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Die Wende Wie die Renaissance begann Originaltitel: The Swerve. How the World Became Modern
Originalverlag: W. W. Norton & Company
Aus dem Englischen von Klaus Binder
Die Wende
Wie die Renaissance begann


Originaltitel: The Swerve. How the World Became Modern

Originalverlag: W. W. Norton & Company

Aus dem Englischen von Klaus Binder

Stephen Greenblatt

Random House
EAN: 9783886808489 (ISBN: 3-88680-848-3)
352 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 15 x 23cm, 2012, mit Abbildungen

EUR 24,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award



Bestsellerautor Stephen Greenblatt führt uns in seinem neuen Buch an die Zeitenwende zwischen dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Renaissance. Er folgt dabei den Spuren von Lukrez' „De rerum natura” – einem antiken Text, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, das Denken der Menschen radikal veränderte und die Welt in die Moderne führte.



An einem kalten Januartag des Jahres 1417 fällt dem Humanisten Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster ein altes Manuskript in die Hände. Damit rettet er das letzte vorhandene Exemplar von Lukrez’ antikem Meisterwerk „De rerum natura” vor dem Vergessen, nicht ahnend, dass dieses Buch die damalige Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird. Denn der antike Text mit seinen unerhörten Gedanken über die Natur der Dinge eröffnet den Menschen des ausgehenden Mittelalters neue Horizonte, befeuert die beginnende Renaissance und bildet die Basis unserer modernen Weltsicht.



Farbenfroh und spannend beschreibt Stephen Greenblatt, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste und bedeutende Künstler wie Botticelli und Shakespeare, aber auch Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei prägte. Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance, der zugleich zeigt, wie ein einzelnes Buch dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben kann.



Stephen Greenblatt ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard Universität. Als führender Theoretiker des New Historicism ist er einer der angesehensten Forscher zu Shakespeares Werk sowie zu Kultur und Literatur in der Renaissance. Greenblatt ist der Herausgeber der Norton Anthology of English Literature, Gründer und Mitherausgeber der Zeitschrift Representations sowie Autor mehrerer Bücher, darunter die hochgelobte Shakespeare-Biographie Will in der Welt (2004). Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem James Russell Lowell-Preis der Modern Language Association. Er lebt in Cambridge, Massachusetts, und in Vermont.


Rezension
Der Beginn des Renaissance-Zeitalters gilt nicht selten als Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit. In der Tat haben hier sich entscheidende Veränderungen vollzogen, die einen epochalen Umbruch sichtbar werden lassen. Der Autor betont vor allem, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste, - ja die Verbreitung eines einzelnen Buches: Lukrez „De rerum natura”. Wollen wir unsere eigene Zeit verstehen, müssen wir die Umwälzungen kennen, die sich in der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit vollziehen. Herausragende Ereignisse dieser Zeit sind die Umgestaltung des ptolemäischen Weltbildes, die Revitalisierung platonischen Gedankenguts, die Revolution im Glauben, die Rolle der Humanisten bei der Reform von Gesellschaft und Kirche sowie die vielfältigen Strömungen im Bereich der Literatur und Kunst. Die Renaissance entwickelte Neues durch Wiederentdeckung des Alten, der Antike, der klassischen Tradition, wie der Autor an Lukrez zeigt. Diese italienisch-europäische Epoche von ca. 1350 bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts als der Wiedererweckung des klassischen Altertums und des Wiederaufblühens der Künste markiert eine wesentliche Wende (Buchtitel!) in der Geschichte des Abendlands.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Pulitzer-Preis 2012 für Stephen Greenblatt

Der US-Autor Stephen Greenblatt wurde am Montag, den 16. April für sein Sachbuch „The Swerve: How the World Became Modern“ mit dem renommierten Pulitzer-Preis in der Kategorie „General Nonfiction“ ausgezeichnet. Die deutsche Fassung des Werkes erscheint am Montag, dem 23. April 2012 unter dem Titel „Die Wende – Wie die Renaissance begann“ beim Random-House-Verlag Siedler.

Vom Mittelalter zur Renaissance
In seinem neuen Buch befasst sich Bestsellerautor Greenblatt mit der Zeitenwende zwischen dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Renaissance. Er folgt dabei den Spuren von Lukrez' „De rerum natura”, einem antiken Text, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, das Denken der Menschen radikal veränderte und die Welt in die Moderne führte. Spannend und farbenfroh beschreibt Stephen Greenblatt, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste und bedeutende Künstler wie Botticelli und Shakespeare, aber auch Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei prägte. Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance, der zugleich zeigt, wie ein einzelnes Buch dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben kann.

Führender Theoretiker des New Historicism
Stephen Greenblatt ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard Universität. Als führender Theoretiker des New Historicism ist er einer der angesehensten Forscher zu Shakespeares Werk sowie zu Kultur und Literatur in der Renaissance. Greenblatt ist Autor mehrerer Bücher, darunter die hochgelobte Shakespeare-Biographie „Will in der Welt“ (2004). Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem mit dem James Russell Lowell-Preis der Modern Language Association.

