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    | Erschöpfende Arbeit Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt 
 
 
 Heiner Keupp, Helga Dill (Hrsg.)
 Transcript
 EAN: 9783837615562 (ISBN: 3-8376-1556-1)
 224 Seiten, paperback, 13 x 22cm, 2010, zahlr. Abb.
 
EUR 26,80alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext Die neue Arbeitswelt ist von zunehmender Unsicherheit geprägt. Diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse sind weiter auf dem Vormarsch. Für die Beschäftigten in der Wissensökonomie sind damit höhere Freiheitsgrade verbunden, aber auch neue Belastungen – bis hin zum Burnout. Zudem sind Jobnomaden, Freelancer und Zeitarbeitende oft von betrieblicher Gesundheitsförderung ausgeschlossen. Wie und von wem können diese Gruppen bei der Gesundheitsprävention unterstützt werden?
 Der Band beleuchtet diese Fragen aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und unterfüttert die Argumentation mit empirischen Erkenntnissen.
 
 Rezension Zwar brüstet sich die Bundesregierung zum Jahreswechsel 2010/2011 damit, die Arbeitslosenzahl wieder auf die 3 Mio.-Marke abgesenkt und als beste Wirtschaftsnation aus der Wirtschafts- und Bankenkrise heraus gestartet zu sein, - Faktum ist aber auch, dass sich der Arbeitsmarkt in einem enormen Wandlungsprozess befindet und dass viele Beschäftigungsverhältnisse eben nur halbe, minimale oder Teilzeit-Beschäftigungsverhältnisse sind, so dass schnell aus einem "Arbeitsplatz" zwei werden und sich so natürlich Statistiken "schönen" lassen (deshalb vertraut Rezensent nur den Statistiken, die er selbst gefälscht hat ...). Hinzu kommt ein weiterer gravierender Wandel am Arbeitsmarkt: die deutliche Zunahme sog. prekärer Beschäftigungsformen, gern auch mit dem euphemistischen Amerikanismus des Freelancers umschrieben ... Beschäftigungsformen ohne soziale Absicherung. Das hat auch auf die Gesundheit der Arbeitsnehmer elementare Auswirkungen, wie sie in diesem Band beschrieben werden mit den Stichworten: Arbeitsbelastungen, Unsicherheit, Burnout, Ressourcen, Prävention - unter dem treffenden Titel "Erschöpfende Arbeit". 
 Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo Schlagworte:Prekäre Beschäftigungsformen, Arbeitsbelastungen, Unsicherheit, Burnout, Ressourcen, Prävention, Gesundheitsförderung, Freelancer
 Adressaten:
 Soziologie, Gesundheitswissenschaft, Sozialpsychologie, Arbeitswissenschaft
 
 Heiner Keupp (Prof. Dr.) war bis 2009 Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Projektleiter im Münchner Teil des BMBF-Projekts »pragdis«, hat diverse Gastprofessuren inne und war Vorsitzender der Kommission zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung.
 Helga Dill (Dipl.-Soz.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »pragdis« an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am IPP München. Sie beforscht, begleitet und berät seit vielen Jahren Einrichtungen, Projekte und Programme im Bereich der psychosozialen Versorgung.
 WWW: pragdis
 WWW: IPP München
 WWW: LMU München
 
Inhaltsverzeichnis Vorwort: Erschöpfende Arbeit – Gesundheit und Prävention in der flexiblen ArbeitsweltHeiner Keupp, Helga Dill  7
 
 Unterstützung für Wissensarbeiter – Geleitwort
 Volker Schütte  19
 
 Prävention in der Wissensökonomie – eine neue Herausforderung für die Arbeitsforschung
 Rüdiger Klatt, Hartmut Neuendorff  21
 
 Das erschöpfte Selbst – Umgang mit psychischen Belastungen
 Heiner Keupp  41
 
 Zunahme der psychischen Erkrankungen bei Beschäftigten
 Statistische Ergebnisse und Präventionsansätze der Krankenkassen
 Erika Zoike  61
 
 Neue Anforderungen an die Arbeitswelt – neue Anforderungen an das Subjekt
 Fritz Böhle 77
 
