Theologie24, die zweite Notiz
variiert die stereotype Einschätzung, was für seine Mitwelt »bei
meiner Wirksamkeit herausgekommen ist«, sei »hervorragend nur
durch seine Dürftigkeit«25, und auf einem weiteren Zettel begründete
Overbeck, diesmal aus seiner Kindheit heraus, dass seine Laufbahn als
Theologe »zuletzt auf einem jugendlichen Missverständnis« und »dem
flachsten philanthropischen Pfarrerideal« beruhe26.
Mit allen diesen Aufzeichnungen entsprach Overbeck keineswegs
dem am 24. Dezember im Heft »Tagebuchartiges« gleich im ersten Satz
festgehaltenen Entschluss, die Auseinandersetzung über seine Basler
Professur »bei Seite zu legen und die Arbeit an meinem Eusebius wieder
aufzunehmen.« Am 31. Dezember vergegenwärtigte er sich unter
dem Titel »Zur Arbeit über Anfänge der KGeschichtsschreibung«27, was
er seit seiner Emeritierung in der Auseinandersetzung mit der neueren
Fachliteratur erreicht habe. Auch hier ging er von soeben Gelesenem
aus, diesmal einer Stelle in Mongre´s »Sant’ Ilario«, den er gerade Bernoulli
zur Lektüre empfohlen hatte28. In diesem zweiten Entwurf zur
24 In A 267b (unten S. 20–22).
25 A 268a,25 (unten S. 23).
26 A 268a,23 (unten S. 22–23); vgl. dazu die oben S. X zitierte KL-Stelle vom
1. Mai 1897 (OWN 5,474).
27 In A 202, in einem von O. mit der Aufschrift »Zur Vorrede der Umarbeitung
meines Programms von 1892« versehenen Umschlag; 4 Bl./8 S., datiert
»31. Dec. 97« (p. 1) und »3. Jan. 98.« (p. 5); Ov II, S. 96–100 und OWN 3.
28 Vgl. TbA, p. 9 (unten S. 61).