Pressestimmen:

»Eine von Greenblatt meisterhaft inszenierte Verführung.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Der Geisteswissenschaftler Stephen Greenblatt hat ein faszinierendes Buch über die Renaissance geschrieben – und über die Wirkungsmacht eines antiken Philosophen, dessen Werk zur Inspiration für Aufklärung und Moderne wurde. […] So wird dieses Buch […] zur existentiellen Exkursion. Und das liegt an Lukrez. Wenn man will, kann man Lukrez als Prisma nehmen, um Fragen der Gegenwart zu betrachten.«
Der SPIEGEL (07.05.2012)

»Greenblatt schreibt so schwungvoll, wie ein epikureisches Atom durch die Gegend saust. Ein Schmöker.«
Süddeutsche Zeitung (25.04.2012)

»Stephen Greenblatt tritt zusammen mit Poggio Bracciolini eine spannende, äußerst abwechslungsreiche Reise an, die viel zum Verständnis der kulturellen Landschaft des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts beiträgt. Das Buch ist eine Einladung an all jene, die sich gern auf eine Exkursion begeben, bei der verschiedene Jahrhunderte mit konzentriertem Blick in Augenschein genommen werden.«
Deutschlandradio Kultur (26.04.2012)

»Brillant. Eine famose Studie. Knapp 300 Seiten brillante Wissenschaftsprosa.«
Der Standard (A), 12.05.2012

»Schon jetzt kann man Greenblatts Werk als ein Hauptwerk der Renaissanceforschung einstufen. Außerdem ist es von nicht geringem Belang, dass (...) hier ein weit über das Fachpublikum hinaus auch für interessierte Laien geeigneter Wissenschaftsschmöker vorliegt. (...) Dieses neuartige ideengeschichtliche Panorama liest sich höchst spannend.«
WDR 3 Passagen (03.07.2012)

»›Die Wende‹ ist ein glänzend erzähltes, kenntnisreich souveränes Buch über einen bisher wenig beachteten Faden im schillernden Gewebe, als das die Renaissance bis heute fasziniert.«
Berliner Zeitung (26.04.2012)

»Man kann auch spannend und frisch über die Renaissance schreiben. Das beweist der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt.«
Kölncampus – Ansichtssache, 23.06.2012

»Zuweilen geht Greenblatt recht polemisch und provokant vor, was dem Buch jedoch mehr nützt als schadet, da es dadurch erst recht an Kraft und Würze gewinnt. Nicht nur Humanistenherzen werden bei der Lektüre höher schlagen, auch Neulingen sowie auf dem Feld der Antike und Frühen Neuzeit noch völlig Unbeschlagenen öffnet sich ein anregender Zugang zu einem außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses weitwestgehend vergessenen Philosophen und seiner Rezeption.«
Lesart, 2/12

»Natürlich vermag Stephen Greenblatt die Wende zur Moderne am Beginn der frühen Neuzeit heute nicht völlig umzuschreiben. Dennoch gelingt ihm eine hochinteressante neue Perspektivierung und eine deutliche Neubewertung entscheidender Aspekte der Renaissance. Außerdem ist es von nicht geringem Belang, dass – obwohl manch interessantes Detail in den Fußnoten steckt – hier ein weit über das Fachpublikum hinaus auch für interessierte Laien geeigneter Wissenschaftsschmöker vorliegt, der andererseits gegen jegliche Romantisierungstendenzen gefeit ist.«
WDR 3 – Passagen, 03.07.2012

»Der Autor erläutert nicht nur auf verständlichste Weise das Gedankengut des originellen antiken Philosophen. Er zeichnet auch wie in einem Abenteuerroman die Medienlandschaft und den Diskurs von der Antike bis zur beginnenden Renaissance und die Rezeption Lukrez' nach dessen Wiederentdeckung nach.«
Diepholzer Kreisblatt (05.05.2012)

»Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance. Farbenfroh und spannend.«
Christlicher Digest - Das Familienmagazin, 07_08/12
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9

kapitel eins
Der Bücherjäger
23

kapitel zwei
Der Moment der Entdeckung
33

kapitel drei
Auf der Suche nach Lukrez
61

kapitel vier
Der Zahn der Zeit
91

kapitel fünf
Geburt und Wiedergeburt
121

kapitel sechs
In der Lügenschmiede
145

kapitel sieben
So fängt man Füchse
165

kapitel acht
Wie die Dinge sind
191

kapitel neun
Die Rückkehr
211

kapitel zehn
Wendungen
227

kapitel elf
Nachwehen
251

Dank
277

Anmerkungen
279

Literaturverzeichnis
313

Register
335

Bildnachweis
345



Leseprobe:

Vorwort
Als ich noch Student war, besuchte ich gegen Ende des Semesters
regelmäßig den Yale-Laden und schaute, was ich für den Sommer
zu lesen fand. Mein Taschengeld war knapp, doch die Buchhandlung schlug
alljährlich ihre Ladenhüter los, zu lächerlich kleinen Preisen. Die Bücher
wurden in Wühlkästen gestopft, und ohne feste Absichten machte ich mich
darüber her, wartete einfach ab, was mir ins Auge fiel. Auf einem dieser
Beutezüge stieß ich auf ein Taschenbuch mit einem äußerst seltsamen
Cover, aufmerken ließ mich ein Ausschnitt aus einer Zeichnung des Surrealisten
Max Ernst. Unter einer Mondsichel hoch über der Erde waren zwei
Beinpaare – die Körper fehlten – mit etwas beschäftigt, das wohl ein himmlischer
Beischlaf sein sollte. Das Buch – eine Prosaübersetzung von Lukrez’
zweitausend Jahre altem Gedicht De rerum natura (Von der Natur) – war
herabgesetzt auf zehn Cent, und wie ich gestehen muss, hatte ich es eher auf
den Umschlag abgesehen als auf die klassische Darstellung des Kosmos und
seiner Ausstattung.
Antike Physik ist nicht ganz das, was man sich unter Ferienlektüre
vorstellt, doch irgendwann in diesem Sommer, in einer müßigen Stunde,
nahm ich das Buch in die Hand und begann zu lesen. Und stieß schon in
den ersten Versen auf eine mehr als hinreichende Rechtfertigung für die
erotische Umschlagillustration. Lukrez setzt ein mit einem glühenden
Hymnus an Venus, die Göttin der Liebe, deren Erscheinung im Frühling
das Gewölk vertreibt, den Himmel mit Licht füllt und die ganze Welt mit
rasendem sexuellem Begehren:
Kaum nämlich ist die Pforte des Frühlings aufgesprungen und es
wirkt, plötzlich befreit, die Brise des Zephyr, da, Göttin, künden die
Vögel dich an, ins Herz getroffen von deinen mächtigen Pfeilen. Dann
10
vorwort
toben das Wild und das Vieh über üppige Weiden, schwimmen durch
wilde Ströme: Von deinem Zauber gefangen, begierig folgen sie alle
dir, willig, wohin du sie führst. Dann senkst du verführerische Liebe
ins Herz aller Kreaturen, die leben in den Meeren und Bergen und
fließenden Strömen und in der Vögel belebtem Dickicht, auf grünenden
Fluren; den leidenschaftlichen Trieb senkst du in sie, ihre Art zu
vermehren.1
Fasziniert von der Intensität dieses Auftakts las ich weiter, kam zur Vision
des in Venus’ Schoß ruhenden Kriegsgottes Mars – »bezwungen von der
nie heilenden Wunde der Liebe, den Nacken zurückgeworfen, schaut er in
Liebe begierig dich an« –; von dort zu einer Bitte um Frieden, zum Lobpreis
auf die Weisheit des Philosophen Epikur und zur resoluten Abwehr
abergläubischer Furcht. Als ich dann bei einer längeren Darstellung erster
Prinzipien der Philosophie landete, zweifelte ich, ob mein Interesse noch
lange anhalten würde: Niemand hatte mir das Buch empfohlen, ich suchte
allein Vergnügen und Leselust, hatte allerdings jetzt schon den Eindruck,
mehr als den Wert meiner zehn Cent zurückerhalten zu haben. Und zu
meiner großen Überraschung ließ mich das Buch nicht mehr los.
Es war nicht die herrliche Sprache Lukrez’, die mich fesselte. Später
erst arbeitete ich De rerum natura in seinen lateinischen Hexametern durch
und begann etwas zu ahnen von der reichen Textur dieser Sprache, den
feinen Rhythmen, von Raffinesse, Präzision und Prägnanz der Lukrez’schen
Bilderwelt. Bei meiner ersten Begegnung half mir Martin Ferguson Smiths
gediegene englische Prosa – klar und schnörkellos, aber kaum bemerkenswert.
Nein, etwas anderes hatte mich berührt, etwas, das über die zweihundert
eng bedruckten Seiten hinweg in allen Sätzen lebte und webte.
Mein Beruf bringt mich dazu, Menschen anzuhalten, bei ihrer Lektüre
genau auf die sprachliche Oberfläche dessen zu achten, was sie lesen. An
dieser Aufmerksamkeit hängt zum Gutteil das Vergnügen, auch das Interesse
an Dichtung. Und selbst aus einer bescheidenen Übersetzung lässt
sich ein nachhaltiger Eindruck von einem Kunstwerk gewinnen, von einer
brillanten Übertragung ganz zu schweigen. Schließlich entdecken wir den
größten Teil der literarischen Welt auf diese Weise, lernen so die Genesis
kennen und ebenso die Ilias oder Hamlet, und selbst wenn es gewiss das
11
vorwort
Beste wäre, solche Werke in ihrer Originalsprache lesen zu können, wäre
die Behauptung irreführend, dass es keinen anderen, nur diesen Zugang zu
ihnen gibt.
Ich jedenfalls kann bezeugen, dass On the Nature of Things selbst als
Prosaübersetzung eine tiefe Saite in mir zum Klingen brachte. Das hatte
auch etwas mit besonderen persönlichen Umständen zu tun – Kunst
dringt stets durch bestimmte Risse im Seelenleben eines Menschen in diesen
ein. Im Kern ist Lukrez’ Lehrgedicht eine tiefe, therapeutische Meditation
über die Todesfurcht, und diese Furcht hat meine ganze Kindheit