 Psychische Belastung durch neue Organisations- und Steuerungsformen. Befunde aus dem Projekt PARGEMA
 Wolfgang Dunkel, Nick Kratzer, Wolfgang Menz  97
 
 Belastungen, Beanspruchungen und Ressourcen in der IT-Arbeit
 Befragung von Beschäftigten und Freelancern der IT- und Medienbranche
 Dagmar Siebecke, Annika Lisakowski  119
 
 Entgrenzt statt entfremdet – Arbeit ohne Ende? Ergebnisse der
 qualitativen retrospektiven Fallstudien im Projekt pragdis
 Helga Dill, Florian Straus  143
 
 Prävention in diskontinuierlichen Erwerbsverläufen: Wer trägt die Verantwortung?
 Kurt-Georg Ciesinger  169
 
 Betriebliche Gesundheitsförderung in der Wissensökonomie –
 Zwischen „halbierter Modernisierung“ und nachhaltiger Arbeitsqualität
 Guido Becke  187
 
 Autorinnen und Autoren   219
 
 
 Leseprobe:
 
 Vorwort: Erschöpfende Arbeit – Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt
 HEINER KEUPP, HELGA DILL
 
 Die Entwicklung hin zu einem globalen Kapitalismus hat die Lebensund
 Arbeitsbedingungen der Menschen grundlegend verändert. Diese
 Veränderungen betreffen nicht nur die äußere Welt, sondern haben
 erhebliche Konsequenzen auch für die psychischen Innenwelten. Die
 eingespielten Identitätsmuster und die durch sie gesicherten Normalitätsvorstellungen
 brechen zusammen. Diese aktuellen Erfahrungen mit
 der Demontage unserer stabilen Identitätsgehäuse könnte man mit der
 klassischen Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest kaum
 besser ausdrücken. Die Rede ist da von der „ununterbrochene(n) Erschütterung
 aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit
 und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus.
 Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen
 Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle
 neu gebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische
 und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht...“ (Marx und
 Engels 1966, S.29).
 Diese Veränderungsdynamik wird vor allem in der Arbeitswelt erfahrbar.
 Die viel beschworene „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“
 kennzeichnet angesichts zunehmend entgrenzter Arbeit und hochflexibler,
 „grenzenloser” Unternehmen weite Teile des aktuellen Arbeitsmarktes.
 Sie drückt sich in einer wachsenden Heterogenität von
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 Beschäftigungsformen und einer Entstandardisierung der Erwerbsbiografien
 aus. Die ehemals festen Koordinaten des deutschen Produktions-
 und Dienstleistungsregimes sind in Auflösung begriffen. Das
 teils noch fest gefügte System, in der Betriebsstätte, Belegschaft,
 Arbeitszeit und Arbeitsprozess noch in genau definierten Grenzen
 lagen, verliert an Bedeutung. Wenn die institutionellen Rahmenbedingungen
 immer weniger Kontinuität und Sicherheit garantieren, rückt
 die Frage ins Zentrum, was das für die Subjekte bedeutet.
 In den Sozialwissenschaften hat sich eine lebendige und teilweise
 kontroverse Debatte um eine theoretische Erfassung der Individualisierungsprozesse
 und -folgen entwickelt. Thematisiert wird vor allem
 die Subjekt-Struktur-Schnittstelle. Die industrielle Moderne hat für die
 Integration der Subjekte in gesellschaftliche Strukturen spezifische
 Grundmuster ausgebildet, die eine epochenspezifische Passung von
 sozialstrukturellen Anforderungen und individuell-biographischen Formen
 der Lebensführung und Identitätsentwicklung ermöglicht haben.
 Erwerbsbezogene Normalbiographien, geschlechtsspezifische Formen
 der Arbeitsteilung, soziale Sicherungssysteme oder Vergemeinschaftungszusammenhänge
 haben in der industriellen Moderne Lebensformen
 ermöglicht, die zumindest die normative Erwartung einer dauerhaften
 Subjekt-Struktur-Synchronisation begründet haben. Sie haben den
