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Was Kinderzeichnungen erzählen Kinder in ihrer Bildsprache verstehen 3., verbesserte Auflage
Was Kinderzeichnungen erzählen
Kinder in ihrer Bildsprache verstehen


3., verbesserte Auflage



Armin Krenz

Verlag Modernes Lernen
EAN: 9783808006603 (ISBN: 3-8080-0660-9)
192 Seiten, paperback, 15 x 21cm, 2010

EUR 15,30
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Autoren-Informationen:

Armin Krenz, geb. 1952, Dr. phil., Wissenschaftsdozent und Psychotherapeut, arbeitet seit 1985 am „Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik, IFAP“ in Kiel mit internationalen Lehr- und Forschungsaufträgen.

Arbeitsschwerpunkte: Forschung im Bereich der kindeigenen Ausdrucksformen und ihrer Bedeutungswerte sowie im Feld der Konsequenzen einer Ergebniszusammenführung von bildungs- und bindungswissenschaftlichen Aussagen für die Elementarpädagogik. Fortbildung für (sozial)pädagogische Fachkräfte.



Beschreibung:

Kinderzeichnungen sind „Spiegelbilder der Seele“. Nichts entsteht zufällig, ohne Anlass und ohne Grund, wenn Kinder ihre Spuren auf ein Stück Papier bringen.

Tagtäglich sind sie vielfältigen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen ausgesetzt, mit denen sie sich auseinandersetzen (müssen). Glücksmomente und Hoffnungen, Enttäuschungen, Trauer, Ängste und Visionen bestimmen ihr Leben, und dabei suchen sie nicht nur im Spiel, in ihren Träumen, mit ihrer Sprache und durch ihr Verhalten nach Ausdrucksmöglichkeiten, sondern auch das Malen und Zeichnen hilft ihnen dabei, Erlebtes zu verarbeiten.

Eindruck sucht Ausdruck! Auf diese kurze Gleichung kann und muss das Malen und Zeichnen der Kinder gebracht werden. Wo Worte fehlen oder die kindliche Sprache nicht ausreicht, dort erzählen die Kinderzeichnungen wahre Lebensgeschichten. Kinder hinterlassen mit ihren Malutensilien „Spuren ihrer Seelenlandschaft“, die sich wie geschriebene Worte auf Papier niederschlagen.

Grundlage des Buches bilden einerseits ungezählte therapeutische Arbeitssitzungen mit Kindern und ihren Familien, andererseits viele Tausende von ausgewerteten Kinderzeichnungen. Während dieser wundervollen Arbeit konnten Gesetzmäßigkeiten und Schlussfolgerungen zum „Erzähl-wert“ von Kinderzeichnungen entdeckt und aufgestellt werden. Einige Erkenntnisse bestätigen und ergänzen bisher bekannte Ergebnisse, andere wiederum sind neu und teilweise bahnbrechend für diesen Bereich (z.B. die Entschlüsselung der 20 Grapheme).

Das Buch richtet sich in erster Linie an Erzieher/-innen und andere Fachkräfte, die täglich mit Kindern arbeiten. Gleichzeitig wendet sich das Buch aber auch an Eltern.

Es sei erlaubt, besonders dringlich darauf hinzuweisen, dass Kinderbilder immer als Gesamtwerk zu betrachten sind: Einzelaspekte dürfen daher nie aus einem Zusammenhang herausgerissen werden. Wer Kinderbilder auf diese Weise betrachtet, kommt dem Be-deutungs-wert langsam auf die Spur.
Rezension
Der Autor, Dozent am 'Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik' in Kiel, mit dem Forschungsschwerpunkt Elementarpädagogik verdeutlicht in diesem mittlerweile als Standardwerk zu bezeichnenden Buch: Kinderzeichnungen sind ein Blick in die Kinderseelen. Schon in seinem ersten "Gekrakel" drückt ein Zweijähriger seine innere Welt aus. Die spontanen Bilder geben Auskunft über Gesundheit und Entwicklung des Kindes. Hier erklärt ein erfahrener Therapeut und Pädagoge die Symbole und die Farben und gibt den Eltern so Schlüssel in die Hand, mit deren Hilfe sie verstehen lernen, was ihre Kinder nicht in Worten mitteilen können.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Standardwerk - jetzt in erweiterter Auflage