bestimmt. Nicht die Angst vor meinem eigenen Tod bedrängte mich derart;
mich selbst hielt ich auf die übliche, kindlich gesunde Art für unsterblich.
Die Angst entsprang der absoluten Gewissheit meiner Mutter, dass
ihr ein früher Tod bestimmt sei.
Sie fürchtete sich nicht vor dem Jenseits. Wie die meisten Juden hatte
sie nur eine vage, schemenhafte Vorstellung dessen, was jenseits des Grabes
liegen mochte, und sie machte sich darüber auch nur wenige Gedanken.
Der Tod selbst – also schlicht die Tatsache, dass sie nicht mehr sein
würde – erfüllte sie mit Angst und Schrecken. So weit ich zurückdenken
kann, grübelte sie über ihr unmittelbar bevorstehendes Ende, beschwor es
wieder und wieder, insbesondere in Momenten des Abschieds. Mein Leben
war voll ausgedehnter, opernhafter Abschiedsszenen. Ob sie mit meinem
Vater übers Wochenende von Boston nach New York fuhr, ob ich
aufbrach ins Sommerlager, sogar – wenn ihr selbst das Leben besonders
schwer erschien – wenn ich mich einfach nur auf den Weg in die Schule
machte, jedesmal klammerte sie sich fest an mich, sprach von ihrer Hinfälligkeit
und davon, dass es keineswegs ausgeschlossen sei, dass ich sie nie
wiedersehen würde. Gingen wir irgendwo spazieren, hielt sie häufig an, so,
als würde sie gleich zusammensinken. Manchmal zeigte sie dann auf eine
an ihrem Hals pulsierende Vene, nahm meinen Finger und ließ sie mich
fühlen, diese Signale ihres bedenklich rasenden Herzens.
Sie muss damals, zu der Zeit, da meine Erinnerungen an ihre Ängste
einsetzen, Ende dreißig gewesen sein, aber ihre Ängste reichten ganz eindeutig
weiter zurück, offenbar bis in das Jahrzehnt vor meiner Geburt.
Damals war ihre jüngere Schwester, gerade sechzehn Jahre alt, an einer
Halsentzündung gestorben. Dieses Ereignis – nicht wirklich selten in der
12
vorwort
Zeit vor Einführung des Penizillin – war für meine Mutter eine noch immer
offene Wunde: Permanent sprach sie davon, weinte still, ließ mich
wieder und wieder die ergreifenden Briefe lesen, die dieses junge Mädchen
während seiner tödlichen Krankheit geschrieben hat.
Ich habe schon früh verstanden, dass das »Herz« meiner Mutter – das
Herzrasen, das sie und alle um sie herum immer wieder zum Innehalten
brachte – eine Überlebensstrategie war, ein Symbol, das Mittel, sich mit
ihrer toten Schwester zu identifizieren und um sie zu trauern. Es war auch
ein Weg, sowohl Ärger – »Da siehst du, wie du mich wieder aufregst!« –
als auch Liebe zu zeigen – »Sieh doch, ich tue alles für dich, selbst wenn
mir das Herz dabei bricht.« Es war ein Ausagieren, Probe und Vorwegnahme
der Auslöschung, die sie fürchtete. Und vor allem erzwang sie so
Aufmerksamkeit, forderte Liebe. Doch selbst wenn mir das klar war, minderte
das die Wirkung dieses Verhaltens auf meine Kindheit nicht: Ich
liebte meine Mutter und fürchtete, sie zu verlieren. Mir fehlten die Voraussetzungen,
zwischen psychologischer Strategie und gefährlichem Symptom
zu unterscheiden. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie selbst
dazu in der Lage war.) Und als Kind konnte ich auch nicht richtig einschätzen,
wie verquer dieses permanente Lamento vom drohenden Tod
war, dieses Aufladen jedes Abschieds mit Endgültigkeit. Erst jetzt, nachdem
ich selbst eine Familie gegründet habe, ahne ich, wie dunkel die
Zwänge gewesen sein müssen, die eine liebende Mutter – und meine
Mutter liebte tatsächlich – dazu brachten, ihren Kindern diese emotionale
Bürde aufzuladen. Jeder Tag brachte ihr aufs Neue die trübe Gewissheit,
dass ihr Ende nahe sei.
Wie sich herausstellte, lebte meine Mutter lange und hat ihren neunzigsten
Geburtstag nur um einen Monat verpasst. Sie war, als ich On the
Nature of Things zum ersten Mal in der Hand hatte, um die fünfzig. Damals
war meine Furcht, sie könne sterben, schon verwoben mit der schmerzlichen
Wahrnehmung, wie viel von ihrem Leben sie sich, so sehr in Anspruch
genommen von ihren obsessiven Ängsten, verdorben hatte und wie
sehr dies zudem einen Schatten auf meines geworfen hatte. Lukrez’ Worte
erklangen darum in fürchterlicher Klarheit: »Der Tod berührt uns nicht.«
Es sei, schreibt Lukrez, schierer Unfug, das Leben im Griff der Todesangst
zu verbringen. Es sei ein sicherer Weg, Lebenszeit unerfüllt und freudlos
13
vorwort
verrinnen zu lassen. So artikulierte er einen Gedanken, den zu fassen, und
sei’s nur innerlich, ich mir damals noch nicht erlaubt hatte: dass es nämlich
manipulativ und grausam ist, anderen diese Angst einzuflößen.
Das also war, in meinem Fall, das ganz persönliche Einfallstor für das
Gedicht, die eigentliche Quelle der Macht, die es über mich gewann.
Doch war das nicht ausschließlich Folge meiner eigentümlichen Lebensgeschichte.