 Status von Basisprämissen gesellschaftlicher Reproduktion angenommen.
 Subjektspezifische soziale Integrationsleistungen – die sich in den
 Grundgefühlen von Vertrauen, Sicherheit, Zugehörigkeit und Kontinuität
 äußern – schienen über diese Grundmuster industriegesellschaftlicher
 Lebensformen garantiert.
 Die theoretische Figur der „Zweiten Moderne“ bzw. reflexiven Modernisierung
 ist von der Annahme eines durchgängigen Prozesses der
 Individualisierung geprägt, der vor allem in Bezug auf die genannte
 Subjekt-Struktur-Synchronisation zu nachhaltigen Veränderungen führt.
 Die gesellschaftlichen Passungsangebote verlieren an Prägekraft für
 individuelle Biographien und die alltägliche Lebensführung. Subjekte
 werden mit der wachsenden Notwendigkeit konfrontiert, für die eigene
 Lebensorganisation bedürfnisgerechte Muster selbstständig zu entwickeln.
 Auf die bislang als gültig betrachteten „Normalformtypisierungen“
 als regulierende Prinzipien für die private und berufliche Lebenswelt
 ist kein Verlass mehr. Vorstellungen von Lebenssicherheit, von
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 eindeutiger und fester sozialer Verortung, von innerfamiliärer Arbeitsteilung
 oder von der identitätsstiftenden Qualität der Erwerbsarbeit werden
 in Zweifel gezogen.
 Individualisierung wird als „Vergesellschaftungsmodus“ thematisiert,
 der sich in seinem Deutungsmuster offensichtlich immer mehr in den
 Subjekten verortet hat und „Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und
 Selbststeuerung akzentuiert“ (Wohlrab-Sahr 1997, S.28). Diese Konstrukte
 lassen sich durchaus als befreiende Dynamik individueller Lebensführung
 darstellen, aber sie haben zugleich die Konnotation der Verpflichtung
 zu Selbstverantwortung und sozialer Kontrolle. Manche Rezipienten
 haben die frühen Produkte vor allem von Ulrich Beck (1986) als
 „emphatische Individualisierung“ gelesen und sind durch manche Formulierung
 über die „Kinder der Freiheit“ dazu auch ermuntert worden;
 aber auch die ersten Theoriebausteine haben nie die Ambivalenzen oder
 auch die neuen Zwänge ausgespart. Seitdem der Begriff der Individualisierung
 Gegenstand der Theoriedebatten geworden ist, werden vermehrt
 die Folgen dieses Prozesses für Individuum und Gesellschaft
 kontrovers diskutiert. Dabei ist es durchaus bedeutsam, dass eine
 allein positive Konnotation des Begriffes, die nur auf die erfreulichen,
 weil befreienden Effekte des Freisetzungsprozesses aus überkommenen
 Bindungen und aus bis dato unhinterfragbaren Verpflichtungen,
 im strengen Sinne nicht vorliegt. Denn noch die eifrigsten Vertreter
 einer positiven Lesart weisen auf die Ambivalenzen des Individualisierungsprozesses
 für das einzelne Subjekt hin. Demgegenüber betonen
 die Vertreter einer negativen Lesart in erster Linie eine Verfallsperspektive
 im Hinblick auf das Verschwinden bisheriger sozialer
 Bindungen und bewegen sich letzten Endes in der Durkheimschen
 Tradition der Diagnose gesellschaftlicher Anomie. Demgegenüber ist
 die von Beck vertretene Lesart eine, welche die Ambivalenzen, Nebenfolgen
 und Brüche des Individualisierungsprozesses in den Mittelpunkt
 stellt. Von „ganz normal chaotischer Individualisierung“ (Beck
 2007, S.582) ist dabei u.a. in Anlehnung an andere Zusammenhänge
 die Rede.
 Der Blick auf die Folgen für das einzelne Individuum und seine
 sozialen Zusammenhänge bedeutet indes nicht, dass die gesellschaftliche
 Seite der Individualisierung ausgeblendet wird, denn Individualisierung
 ist zuvorderst ein gesellschaftlicher Prozess, d. h. er wird insti10
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 tutionell unterstützt, vorangetrieben und gefördert. Die Autonomie des
 Individuums als Ergebnis und Anforderung des Individualisierungsprozesses
 ist also auch vor diesem Hintergrund zu betrachten. Genauer,