Rezensionen/Kommentare:

"Armin Krenz ist Sozialpädagoge und Dozent an der Universität. Er arbeitet am Institut für angewandte Psychologie in Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Erforschung von kindlichen Ausdrucksformen sowie die Fort- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften.

Ziel des Buches ist es, Verständnis für die Botschaften, die Kinder durch ihre Zeichnungen zum Ausdruck bringen möchten, zu entwickeln. So sei es nicht nur wichtig einzelne Teile der Zeichnung (Objekte) zu deuten, sondern diese im Hinblick auf die aktuelle Lebenssituation des Kindes, der momentanen Befindlichkeit und dem Erleben zu verstehen.

Das Buch ist vor allem an Erzieherinnen und andere professionell Tätige gerichtet, aber auch an Eltern.

Der Autor beschreibt auf sehr anschauliche Art und Weise (viele Fallbeispiele) welche Bedeutung das Malen für Kinder hat (Ausdruck von Freude, Trauer, verarbeiten von Ereignissen usw.). Er beschreibt Grundbewegungen (liegen, gehen, hüpfen...) und ihre Bedeutung für die Befindlichkeit des Kindes. Er stellt insgesamt 20 Grapheme (Kritzel) dar, und erklärt ihren Sinn aus entwicklungspädagogischer Sicht, wobei er jedes Graphem in seiner Bedeutung, seinem Ausdruckswert (Eindrücke loswerden, Gefühle und Gedanken ausdrücken) und Erzählwert (Botschaft, die das Kind übermitteln will) beschreibt. Der Autor erklärt außerdem die Bedeutung verschiedener markanter Merkmale auf Zeichnungen (wenn etwas z.B. sehr groß oder sehr klein dargestellt wird), sowie die verschiedenen Persönlichkeits- und Zeitebenen, durch die das Blatt Papier unterteil ist. So ist z.B. der untere Teil des Blattes für die motorische Ebene, bzw. die Handlungsebene reserviert, während im mittleren Bereich das Fühlen (emotionale Ebene) dargestellt wird und der obere Bereich für die kognitive Ebene steht. Wenn ein Kind auf dem Blatt Papier beispielsweise keinen Boden malt, so bedeutet dies, dass es spürt, dass es zu wenig oder keine Handlungskompetenz hat. Sinnbildlich gesprochen hat es keinen Boden unter den Füßen. Ausgehend von links nach rechts werden dann die verschiedenen Zeitebenen am Zeichenblatt dargestellt, wobei der linke Bereich für die Vergangenheit, der mittlere für die Gegenwart und der rechte Bereich für die Zukunft steht. Des weiteren beschreibt der Autor bestimmte verschlüsselte Botschaften, die in Kinderzeichnungen vorkommen (z.B. schwarze Sonne, Regenbogen, Darstellungen von Krieg usw.) und die Bedeutung den der Umgang von Kindern mit ihren Bildern hat (wenn die Bilder z.B. zugeklebt, zerknüllt und weggeworfen, oder wie ein Fächer gefaltet werden).

Das Buch hat große praktische Relevanz für all jene, die mit Kindern zu tun haben, da es einen Zugang darstellt, durch den größeres Verständnis für Kinder und ihre Gefühle sowie Gedanken erreicht werden kann. Vor allem durch die Beispiele und die Deutung von abgebildeten Kinderzeichnungen wird die Vorgehensweise nachvollziehbar und der Einstieg leichter, selbst Kinderzeichnungen versuchsweise zu deuten. Damit könnte allerdings auch die Gefahr verbunden sein, Kinderzeichnungen auf unprofessionelle Art zu deuten und dadurch vielleicht sogar Schaden anzurichten.