On the Nature of Things berührte mich als erstaunlich überzeugende
Darstellung dessen, wie die Dinge wirklich sind. Erstaunlich deswegen,
weil natürlich auch mir klar war, dass viele Einzelheiten dieses antiken
Berichts heute absurd erscheinen. Wie hätte das anders sein können? Was
werden Menschen in zweitausend Jahren von unserer Darstellung des Universums
halten? Lukrez glaubte, dass sich die Sonne um die Erde drehe,
behauptete, sie könne nicht viel heißer, nicht viel größer sein, als unsere
Sinne sie wahrnähmen. Würmer hielt er für spontane Hervorbringungen
feuchter Erde, erklärte den Blitz als Saat des Zorns, aus hohlen Wolken
geschleudert, malte die Erde als Mutter im Klimakterium, erschöpft von
so viel Vermehrung. Den Kern des Gedichts jedoch bilden Leitsätze und
Prinzipien eines neuzeitlich modernen Weltverständnisses.
Stofflich besteht das Universum, wie Lukrez erklärt, aus unzähligen
Atomen, die sich zufällig durch den Raum bewegen, so wie Staub im Sonnenlicht
tanzt. Dabei stießen sie zusammen, verhakten sich, bildeten komplexe
Strukturen, brächen wieder auseinander – und all das in einem endlosen
Prozess von Schöpfung und Zerstörung, aus dem es kein Entrinnen
gebe. Schaut man zum Nachthimmel auf und wundert sich, unerklärlich
bewegt, über die zahllosen Sterne, dann, so Lukrez, betrachtet man nicht
das Handwerk von Göttern, auch keine kristalline Sphäre, die losgelöst
wäre von unserer vergänglichen Welt. Im Himmel erblicke man die gleiche
materielle Welt, deren Teil man selbst sei und aus deren Elementen man
auch selbst bestehe. Es gibt für Lukrez keinen Schöpfungsplan, keinen göttlichen
Architekten, kein intelligentes Design. Alle Dinge, auch die Spezies,
zu der wir selbst gehören, haben sich in riesigen Zeiträumen
gebildet. Diese
Evolution erfolgt zufällig, bei lebenden Organismen allerdings kommt ein
Prinzip natürlicher Auslese ins Spiel. Will sagen, Arten, die geeignet sind,
zu überleben und sich zu reproduzieren, überdauern erfolgreich, zumindest
für eine gewisse Zeit; die weniger geeigneten dagegen sterben rasch aus.
14
vorwort
Nichts jedoch – angefangen von unserer eigenen Art über den Planeten, auf
dem wir leben, bis hin zur Sonne, die unsere Tage erleuchtet – ist für immer.
Unsterblich sind allein die Atome.
Ein derart konstituiertes Universum, so Lukrez weiter, bietet keinen
Grund anzunehmen, dass die Erde oder ihre Bewohner einen zentralen
Platz innehätten; keinen Grund, die Menschen von allen anderen Tieren
zu sondern; keine Hoffnung, die Götter bestechen oder besänftigen zu
können; weder Ort noch Anlass für religiösen Fanatismus; keinen Grund
für den Ruf nach asketischer Selbstverleugnung, keine Rechtfertigung für
Träume grenzenloser Macht oder vollkommener Sicherheit; keinen vernünftigen
Grund für Kriege der Eroberung oder Selbstverherrlichung;
keine Chance, die Natur überwinden zu können, dem unaufhörlichen
Werden und Vergehen und erneuten Werden der Formen je entkommen
zu können. Jenseits des Ärgers über all jene, die entweder mit falschen
Visionen der Sicherheit hausieren gehen oder irrationale Ängste vor dem
Tod schüren, hat Lukrez noch etwas ganz anderes zu bieten, nämlich ein
Gefühl der Befreiung, die Kraft, auf das herabzublicken, was so quälend
scheint. Etwas nämlich, schrieb er, können die Menschen, und sie sollen es
auch tun: ihre Ängste bezwingen, akzeptieren, dass sie selbst und alle
Dinge, die ihnen begegnen, vergänglich sind. Nur so werde es ihnen gelingen,
die Schönheit, die Lust an der Welt zu erfassen und festzuhalten.
Ich wunderte mich – und tue dies bis heute –, dass Gedanken wie
diese einen so vollkommenen Ausdruck fanden in einem Werk, das vor
über zweitausend Jahren verfasst wurde. Die Verbindung zwischen diesem
Text und der Moderne ist keine direkte, so simpel liegen die Dinge
nie. Zwischen beiden Epochen dehnen sich unzählige Perioden des Vergessens,
des Verschwindens, Wiederentdeckens, Verfehlens, unzählige
Momente der Verzerrungen, Anfechtungen, Wandlungen und des erneuten
Vergessens. Und doch gibt es so etwas wie eine Leben stiftende Verbindung.
Versteckt hinter der Weltauffassung, die ich als meine eigene
begreife, gibt es ein uraltes Gedicht, ein Gedicht, das irgendwann verloren
ging, unwiederbringlich, wie es schien, und dann doch wiederentdeckt
wurde.
Die philosophische Tradition, der Lukrez’ Gedicht entsprang, war
unvereinbar mit dem Kult der Götter und dem Kult des Staates; diese
15
vorwort
Tradition wurde selbst in der toleranten Kultur der klassisch-antiken Welt
des Mittelmeers als skandalös empfunden. Ihre Anhänger galten als Verrückte,
wurden als gottlos gebrandmarkt oder schlicht als verrückt. Und