 die Autonomiebehauptung des Subjekts steht in unmittelbarem
 Zusammenhang mit der Autonomiezuschreibung und -erwartung
 durch gesellschaftliche Institutionen. In dem Maße, wie dies der Fall
 ist, können wir von einer institutionalisierten Individualisierung sprechen.
 Es kommt weniger auf das Autonomiebedürfnis der Subjekte an,
 das man durchaus unterstellen darf, nein: Autonomie wird ihnen abverlangt,
 aufoktroyiert, abgefordert. Nicht immer, nicht überall, aber
 grundsätzlich haben viele Institutionen die Erwartung an die Subjekte,
 sich als individualisiertes Individuum zu definieren. Und natürlich ist
 dieses normative Programm auch schon in die Selbstbeschreibung der
 Subjekte integriert. Fest steht: Das Programm der Individualisierung
 ist zur affirmativen Selbstbeschreibung der Individuen geworden, zur
 Erklärungsformel des eigenen Soseins.
 Im Arbeitsbereich finden wir die Figur des „unternehmerischen
 Selbst“ (Bröckling 2007) als Ziel institutioneller Individualisierung
 mit der Doppelbotschaft von Autonomie und Kontrolle und der möglichen
 Konsequenz eines ermüdeten Selbst: Entwickle ein unternehmerisches
 Selbst und weise mir das nach! Im Arbeitskontext fällt uns
 aus der Perspektive sozialer Verortung auf, dass es hier nicht nur zu
 einer Verunklarung der Außen- sondern auch der Binnengrenzen
 kommt. Der hierarchische Aufbau, der in einem ersten Schritt möglicherweise
 durch eine Matrixstruktur überlagert wurde, wird nun zusätzlich
 unter einer Netzwerkperspektive betrachtet. Soziale Netze der
 Mitarbeiter werden aus der halbprivaten Sphäre geholt, Networking
 wird verbindlich und Teil der Beurteilung.
 Neue Arbeits- und Steuerungsformen setzen sich durch und verlangen
 neue Kompetenzen der Personen. Freelancer, diskontinuierlich
 Beschäftigte, Alleinunternehmer/innen benötigen dieses unternehmerische
 Selbst. Hans Pongratz und Günter Voß (2003) beobachten den
 Zwang zum unternehmerischen Umgang mit sich für die Sphäre der
 Erwerbsarbeit im Allgemeinen. Sie sehen den „Arbeitskraftunternehmer“
 als neuen Leittypus der Erwerbsarbeit – passend zu Flexibilisierungs-
 und Entgrenzungsprozessen in allen Lebensbereichen. Die
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 Erwerbssphäre, der Betrieb waren lange durch vielfältige institutionelle
 Regelungen gegen Individualisierungsprozesse gefeit – sie haben
 das Selbst, wie es Fritz Böhle in seinem Beitrag zu diesem Buch zeigt,
 nicht durch die Tore eingelassen. Im Zuge von Globalisierung, weltweitem
 Wettbewerb und Deregulierung, haben sich neue Steuerungsformen
 durchgesetzt.
 Noch ist die Reichweite dieser Entgrenzungs- und Individualisierungprozesse
 nicht absehbar. Qualifizierte Tätigkeitsbereiche geraten
 aber immer mehr in den Sog von Selbstmanagement, Selbststeuerung,
 Selbstkontrolle u.ä. Die Deutung der durchgängigen Individualisierungsprozesse
 ist notwendigerweise in seinen widersprüchlichen
 Folgen für die Subjekte zu thematisieren. Das hat Jürgen Habermas
 (1998, S.126 f.) als „zweideutige Erfahrung“ benannt: „die Desintegration
 haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die
 Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie
 präjuduzierenden und gefangen nehmenden Verhältnissen. Kurzum,
 die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die
 Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume.“
 Zunehmend richtet sich die Aufmerksamkeit der sozialwissenschaftlichen
 Zeitdiagnose auf die problematischen Folgen der Individualisierungsprozesse
 im Kontext der kapitalistischen Globalisierung
 (vgl. Jensen & Westenholz 2004). So kann man bei Richard Sennett
 (2005) lesen:
 „Ich behaupte, dass diese Veränderungen den Menschen keine Freiheit gebracht
 haben. Warum? Weil die Menschen äußerst besorgt und beunruhigt sind