Der Autor gibt an, dass die Grundlage für dieses Buch einerseits die Auswertung zahlreicher Kinderzeichnungen ist, andererseits die therapeutische Arbeit mit Kinder und ihren primären Bezugspersonen. Durch die Erforschung dieser Bereiche konnten Gesetzmäßigkeiten, hinsichtlich der Symbolik und des Erzählwerts (was Kinder durch eine bestimmte Zeichnung sagen wollen) festgestellt werden. Genauere Angaben zur Methodik und zum Forschungsdesign macht der Autor nicht, was jedoch auch nicht seine Intention zu sein scheint. Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Ich finde, dass es einen wertvollen Beitrag für eine gesteigerte Sensibilität Kindern gegenüber leisten kann. Jedoch hatte ich den Eindruck, dass das Lesen von allein diesem Buch nicht ausreicht, um ihre Zeichnungen tatsächlich verstehen zu können."
Sonja Vladar, Betrifft: Autismus

“Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass Kinderbilder stets als Gesamtwerk betrachtet werden müssen! Einzelheiten dürfen niemals aus dem Zusammenhang herausgerissen werden, da sonst die Bedeutung falsch ausgelegt werden könnte.
Und genau diese Aussage und die behutsame Auseinandersetzung mit dem nicht so einachen Thema ‘Kinder in der Bildsprache verstehen’ machen das Buch für mich empfehlenswert.“
Vera Grandel, die kinderkrankenschwester

"Ich bin mir sicher, dass jeder von uns schon einmal eine Kinderzeichnung in den Händen gehalten, sie etwas ratlos betrachtet und sich gefragt hat, was das alles bedeuten soll. Herr Krenz gibt mit seinem Buch einen umfassenden Einblick in die Welt der Kinderzeichnungen. Er führt uns vor Augen, was Kinderzeichnungen sind: nämlich ein Spiegelbild der kindlichen Seele. Kinder stehen ständig unter Strom, d.h. in einem Spannungsfeld vielfältigster Eindrücke, die sie auf diese Weise zu verarbeiten suchen. Die Bilder haben also immer auch etwas mit dem Leben der Kinder zu tun.
Weiterhin erläutert der Verfasser den Zusammenhang zwischen der Körpermotorik und der Motorik beim Malen. Hierbei werden die verschiedenen Grundbewegungsarten wie gehen, stehen, rollen etc. 'übersetzt in die Malsprache' und mit Merkmalen versehen, die man beim Betrachten einer Zeichnung im Kopf haben sollte.
In einem nächsten Kapitel befasst sich Herr Krenz mit besonders "frühen" Werken der Kinder den Krickel Krackel oder Kritzelzeichnungen.
Ein gesondertes Kapitel ist der Dreidimensionalität der menschlichen Natur dem Denken, Fühlen und Handeln gewidmet. Hier hat der Autor kleine Übungen eingebaut, die der Leser leicht nachvollziehen kann.
Abschließend erhalten wir Hinweise darauf, wie wir als Erwachsene die Mal- und Zeichenfähigkeit der Kinder aufbauen und erhalten können. Mir persönlich erscheint dabei am wichtigsten der respektvolle und wertschätzende Umgang mit den Bildern der Kinder. Jedes Kind ist sehr gekränkt, wenn sein Bild in einer Tasche oder Schublade verschwindet, ohne eines Blickes gewürdigt worden zu sein.
Wer als Erwachsener Kinderbilder verstehen will, kommt diesem Wunsch wohl am nächsten, wenn er selbst wieder die Freude am Malen oder Zeichnen entwickelt.
Nach der Lektüre dieses Buches werde ich die nächste Kinderzeichnung ganz sicher mit anderen Augen sehen - im wahrsten Sinne des Wortes."
Yvonne Jakob, ergoXchange
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 7