kaum hatte das Christentum an Kraft gewonnen, wurden die Texte der
Atomisten erst recht bekämpft, verspottet, verbrannt oder – was am nachhaltigsten
wirkte – einfach übergangen und schließlich vergessen. Das
alles ist nicht verwunderlich; viel erstaunlicher ist, dass eine so überwältigend
prachtvolle Artikulation dieser Philosophie – das Gedicht, dessen
Wiederentdeckung Gegenstand dieses Buches ist – überlebt hat und erhalten
blieb. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, ist alles, was von dieser
großartigen Tradition blieb, in diesem einen und einzigartigen Werk
erhalten. Ein zufälliger Brand, ein Akt des Vandalismus, eine Entscheidung,
diese letzte Spur dessen zu verwischen, was als häretisch galt, und
Neuzeit und Moderne hätten einen völlig anderen Beginn und Verlauf
genommen.
Dabei hätte von allen Meisterwerken der Antike gerade dieses Gedicht
unbedingt verschwinden müssen, ein für alle Mal und zusammen mit den
Werken, die es inspiriert hatten. Dass dies nicht geschah, dass es nach
vielen Jahrhunderten wieder auftauchte und seine zutiefst subversiven
Thesen erneut verbreiten konnte, grenzt, so möchte man denken, an ein
Wunder. Der Autor des in Frage stehenden Gedichts aber glaubte nicht
an Wunder. Nichts in der Welt, dachte er, sollte die Gesetze der Natur
verletzen. Er setzte auf etwas anderes, auf etwas, das er lateinisch clinamen
nannte: eine geringfügige Abweichung, ein zufälliger Richtungswechsel,
Ruck und unerwartete Bewegung der Materie.2 Das Wiederauftauchen
seines Gedichts war eine solche Irritation, ein plötzliches Aus-der-Richtung-
Geraten, eine unvorhersehbare Abweichung vom eingeschlagenen
Weg, der dem Gedicht und der es begründenden Philosophie bestimmt
schien – und der, ohne diesen Ruck, ins Vergessen geführt hätte.
Als es nach einem Jahrtausend plötzlich wieder Verbreitung fand, erschien
vieles absurd, was dieses Werk über ein Universum sagte, das entstanden
sein sollte aus dem Zusammenstoß von Atomen in einer unendlichen
Leere. Ausgerechnet das jedoch, was zunächst als gottlos und unsinnig
betrachtet wurde, hat sich später als Basis unseres gegenwärtigen, rationalen
Weltverständnisses erwiesen. Es geht hier nicht nur um die überraschende
16
vorwort
Entdeckung von Schlüsselelementen der Moderne in der Antike, wobei es
sicher nichts schadet, wenn wir uns erinnernd vor Augen führen, dass gerade
die griechischen und römischen Klassiker, die wir aus unseren Curricula
gestrichen haben, das neuzeitlich-moderne Bewusstsein entscheidend
bestimmt haben. Vielleicht noch mehr wird uns überraschen, wenn uns
De rerum natura auf jeder Seite klarmacht, dass die wissenschaftliche Sicht
der Welt – die Vision von Atomen, die sich zufällig durch ein unendliches
Universum bewegen – erfüllt ist vom Gespür für das Wunderbare, wie es
nur ein Dichter besitzt. Doch Wunder sind hier nicht länger die Sache von
Göttern und Dämonen, von Träumen vom Leben im Jenseits; bei Lukrez
entspringt das Wunderbare der Erkenntnis, dass wir aus der gleichen Materie
gemacht sind wie Sterne und Meere und alle anderen Dinge auch.
Und diese Erkenntnis lieferte die Grundlage für seine Vorstellungen davon,
wie wir unser Leben führen sollten.
Nach meiner Meinung, und ganz sicher nicht nur nach dieser, war es
die Renaissance, die von allen in der Nachfolge der Antike stehenden Kulturen
am genauesten verkörpert hat, was Lukrez’ Sinn für Schönheit und
Lust ausmacht und was er zu einem legitimen, den Menschen würdigen
Streben entfaltet. Dieses Streben beschränkte sich nicht allein auf die
Kunst. Es prägte Kleidung und Etikette an den Höfen, die Sprache der
Liturgie, Gestaltung und Schmuck der Alltagsdinge. Es durchdrang Leonardo
da Vincis wissenschaftliche und technische Erkundungen, Galileo
Galileis lebendige Dialoge zur Astronomie, Francis Bacons ehrgeizige Forschungsvorhaben,
Richard Hookers Theologie. Es war fast so etwas wie
ein Reflex, dass auch Werke, die anscheinend weit entfernt waren von jeglicher
ästhetischen Ambition – Machiavellis Untersuchung politischer
Strategien, Walter Raleighs Beschreibung von Guyana, Robert Burtons
enzyklopädische Darstellung seelischer Krankheit –, in einer Weise ausgeführt
wurden, die intensivstes Vergnügen erzeugte. Die sublimsten Zeugnisse
des Strebens nach Schönheit jedoch waren die Künste der Renaissance
– Malerei, Bildhauerei, Musik, Architektur, Literatur.
Auch wenn meine ganz persönliche Liebe Shakespeare galt und gilt,
erschienen mir dessen Hervorbringungen stets als nur eine atemberaubende
Facette einer viel breiteren kulturellen Bewegung, die auch Alberti,
Michelangelo und Raphael, Ariost, Montaigne und Cervantes umfasst,