 im Hinblick auf ihr Schicksal unter den Bedingungen des „Wandels“. Was
 ihnen fehlt, ist ein mentaler und emotionaler Anker. Nachdem sich der alte
 soziale Kapitalismus aufgelöst hat, erzeugen die neuen Institutionen nur ein
 geringes Maß an Loyalität und Vertrauen, dafür aber ein hohes Maß an Angst
 vor Nutzlosigkeit.“
 Die Anforderungen der veränderten und globalisierten (Arbeits-) welt
 bleiben nicht ohne Folgen für die Gesundheit der Personen. Klassische
 Gefährdungen und Risiken wie etwa Unfälle oder körperlich schwere
 Arbeiten verlieren Bedeutung. Psychische Belastungen und Erkrankungen
 – oft stressbedingt – sind dagegen auf dem Vormarsch. So hat
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 beispielsweise die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer
 Erkrankungen (Depressionen, Neurosen etc.) in den letzten zehn
 Jahren in Deutschland um rund 40% zugenommen. Alain Ehrenberg
 spricht von dem „erschöpften Selbst“, der Depression als der typischen
 Krankheit unserer Zeit. „Die Depression … ist die Krankheit
 einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und
 Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“ (Ehrenberg
 2004).
 Burnout – früher symptomatisch für helfende und pflegende Berufe,
 für Erwerbstätige, die Gefühlsarbeit leisten – ist in viele Arbeitsbereiche
 vorgedrungen: der IT- und Kommunikationssektor ist überproportional
 betroffen. Lehrkräfte, Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberater,
 Telefonistinnen und Telefonisten, Mitarbeiterinnen
 und Mitarbeiter in Call-Centern, alle diese Sektoren tauchen heute in
 Statistiken auf, in denen es um Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund
 psychischer Erkrankungen und Störungen, aufgrund von Erschöpfung
 geht.
 Die Organisationsform der Arbeit, die Steuerungsformen, aber
 auch Fragen, ob der Arbeitsplatz gesichert ist, ob die Aufträge fließen,
 spielen für das Auftreten von Erschöpfungssymptomen eine
 große Rolle. Aber welche Rolle spielt der Arbeitsinhalt? Kann Arbeit
 mit, am und für den Computer Erschöpfungszustände begünstigen?
 Das amerikanische Psychologenteam Gary Small und Gigi Vorgan
 (2008) hat in einer Studie Belege dafür gefunden, dass der Computer
 nicht nur soziale Kompetenzen beeinflusst, sondern das Gehirn neurologisch
 verändert. Frank Schirrmacher (2009) sieht das Netz an sich,
 den täglichen Umgang mit Information und Informationstechnologie
 als Ursache für Erschöpfung.
 Die skizzierten Entwicklungen wirken zunächst sehr hoffnungslos.
 Globalisierung, Individualisierung, Computerisierung – gibt es ein
 Entrinnen? Gibt es Strategien, die gesund erhalten, den gesellschaftlichen,
 technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen zum
 Trotz?
 Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1997) bietet mit dem
 salutogenetischen Modell einen Ansatz für die Frage, was Menschen
 trotz widriger Lebensumstände, trotz Risiken und Belastungen gesund
 erhält. Antonovsky fragt nach den Ressourcen, auf die Personen zuDILL/
 KEUPP: VORWORT | 13
 greifen können, um mit diesen belastenden Alltagserfahrungen umgehen
 zu können. Eine zentrale Widerstandsressource ist der Kohärenzsinn.
 Als Kohärenzsinn wird ein positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit
 verstanden, die von dem Gefühl der Bewältigbarkeit
 von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der
 Selbststeuerungsfähigkeit und der Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen
 getragen ist. Der Kohärenzsinn ist durch das Bestreben charakterisiert,
 den Lebensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie
 mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu
 können. Das Kohärenzgefühl repräsentiert auf der Subjektebene die