2. Warum das Malen für Kinder und ihre Entwicklung so wichtig ist – Bedeutung und Sinn des Malens und Zeichnens 13

3. Bilder sind gemalte Bewegungen der Seele –
Grundbewegungen als erste Hinweise darauf, wie es Kindern geht 33

4. Krickel-Krackel sind gemalte Symbole – Kritzel (Grapheme) und ihre Bedeutungen aus der Sicht der
Entwicklungspädagogik 73

5. Warum ist der Löwe größer als das Haus? –
Besondere Merkmale in Kinderzeichnungen und Bildern 95

6. Wer bin ich und worüber mache ich mir Gedanken? Persönlichkeits- und Zeitebenen 105

7. Warum ist die Sonne schwarz? – Symbole als verschlüsselte Botschaften 113

8. Warum ist das Bild zugeklebt? – Besonderheiten im Umgang mit Bildern und ihre Bedeutung 123

9. Wofür steht der Regenbogen? – Beispiele zum Erzähl- und Ausdruckswert einzelner Kinderzeichnungen und Bilder 135

10. Auf der Suche nach Befreiung – Aufbau, Erhalt und Unterstützung der Mal- und Zeichenfähigkeit bei Kindern 145

11. Literatur

a) Fachartikel 173
b) Publikationen 176
c) Buchhinweise zum Verstehen von Erzählund Bedeutungswerten 179
d) Buchhinweise zur kindorientierten Mal- und Zeichenpraxis 182
e) Schwerpunkt: Entwicklungspsychologische Grundlegung 183