17
vorwort
um unter vielen Dutzend Künstlern und Schriftstellern nur sie zu nennen.
Diese Bewegung hatte viele miteinander verknüpfte, einander auch zuwiderlaufende
Aspekte, die jedoch alle durchpulst waren von jener herrlichen
Bestätigung und Feier der Lebenskraft. Sie prägt sogar solche Werke
der Renaissancekunst, in denen der Tod zu triumphieren scheint. So verschlingt
das Grab am Ende von Romeo und Julia die Liebenden weniger, als
dass es ihnen eine Zukunft eröffnet als Verkörperung der Liebe schlechthin.
In den hingerissenen Zuschauern, die seit über vierhundert Jahren in
dieses Stück drängen, hat sich Julias Wunsch erfüllt:
Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib
Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,
Nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn:
Er wird des Himmels Antlitz so verschönen,
Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt
Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.
(III.2:22 – 24)
Ein vergleichbar weiträumiges Umfassen von Schönheit und Lust – eines,
das den Tod ebenso einbegreift wie das Leben, Vergehen nicht anders als
Schöpfung – charakterisiert Montaignes ruhelose Reflexionen über Materie
in Bewegung, Cervantes’ Chronik seines wirren Ritters, Michelangelos
Darstellung geschundener Haut, Leonardos Skizzen von Wasserwirbeln,
Caravaggios liebevolle Aufmerksamkeit für Christi schmutzige Fußsohlen.
Es muss etwas geschehen sein in der Renaissance, etwas, das anbrandete
gegen die Dämme und Grenzen, die Jahrhunderte gegen Neugier,
Begehren, Individualität, gegen nachhaltige Aufmerksamkeit für die Welt,
gegen Ansprüche des Körpers errichtet hatten. Dieser kulturelle Umbruch
ist bekanntlich schwer zu fassen, und um seine Bedeutung wurde erbittert
gestritten. Doch lässt sich, was damals geschehen sein muss, leicht erspüren,
wenn man in Siena die Maestà, Duccio di Buoninsegnas Altar mit der
thronenden Jungfrau betrachtet, dann in Florenz Botticellis Primavera, ein
Gemälde, in dem nicht zufällig Einflüsse von Lukrez’ De rerum natura zu
erkennen sind. Es ist die Haupttafel von Duccios prächtigem Altar (um
1310), auf die sich die Anbetung der Engel, Heiligen und Märtyrer richtet:
18
vorwort
das heiter ruhige Zentrum, die in schweres Tuch gekleidete Muttergottes
und das Kind in feierlicher Kontemplation. Auf Botticellis Primavera (um
1482) dagegen versammeln sich die antiken Götter in einem üppig grünen
Gehölz, alle bewusst eingebunden in die komplexe rhythmische Choreographie
der sich erneuernden natürlichen Fruchtbarkeit, wie sie Lukrez’
Gedicht beschwört:
Frühling kommt und Venus, und ihnen voraus sind Venus’ geflügelter
Bote und Mutter Flora, auf den Fersen folgt ihnen Zephyr, und sie
bereiten der Göttin den Weg, verbreiten mit den Blumen herrliche
Farben und Wohlgerüche.
(V:737ff.)3
Worin Wechsel und Veränderung bestehen, erschließt sich nicht nur im
wiedererwachten, intensiv erlebten, höchst kundigen Interesse an heidnischen
Gottheiten und den reichen Bedeutungen, die einst mit ihnen verknüpft
waren. Er liegt auch in der Gesamtvision einer Welt in Bewegung,
einer sinnlichen Welt, die darum nicht bedeutungslos gemacht wird, sondern
ihre Schönheit erst in ihrer Vergänglichkeit gewinnt, in ihrer erotischen
Kraft, ihrem unermüdlichen Sich-Wandeln.
Auch wenn er sich in der Kunst am deutlichsten zeigt, so beschränkt
sich der Übergang von einer Art der Wahrnehmung und des Lebens in
der Welt zu einer anderen nicht auf Ästhetisches: Er hilft auch zu erklären,
wie es zu den geistigen Wagnissen eines Kopernikus oder eines Vesalius,
eines Giordano Bruno oder William Harvey, eines Hobbes und
Spinoza kommen konnte. Der Wandel kam nicht plötzlich, geschah nicht
ein für alle mal, sondern schrittweise, zunehmend wurde es möglich, sich
aus der Präokkupation mit Engeln und Dämonen und immateriellen Ursachen
zu lösen, sich stattdessen den Dingen in dieser Welt zuzuwenden;
zu erkennen, dass die Menschen aus dem gleichen Stoff bestehen wie alles
andere auch; dass sie Teil der natürlichen Ordnung sind; dass man, ohne
fürchten zu müssen, in Gottes eifersüchtig bewahrte Geheimnisse einzubrechen,
Experimente durchführen, Autoritäten anzweifeln, überlieferte
Lehren in Frage stellen kann; dass sich das Streben nach Lust, das Vermeiden
von Schmerz und Leid rechtfertigen lassen; dass man sich andere
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vorwort
Welten vorstellen kann neben der einen, die wir bewohnen, den Gedanken
fassen kann, dass unsere Sonne nur ein Stern ist unter vielen in einem
unendlichen Weltenraum; dass wir ein moralisches Leben führen können,
ohne dass man uns mit Lohn locken, mit Strafe nach dem Tod schrecken