 Erfahrung, eine Passung zwischen der inneren und äußeren Realität
 geschafft zu haben. Umso weniger es gelingt, für sich Lebenssinn zu
 konstruieren, desto weniger besteht die Möglichkeit sich für oder
 gegen etwas zu engagieren und Ressourcen zur Realisierung spezifischer
 Ziele zu mobilisieren.
 Zu einer Gesundheitsförderung gehört damit die Förderung der
 Widerstandsressourcen, im Sinne der WHO-Definition von Gesundheit
 die Schaffung einer Lebenswelt, in der Individuen an Handlungsfähigkeit
 gewinnen können, in die Lage versetzt werden, mit Stressoren,
 mit erschöpfenden Lebensbedingungen umgehen zu können. Wer
 aber ist verantwortlich für die Förderung solcher Lebensbedingungen?
 Eine klassische Präventionsagentur der „alten“ Arbeitswelt ist der
 Betrieb. Betriebliche Prävention, betriebliches Gesundheitsmanagement
 richten sich an die Stammbelegschaft. Mit zunehmender Flexibilisierung
 und zunehmender Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse
 wird betriebliche Gesundheitsvorsorge zunehmend randständig.
 Wird Prävention für diskontinuierlich Beschäftigte somit zu einem
 individuellen Projekt, geht es neben Selbstmanagement, Selbstorganisation
 und Selbstrationalisierung nun auch noch um Selbstprävention?
 Selbstverantwortung ist natürlich eine zentrale Forderung. Diese
 aber will gelernt sein und damit benötigen erschöpfte Subjekte unterstützende
 Strukturen und hilfreiche Partner für die anspruchsvolle
 Aufgabe, in einer zunehmend unübersichtlichen Welt den Überblick
 zu behalten.
 Der vorliegende Band beschäftigt sich mit den oben skizzierten
 zentralen Fragen. Ein Kernstück für die Diskussion sind die Ergebnisse
 des Projektes pragdis – einem Kooperationsprojekt der TU Dort14
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 mund mit der LMU München. Pragdis will für die Zielgruppe der
 diskontinuierlich Beschäftigten in der IT-und Medienbranche Strategien
 und Instrumente des präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes
 im Spannungsfeld zwischen betrieblichen Unterstützungsmöglichkeiten
 und individueller Verantwortung entwickeln. Auf der Basis von
 qualitativen und quantitativen Erhebungen werden die gesundheitlichen
 Belastungen, die individuellen Ressourcen und Präventionsstrategien
 der diskontinuierlich Beschäftigten analysiert. Ergänzt wird
 diese Betrachtung durch Befragungen bei Unternehmen. Im Fokus
 steht dabei die Frage, ob es branchentypische, IT-spezifische Belastungsfaktoren
 gibt und/oder ob die Beschäftigungsform (Alleinselbstständige,
 diskontinuierlich Beschäftigte, Jobhopper, Cappuccinoworker)
 die Belastungen mit sich bringt.
 Ziel des Projektes Pragdis ist, auf der Basis dieser Erhebungen
 spezifische Präventionsstrategien zu entwickeln und zu erproben, die
 sich an die Zielgruppe der diskontinuierlich beschäftigten Wissensarbeiter/
 innen richten, Verbündete für die Umsetzung durch Nutzung
 bzw. Etablierung von überbetrieblichen Präventionsnetzwerken zu gewinnen
 und dabei an der Lebenswelt und der Lebensführung der Zielgruppe
 anzusetzen. Pragdis wird gefördert vom Bundesministerium
 für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds.
 Grundlage für diesen Band sind die Beiträge einer Tagung in
 München, bei der die pragdis-Forscherinnen und -Forscher ihre Ergebnisse
 mit der scientific community diskutierten. Mit der Tagung in
 München waren zwei Ziele verbunden: Zum einen ging es um eine
 erste Bilanz der quantitativen und qualitativen Forschungsergebnisse
 im Projekt pragdis und deren Verortung in der arbeitswissenschaftlichen,
 arbeitssoziologischen und sozialpsychologischen Forschung.
 Zum anderen ging es um erste Überlegungen zu daraus abgeleiteten
 Präventionsstrategien. Diese Einbettung skizziert Volker Schütte als