12. Wenn Erwachsene von Kindern lernen – Ausblick 185


1. Einleitung
Stephanie hat sich an diesem Tag schon für längere Zeit in ihr Kinderzimmer
zurückgezogen. Ihre Eltern, die es gewohnt sind, dass
ihre Tochter wieselflink durch die Wohnung läuft und alle Familienmitglieder
in ihre lebendigen Spielaktivitäten einbezieht, sind
über die Ruhe erstaunt. Sie fragen sich, ob ihre Tochter vielleicht
traurig ist oder sich körperlich unwohl fühlt, ob sie möglicherweise
mit ihrer Freundin Krach hat und schmollend, zurückgezogen auf
ihrem Bett liegt, ob sie heftigen Streit mit ihrem Bruder gehabt hat
oder vielleicht müde war und sich ihre Kuschelecke zum Schlafen
ausgesucht hat.
Leise, um ihre Tochter nicht zu erschrecken, klopfen sie an die Kinderzimmertüre.
Nichts ist zu hören, kein Laut dringt aus Stephanies
Zimmer. Vorsichtig öffnen die Eltern die Türe und sehen Stephanie
offensichtlich völlig gedankenversunken auf dem Boden hocken, vor
sich ein großes Blatt Papier, neben sich den Tuschkasten und eine
Reihe benutzter Pinsel. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht, weil
wir gar nichts von dir gehört haben“, meint der Vater, „und jetzt
sehen wir, dass du malst. Bestimmt hast du eine ganz wichtige Idee
gehabt und bringst sie jetzt aufs Papier.“ Stephanie schaut unbeeindruckt
auf ihr Werk, scheint ihre Eltern gar nicht bemerkt zu haben,
malt an ihrem Bild weiter und spricht eher zu sich selbst: „Ja,
wenn dann noch ein kleiner Zaun um die Wiese gebaut wird, dann
weiß das Pferd, dass es da nicht rüber soll. Aber wenn es dennoch
rüberspringen möchte, dann schafft es das bestimmt. Wo wird es
nur hinlaufen? Natürlich müsste ich es lange suchen. Wenn ich den
Namen rufe, hört es mich und wird schnell zu mir kommen. Zu hoch
darf der Zaun nicht sein. Sonst verletzt es sich beim Springen.“ Mit
vorsichtigen Strichen werden von Stephanie die braunen Holzbretter
zum Zaun zusammengeführt. Zufrieden lehnt sie sich zurück. Erst
jetzt blickt sie sich um, weil sie anscheinend das leise Räuspern
ihrer Mutter wahrgenommen hat. „Wie hoch müssen eigentlich bei
Pferdekoppeln die Zäune sein?“, fragt sie ihre Eltern. Stephanies
Mutter zeigt eine bestimmte Höhe mit ihrer Hand. „Nein Mama,
das ist zu hoch“, antwortet sie, „bei einer solch kleinen Wiese müssen
Pferde auch mal auf eine andere Weide. Dann können sie sich
z. B. mit anderen Pferden treffen. Ich glaube, mein Zaun ist richtig.“
Stephanie steht auf, geht zu ihrem Regal mit den Büchern und holt
sich eines ihrer Pferdebücher hervor. Sie springt aufs Bett, legt sich
8
bequem hin und vertieft sich in die Bilder. Die Eltern kommen sich
überflüssig vor. Leise schließen sie wieder die Türe und unterhalten
sich beim Gang in die Küche, dass Stephanie sie beide gar nicht
richtig bemerkt hat.
Kinder können sich selber mit ihren Bildern in eine ferne
Welt der Fantasie versetzen und selbstvergessen in eine
tiefe Entspannung kommen, bei der sie Raum und Zeit völlig
ausblenden.
Borris malt seit geraumer Zeit an einem Bild. Dabei knabbert er an
seinen Malstiften herum, setzt hin und wieder ein paar Striche aufs
Papier, begutachtet das Ergebnis und drückt weitere Striche auf die
freien Flächen. Die Mitarbeiterin des Kindergartens kennt dieses
Ritual. Immer, wenn der Kindergartenvormittag für Borris (und die
anderen Kinder) zu Ende geht, holt er sich „seine Stifte“ und malt
vorsichtig etwas auf. Was es ist, kann die Mitarbeiterin nicht erkennen,
denn es scheinen zusammenhanglose Zeichen zu sein. Wenn
die Mutter ihren Sohn dann abholt, steht Borris unentschlossen an
der Türe mit dem Bild in der Hand. Dabei schaut er abwechselnd
zur Mutter bzw. zur Erzieherin. Sobald er von seiner Mutter gefragt
wird, ob er ihr vielleicht das Bild schenken wolle, senkt er seinen
Kopf und übergibt es der Erzieherin. Etwas bedrückt verlässt er
dann den Kindergarten.
