|
|
|
|
Die Ausweichschule
Roman
Kaleb Erdmann
Ullstein
EAN: 9783988160225 (ISBN: 3-9881602-2-9)
304 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 13 x 21cm, Juli, 2025
EUR 22,00 alle Angaben ohne Gewähr
|
|
Rezension
Kaleb Erdmann hat als Kind den Amoklauf von Erfurt am Gutenberg-Gymnasium im April 2002 miterlebt, er war damals Schüler in der fünften Klasse. Sein Roman "Die Ausweichschule" ist ein dichter Text über seine persönliche Bewältigung dieses Erlebnisses und über dessen literarische Verarbeitung. Immer wieder blickt er darin zurück auf diesen schicksalhaften Tag in seiner Schulzeit, der ganz verschiedene Spuren hinterlassen hat. Immer wieder gewährt der Erzähler aber auch Einblick in die Verarbeitungsmechanismen in den folgenden Jahren und inzwischen Jahrzehnten. Der Roman ist weder Chronik noch Tatsachenbericht, sondern bewegt sich bewusst im Grenzbereich zwischen Erinnerung, Fiktion und Reflexion. Erdmann erzählt nicht linear, sondern tastend, assoziativ, oft fragmentarisch. Die „Ausweichschule“, an die die Überlebenden nach dem Attentat wechseln, wird dabei zum zentralen Symbol: für Schutz und Neubeginn, aber auch für Entfremdung, Schweigen und die Unmöglichkeit, einfach zur Normalität zurückzukehren. Der Erzähler beobachtet genau, wie Erwachsene, Institutionen und auch Mitschüler mit dem Unfassbaren umgehen – häufig hilflos, manchmal gut gemeint, nicht selten überfordernd.
Sprachlich ist der Text zurückgenommen und präzise. Erdmann verzichtet auf Effekthascherei oder explizite Gewaltdarstellung. Gerade dadurch entfaltet der Roman seine Wirkung: Die Leerstelle, das Ungesagte, die Wiederholung bestimmter Bilder und Motive spiegeln die Funktionsweise von Trauma und Erinnerung. Besonders eindrucksvoll ist, wie der Autor die Perspektive des Kindes mit der des erwachsenen Erzählers verschränkt und so zeigt, wie sich Bedeutungen erst im Nachhinein verschieben oder überhaupt erst herstellen lassen.
Für den schulischen Einsatz ist „Die Ausweichschule“ in mehrfacher Hinsicht interessant. Inhaltlich eignet sich der Roman für die Sekundarstufe II, etwa im Kontext von Gegenwartsliteratur, Erinnerungsnarrativen oder der literarischen Verarbeitung von Gewalt- und Krisenerfahrungen. Pädagogisch wichtig ist dabei eine sensible Einbettung, da der Text emotional fordernd sein kann. Didaktisch bietet er zahlreiche Ansatzpunkte: Erzählperspektive, Zeitstruktur, Symbolik sowie die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen literarischer Bewältigung lassen sich gut erschließen. Auch fächerübergreifende Bezüge – etwa zu Ethik, Geschichte oder Sozialkunde – sind naheliegend.
„Die Ausweichschule“ ist kein einfacher, aber ein notwendiger Roman. Er zwingt zur Auseinandersetzung mit einem Ereignis, das sich dem Verstehen entzieht, und zeigt zugleich, wie Literatur helfen kann, Sprachräume für das Unsagbare zu öffnen. Gerade darin liegt seine besondere Stärke – im literarischen wie im schulischen Kontext.
Verlagsinfo
Am letzten Tag der Abiturprüfungen im Jahr 2002 fallen Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Unser Erzähler erlebt diesen Tag als Elfjähriger, wird mit seinen Mitschülern evakuiert und registriert in den folgenden Wochen die Hilflosigkeit der Erwachsenen im Angesicht dieser Tat. Mehr als zwanzig Jahre später bricht das Ereignis völlig unerwartet erneut in sein Leben ein und löst eine obsessive Beschäftigung mit dem Sujet aus, die in ein Romanprojekt resultieren soll. Aber warum nach so vielen Jahren alte Wunden aufreißen? Hat er ein Recht dazu? Wie verhält es sich mit seinen Erinnerungen, welche Geschichten hat er so häufig erzählt, dass sie wahr wurden?
Kaleb Erdmanns Roman Die Ausweichschule ist ein gekonntes Spiel mit Perspektiven, ein Stück Autofiktion, das gleichermaßen publikumskritisch (wie voyeuristisch ist unser Interesse an der Aufarbeitung von Gewalttaten?) wie autokritisch ist (was gibt mir das Recht, über diesen Tag zu schreiben?). Ein pointierter, persönlicher, erschütternder Text über ein Phänomen, das uns weltweit umtreibt. |
|
|