 Vertreter des Projektträgers DLR in einer kurzen Vignette.
 Hartmut Neuendorff und Rüdiger Klatt führen in das Projekt pragdis
 und seine Einbettung in die Forschungslandschaft ein und erläutern
 die Vernetzung von pragdis im Förderschwerpunkt „Arbeiten – Lernen
 – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen
 Arbeitswelt“ des BMBF.
 DILL/KEUPP: VORWORT | 15
 Heiner Keupp sieht im gesellschaftlichen Strukturwandel der Globalisierung,
 in der „entfesselten Welt“ wie es Giddens beschreibt, die
 Grundlage für eine Erschöpfung als gesellschaftlichem Phänomen und
 plädiert für eine nachhaltige Selbstsorge, einen bedachtsamen Umgang
 mit den je eigenen Ressourcen und eine neue Selbstbestimmung.
 Die Daten der BKK zu psychischen Erkrankungen und Belastungen
 von Versicherten, zusammengefasst und erläutert von Erika Zoike,
 bestätigen die Befunde von pragdis auf eindrückliche Weise.
 Fritz Böhle vertritt die These von einem grundlegenden Strukturwandel
 der Arbeitswelt. Ausgehend von einem Rückblick auf die
 historische Entwicklung schildert er den Prozess der Subjektivierung
 von Arbeit über Selbstorganisation, Selbstmanagement bis hin zur
 Selbstkontrolle. Als Auslöser für Belastungen können nicht länger
 eindimensionale Ursache-Wirkungsfaktoren identifiziert werden,
 Stress und psychische Belastungen entstehen vielmehr aus Belastungskonstellationen.
 Erfahrungen mit Erschöpfung und Belastungskonstellationen
 schildern Wolfgang Dunkel, Nick Kratzer und Wolfgang Menz anhand
 der Ergebnisse des Projektes pargema, das sich mit (psychischen)
 Gesundheitsgefährdungen im Zusammenhang mit neuen Organisations-
 und Steuerungsformen beschäftigt und Konzepte dagegen entwickelt.
 Partizipatives Gesundheitsmanagement wird zusammen mit den
 Unternehmen, Betriebsräten, Arbeits- und Gesundheitsschutzexperten
 und Beschäftigten konzipiert und in ausgewählten Betrieben implementiert.
 Die Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Forschungsteile
 in Pragdis stehen im Kern dieses Tagungsbandes. Dagmar Siebecke
 kommt zu dem Schluss, dass diskontinuierliche Arbeit mehr Stress mit
 sich bringt, aber dass die Freiheitsgrade in Kombination mit als ausreichend
 erlebter Gratifikation auch zu positiver Leistungsorientierung
 führen.
 Helga Dill und Florian Straus zeigen die Ambivalenzen diskontinuierlicher
 Arbeitsformen auf. Eine als sinnvoll erlebte Arbeit kompensiert
 hohen Zeit- und Ergebnisdruck. Während selbstgewählte Diskontinuität
 als nicht-entfremdete Arbeit positiv erlebt wird, kann
 erzwungen Diskontinuität, etwa aus der Arbeitslosigkeit heraus zu
 tiefer Erschöpfung führen.
 16 | ERSCHÖPFENDE ARBEIT
 Guido Becke beleuchtet die Entwicklung der Gesundheitsförderung
 inner- und überbetrieblich. Neue Arbeitsformen – so seine These
 – sind mit Konzepten betrieblicher Prävention nicht mehr in den Griff
 zu bekommen. Gesundheitsförderung muss sich netzförmig organisieren,
 sich stärker auf lokale Unternehmen beziehen.
 Entsprechend sieht Kurt-Georg Ciesinger langfristige Präventionsstrategien
 für diskontinuierlich Beschäftigte in einer Kombination aus
 individueller und individuumsbegleitender Unterstützung. Neue Anreizsysteme
 müssen geschaffen werden, die nicht mehr beim Betrieb,
 sondern beim Beschäftigten platziert werden. Regionale Präventionsagenturen
 könnten flexibel beraten, unterstützen und Ressourcen
 bereit halten.
 Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen
 in diesem Band zu einer Diskussion über Gesundheit in der neuen
 Arbeitswelt einladen. Besonders bedanken wir uns bei Martin
 Schmidt, der mit viel Engagement an der Realisierung dieses Buchprojektes
 beteiligt war.
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 DILL/KEUPP: VORWORT | 17
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