Kinder haben bei dem, was und wie sie zeichnen, eigene
Ideen und möchten anderen Personen mit ihren Bildern
etwas mitteilen. Sie entscheiden sich bei der Weitergabe
ihrer Bilder an andere Personen häufig für die/den Menschen,
von denen sie glauben, verstanden zu werden.
Kathleen ist dabei, ein Bild zu malen. Wenn ihr andere Kinder über
die Schulter schauen, zuckt sie leicht zusammen und hält ihre freie
Hand schützend vor oder über das Bild, so als ob sie es vor den
Blicken anderer verstecken möchte. Sie freut sich dagegen, wenn
ihre Freundin sich zu ihr setzt und auch mit dem Malen eines Bildes
beginnt. Sie mag es, wenn keine Fragen oder Anmerkungen zu
ihrer Malaktivität gemacht werden, sondern ganz in Ruhe (aus dem
Blickwinkel von Erwachsenen würde man sagen „ohne Rechtfertigungsdruck’)
das Bild nach ihren Vorstellungen gestaltet werden
kann. Inzwischen ist sie so vertieft, dass sie gar nicht bemerkt, wie
ihre Mutter hinter ihr steht, um sie abzuholen. Kathleen legt sofort
ihre Malutensilien zur Seite und streckt ihr Bild vorsichtig der Mut9
ter entgegen. Diese betrachtet es und meint: „Von solchen Bildern
habe ich doch schon ganz viele. Damit könnte ich fast die Wohnung
tapezieren“ und steckt es unvorsichtig in die Tasche. Kathleen guckt
ihre Mutter an und fängt an zu weinen.
Kinder bilden mit ihren Bildern eine Einheit – sie selbst
sind das Bild und das Bild sind sie selbst. Das Bild hat für
jedes Kind eine Bedeutung, und dieser Bedeutungswert
richtet sich bei der Übergabe eines Bildes an die andere
Person.
Es scheint so, als käme bei der Weitergabe des Bildes ein unausgesprochener
Satz zum Vorschein, der etwa wie folgt lauten könnte:
Wer mit meinem Bild wertschätzend umgeht, geht auch mit mir als
Person wertschätzend um. Wer dagegen mit meinem Bild geringschätzend
umgeht, schätzt mich auch als Person gering ein.
Bilder und Zeichnungen von Kindern sind unverwechselbare
Zeugnisse ihres Befindens, ihrer seelischen Verfassung und
ihrer Gedankenwelt. Sie sind damit mehr als „nur“ gezeichnete
Gegenstände oder undefinierbare Striche, deren Bedeutung für Erwachsene
in vielen Fällen nicht auf Anhieb greifbar ist.
Ein Kind malt Formen,
setzt Zeichen und Kritzel
auf ein unbeschriebenes
Blatt Papier.
Vom ersten Augenblick
entstehen Bilder –
zunächst im Kind,
dann als gesprochene Sprache:
mit einem Pinsel,
einem Stift oder auch den Fingern,
vielleicht mit der ganzen Hand.
Vor uns
liegt ein Original –
unverwechselbar
und nicht wiederholbar
in seiner Einmaligkeit.
Ein Kind spürt genau,
was und wie es gesprochen hat
und hofft auf Erwachsene,
10
die seine Sprache
und seine Betonung
deutlich verstehen.
Wenn sich der Autor des Buches an seine eigenen Mal- und Zeichenerfahrungen
zurückerinnert, dann fällt ihm vor allem ein Ereignis
ein, das ihn im Alter von ungefähr fünf Jahren tief geprägt hat. Es
war zur Zeit von Sankt Martin, als ihm und den anderen Kindern
des Kindergartens die Aufgabe gestellt wurde, den Heiligen Martin
auf einem Pferd zu malen. Während viele Kinder sich an die Tische
begaben, um mit der Aufgabenstellung zu beginnen, stand er noch
unentschlossen im Raum herum, heftig mit der Frage beschäftigt,
wie wohl ein Reiter am besten auf einem Pferd dargestellt werden
könnte. Doch für lange Überlegungen blieb keine Zeit. Vielmehr wurde
auch er an einen Tisch geführt, auf dem schon ein entsprechend
großes Blatt hingelegt war und einige Farbstifte danebenlagen. Das
Papier schien immer größer und größer zu werden, und die weiße
Farbe tat in den Augen fast weh. Wo sollte begonnen werden, zumal
das Pferd nicht in die Mitte des Blattes gesetzt werden konnte, weil
es unfähig war, in der Luft zu fliegen. Doch am Boden anzusetzen
hieße, ein riesengroßes Pferd malen zu müssen, bei dem der Reiter
sich an der oberen Bildkante den Kopf stoßen konnte. Bei der