müsste; ja, dass sich sogar der Tod der Seele ohne Furcht und Zittern
denken lässt. Kurz, es wurde, um Audens Dichterworte zu bemühen,
möglich – nicht einfach, aber möglich –, an der sterblichen Welt sein
Genügen zu finden.
Der Anbruch der Renaissance, das Freisetzen der Kräfte, die unsere
Welt geformt haben, lässt sich nicht aus einem einfachen Grund erklären.
Gleichwohl möchte ich mit diesem Buch eine wenig bekannte, für die
Renaissance jedoch exemplarische Geschichte erzählen, die Geschichte
von Poggio Bracciolinis Wiederentdeckung des Gedichts De rerum natura.
Diese Wiederentdeckung hat den Vorzug, dass sie auch der Bezeichnung
die Treue hält, mit der wir den kulturellen Wandel zu Beginn des neuzeitlich
modernen Lebens und Denkens für gewöhnlich umreißen: als Re-
Naissance, Wiedergeburt der Antike. Natürlich kann man ein Gedicht
allein nicht verantwortlich machen für eine so umfassende geistige, moralische
und gesellschaftliche Transformation – das vermag ein einziges Werk
nicht, und schon gar nicht eines, über das man jahrhundertelang nicht
ohne Furcht öffentlich und frei hatte reden können. Mit diesem ganz besonderen
Buch der Antike, das plötzlich in den Blick geriet, verhielt es sich
allerdings doch etwas anders.
So ist hier zu erzählen, wie die Welt plötzlich um ein Geringes aus
der Bahn gestoßen wurde, ein zufälliger Ruck, der einen folgenreichen
Richtungswechsel auslöste. Das Agens dieses Richtungswechsels war keine
Revolution, keine unversöhnliche Armee vor den Toren der Stadt, keine
Landung auf einem unbekannten Kontinent. Für Ereignisse dieser Größenordnung
haben Historiker und Künstler der volkstümlichen Einbildungskraft
erinnerbare, einprägsame Bilder präsentiert, den Sturm auf die
Bastille, die Plünderung Roms, den Augenblick, in dem die zerlumpten
Seeleute auf den spanischen Schiffen in der Neuen Welt ihre Fahne aufpflanzten.
Diese Embleme weltgeschichtlichen Wandels können trügerisch
sein – in der Bastille saßen so gut wie keine Gefangenen; Alarichs Heerscharen
zogen rasch wieder ab aus der Hauptstadt des Imperiums; und das
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vorwort
eigentlich schicksalhafte Ereignis für den amerikanischen Kontinent war
nicht das Entrollen der Fahne, sondern dass ein kranker, bazillenverseuchter,
von staunenden Eingeborenen umringter Seemann nieste oder hustete.
Dennoch können wir uns in solchen Fällen an das einprägsame Symbol
halten. Der epochale Wandel allerdings, mit dem dieses Buch sich befasst,
lässt sich, obwohl er doch das Leben von uns allen beeinflusst hat, nicht
ohne weiteres mit einem dramatischen Bild verknüpfen.
Als es vor fast sechshundert Jahren zu diesem Wandel kam, war das
Schlüsselereignis verhüllt, fast unsichtbar, geschah versteckt, unsichtbar
hinter Wänden an einem abgelegenen Ort. Es gab keine heroischen Gesten,
keine leidenschaftlich beteiligten Beobachter, die das große Ereignis
für die Nachwelt festgehalten hätten, weder Zeichen am Himmel noch auf
Erden hätten auf irgendeine Weise erkennen lassen, dass alles sich für immer
geändert hatte. Eines Tages streckte ein kleiner, genialer, ebenso umsichtiger
wie aufmerksamer Mann Ende dreißig seine Hand aus, um ein
sehr altes Manuskript aus einem Regal zu nehmen, betrachtete überrascht,
was er entdeckt hatte, und erteilte sofort den Auftrag, die Schrift zu kopieren.
Das war alles, aber es war genug.
Natürlich hat der Entdecker des Manuskripts die Bedeutung dessen,
was er sah, gar nicht voll erfassen, auch den Einfluss nicht vorausahnen
können, der Jahrhunderte brauchte, um sich zu entfalten. Wenn er denn
geahnt hätte, welche Kräfte er da losließ, hätte er es sich wohl zweimal
überlegt, ein so explosives Werk aus dem Dunkel zu ziehen, in dem es
schlummernd lag. Das Werk, das jener Mann in den Händen hielt, war
Jahrhunderte zuvor sorgfältig von Hand kopiert worden, doch ebenso
lange war es nicht von Hand zu Hand gegangen, war vielleicht nicht einmal
von den einsamen Seelen verstanden worden, die es kopiert hatten.
Über Generationen hinweg wurde über dieses Buch nicht einmal gesprochen.
Zwischen dem vierten und dem neunten Jahrhundert wurde es noch
gelegentlich zitiert, und zwar in Listen mit grammatischen oder lexigraphischen
Beispielsätzen, diente also als Steinbruch zur Demonstration
korrekt verwendeten Lateins. Im siebten Jahrhundert, als er seine riesige
Enzyklopädie erstellte, nutzte es Isidor von Sevilla als Autorität in Sachen
Meteorologie. Erneut tauchte es auf zur Zeit Karls des Großen, als sich das
Interesse an alten Büchern zum ersten Mal regte und ein irischer Mönch
vorwort
namens Dungal eine Abschrift sorgfältig korrigierte. ... ...