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Ein reiner Schrei
Siobhan Dowd
Carlsen
EAN: 9783551581587 (ISBN: 3-551-58158-4)
320 Seiten, hardcover, 15 x 22cm, 2006
EUR 15,00 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
"Shell", fragte Pater Rose. "Würdest du sagen, dass du glücklich bist?" Noch nie hatte irgendjemand sie danach gefragt. Shell wusste nicht, was sie antworten sollte. "Glücklich", wiederholte sie. Der Regen ließ ein wenig nach. Sie warteten noch eine Weile. "Ich meine, mit deinem Leben."
In ihrem zu Herzen gehenden Debütroman erzählt Siobhan Dowd eine Geschichte über die Einsamkeit und das Entsetzliche der menschlichen Existenz, über das Bleiben und Ertragen.
Und über die Lust zu leben.
Rezension
"Ein außergewöhnlicher Debütroman" – so urteilt DIE ZEIT über das Erstlingswerk von Siobhan Dowd. Die Hauptfigur ist ganz und gar nicht außergewöhnlich: Ein junges Mädchen, das in bedrückenden Verhältnissen lebt und ungeplant schwanger wird. Shell ist keine strahlende Heldin; sie ist hilflos, naiv und überfordert; nicht in der Lage, ihr Leben in die Hand zu nehmen, zu planen und aktiv zu werden. Dennoch gewinnt sie die Sympathie des Lesers; man fühlt intensiv mit ihr.
In den Beschreibungen von Siobhan Dowd wird das Leben plastisch und farbig. Die dichte Schilderung von Ansichten, Geräuschen und Gerüchen, von Gefühlen und Phantasien spricht den Leser und seine Vorstellungskraft an. Der Höhepunkt des Buches ist die Beschreibung, wie Shell einen Tag vor Weihnachten unter Schmerzen ihr Baby gebiert, nur mit Hilfe ihrer beiden kleinen Geschwister. Die kleine Schwester hat eine „Krippe“ gebastelt, aus einem Pappkarton, aber mit Watte statt mit Stroh, denn das ist weicher. Da geschieht beinah ein Weihnachtswunder – wenn Shell sich nicht endlich eingestehen müsste, dass die kleine Rosie, die schon bei der Geburt weiß und bewegungslos war, tot ist. Die drei begraben das Baby auf dem Acker. Geburt und Tod, direkt beieinander; eine Schilderung, die wohl jeden Leser ergreift.
Die Charaktere sind lebendig, nicht gut oder böse, schwarz oder weiß – selbst für den alkoholkranken Vater, der nach dem Tod seiner Frau in religiösen Fanatismus verfällt und seine Kinder vernachlässigt, kommt Mitgefühl und Verständnis auf, wenn er glaubt, im Suff seine eigene Tochter missbraucht zu haben. Auch bei den Handlungen gibt es keine eindeutigen Bewertungen: Der Vater sammelt Spenden für die Kirche, zweigt aber einen Teil davon für Alkohol ab; der Pastor weiß es und billigt es im Stillen. Richtig oder falsch? Durch die einfühlsame Art des jungen Paters findet Shell wieder zum Glauben. Aber der Pastor macht dem jungen Seelsorger klar, dass es sich nicht die Nöte der Familie nicht an die Behörden weiterzugeben hat und vor allem jede Nähe zu einer Frau vermeiden muss, um die Kirche nicht ins Gerede zu bringen. Richtig oder falsch? Stehlen ist eine Sünde, doch Shell stiehlt für ihre kleinen Geschwister ein Weihnachtsgeschenk. Richtig oder falsch? Es gibt keine einfachen Antworten.
Aber eins ist für die Autorin eindeutig, und das versteht auch der jugendliche Leser: Richtig ist Verständnis, Anteilnahme und Verzeihen. Wenn das Dorf Shell als Kindsmörderin verurteilt, so ist das bitteres Unrecht; der medizinische Bericht weist darauf hin, dass das Baby bei einer Entbindung mit fachgerechter medizinischer Betreuung nicht hätte sterben müssen. So sind also alle schuld, die die Augen verschlossen und weggeschaut haben. Das mag auch für das zweite Baby gelten: Zwar hat Bridie es ausgesetzt und so seinen Tod verursacht, aber wenn das junge Mädchen Hilfe erhalten hätte, wäre es nicht dazu gekommen. So ist das Buch ein Appell an mehr Mitmenschlichkeit.
Nach Shells bitteren Erfahrungen ändern sich die äußeren Umstände ihres Lebens nur wenig. Aber jetzt erfährt sie Unterstützung im Dorf und sie findet in ihr Leben zurück. Teils haben sich die Rollen umgekehrt: Der Pater, durch den sie anfangs wieder Licht in ihrem dunklen Leben gefunden hat, hat nun selbst seinen Glauben verloren, und sie zeigt ihm einen möglichen Weg auf. Shell spürt, dass das Leben trotz aller Schattenseiten lebenswert ist. Und so endet der Roman mit einer Fahrt der drei Geschwister auf dem Riesenrad: „Welche Lust, zu leben, welche Lust!“
Kann man ein solches Buch in der Schule lesen? Die Lebensumstände von Shell sind den meisten Jugendlichen wohl fremd. Auch die Strukturierung des Buches nach den kirchlichen Feiertagen ist ungewohnt, doch die Hauptgeschehnisse (Beginn in der Fastenzeit, Verführung am Ostersonntag, Geburt vor Weihnachten) sind in ihrer Symbolkraft wohl dennoch verständlich. Die plastische Sprache und die differenzierten Charaktere sind ein Gewinn für den Leser, besonders aber das Menschenbild, das dem Buch zugrunde liegt. Als Anspruch ist es besonders wirksam, weil es nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommt, es wird niemals ausgesprochen – der Leser wird ernst genommen, er muss sich seinen Teil schon denken. Übertragungen auf die Situation der Schüler liegen auf der Hand.
Deshalb: Ja! Das Buch eignet sich in jedem Fall als Lektüre in der Schule. Und dem Buch ist zu wünschen, dass es nicht „nur“ als Jugendbuch eingestuft wird, sondern auch einen weiteren Leserkreis findet.
Vom Verlag ab 16 Jahren empfohlen
Auf der Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 in der Sparte Jugendbuch.
M. Houf, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Südirland, 1984 — Als Shells Mutter stirbt, wird ihr Vater zum religiösen Fanatiker. Da er meistens auf Sauftour geht, muss Shell sich um ihre kleinen Geschwister kümmern. Und eigentlich auch um sich selbst. Die zarte Freundschaft mit dem neuen jungen und idealistischen Pater Rose bringt Licht in ihren harten Alltag. Doch der Klatsch der Gemeinde erstickt diese Beziehung bald und Shell vertreibt sich nun die Zeit mit ihrem Schulkamerad Declan. Als der nach Amerika verschwindet, bleibt Shell allein zurück — und schwanger. Niemand scheint dies zu bemerken, nicht einmal ihr Vater, der der Familie immer mehr den Rücken zukehrt. Shell ist auf ihre jüngeren Geschwister angewiesen, die sich rührend um sie kümmern. Aber nicht nur Shell hütet ein Geheimnis. Plötzlich findet sie sich im Mittelpunkt eines Skandals, der nicht nur die kleine Gemeinde, sondern ganz Irland erschüttert. |
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