Aufforderung, endlich anzufangen, machte sich ein großer Magendruck
bemerkbar, und in dieser anscheinend ausweglosen Situation
fing er mit dem Pferdekörper an. Dieser wirkte irgendwie zu klein,
doch dafür erhielt das Pferd äußerst lange Beine. Der Heilige Martin
geriet zu klein, und der Kopf des Pferdes glich eher einer Gurke.
Während er selber über dieses „komische Bild“ nachsann, wurde
es von der Erzieherin in die Höhe gehalten, und viele Kinder – wie
auch sie selbst – lachten über das Ergebnis. Für den Jungen stand
damit fest: Das war zunächst das letzte Bild, das er je gemalt hat.
Lieber wollte er sich vor der Welt verstecken oder sich in einer Ecke
schämen, weil er ab diesem Augenblick zu verstehen begann, dass
es offensichtlich „richtige“ und „falsche“ Bilder gab und er zu denen
gehörte, die „nicht malen konnten“.
In diesem Buch geht es nicht nur um eine Einführung in die „Welt
des Malens und Zeichnens“, sondern auch um ein Verstehen der
besonderen Bedeutung von Kinderbildern. Dazu werden Aussagen
aus dem weiten Feld der Persönlichkeitpsychologie und Ergebnisse
aus eigener empirischer Forschungsarbeit zur Psychologie von Kinderzeichnungen
vorgestellt. Der Autor ist sich über die Chancen,
11
aber auch über die Gefahren eines solchen Fachbuches zu dieser
Thematik bewusst. Alle inhaltlichen Ausführungen bieten Eltern
und ErzieherInnen die Möglichkeit, Kinder anhand ihrer Bilder zu
verstehen, wenn diese mit anderen Beobachtungen zu den Kindern
in Verbindung gebracht werden. Es darf also nicht darum gehen,
das Malen und Zeichnen der Kinder als eine isolierte, für sich
alleine betrachtete Tätigkeit zu interpretieren. Das käme einer
„Testinterpretation“ gleich, wie es aus Zeitschriften bekannt ist. Insoweit
legt der Autor großen Wert auf die Tatsache, Kinderzeichnungen
und -bilder als ursprüngliche Ausdrucksmittel zu begreifen, die
den betrachtenden Erwachsenen etwas mitteilen möchten.
Bilder und Zeichnungen, die als ein „Diagnoseinstrumentarium“ gesehen
werden, lassen immer Sinnzusammenhänge außer acht und
werden den Kindern und ihren Werken nicht gerecht. Das ist daher
in keinem Fall erwünscht und widerspricht der gesamten Intention
des vorliegenden Buches.
Lassen Sie sich daher gerne auf die Reise in ein unbekanntes Land
ein und versuchen Sie, die Welt von Kinderzeichnungen und -bildern
zu begreifen. Vielleicht betrachten Sie nach dem Lesen des Buches
die Kinderwelt mit anderen Augen. Das ist auch den Kindern zu
wünschen, die ein Recht darauf haben, individuell und wertschätzend
gesehen und verstanden zu werden.
Den Umgang mit Kinderzeichnungen hat Daniel Widlöcher mit seinem
vor vielen Jahren erschienenen und zu seiner Zeit bahnbrechenden
Buch „Was eine Kinderzeichnung verrät“ deutlich auf den
Punkt gebracht:
„Letztendlich offenbart die Kinderzeichnung, wie jede andere menschliche
Ausdrucksform, ihre Reichtümer demjenigen, der eine naive
und kluge Haltung einzunehmen versteht. Man muss die Zeichnung
als das nehmen, was sie ist, nämlich ein Bild und nichts anderes
als ein Bild, aber gleichzeitig wissen, dass dieses Bild eine komplexe
Sichtweise darstellt, wobei uns nur eine gründliche Analyse
den Umfang ihrer möglichen Bedeutung offenbaren kann. Man muss
beachten, was das Kind zu tun behauptet, wenn es zeichnet: uns
nämlich eine Geschichte zu erzählen, und nur eine Geschichte; aber
man muss bei dieser Intention auch die vielfältigen Wege erkennen,
deren es sich bedient, um den Gang seiner Wünsche, seiner Konflikte
und seiner Ängste verständlich zu machen.“ (1974, S. 20f.)
12
Das jetzt vorliegende Buch wird Ihnen vielleicht auch den Weg zur
eigenen Person weisen, wenn Sie einmal Ihre eigenen, hoffentlich
noch vorhandenen Kinderbilder betrachten können bzw. möchten.
„Solange ich meine Individualität
nicht entdecke
kann ich keine Beziehung eingehen.“
(Oskar Wilde)