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Märchen in dunklen Zeiten Geschichte des Märchens im
Märchen in dunklen Zeiten
Geschichte des Märchens im




Oliver Geister

agenda Verlag
ISBN: 9783489688695
148 Seiten, kartoniert, 13 x 20cm, März, 2021

EUR 14,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
DIE GESCHICHTE DES MÄRCHENS IM „DRITTEN REICH“

Es war einmal…“ in dunkler Zeit



„Wo aber Gefahr ist / Wächst das Rettende auch“, dichtete Friedrich ¬Hölderlin 1803, drei Jahre bevor die Brüder Grimm anfingen, Märchen zu sammeln. Diese Verse lassen sich einhundertdreißig Jahre später auf den ideologischen Umgang mit den Märchen im „Dritten Reich“ beziehen. Im dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte wurde offenbar, welch zwielichtige Symbolkraft in den Märchen steckt. Die scheinbar harmlosen Kindertexte wurden von den Nazis umfunktioniert zur Propagandamaschine, zur „todbringenden Gefahr“. Dies veranlasste Amerikaner wie Walt Disney zu scharfer Gegenpropaganda und nach 1945 dachte man sogar kurzzeitig über ein Märchenverbot an deutschen Schulen nach. Zugleich hatten Märchen immer auch etwas „Rettendes“ und bewahrten wie die Büchse der Pandora das „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch). In Konzentrationslagern schöpfte man aus Märchen letzte Kraft, vereinzelt waren sie sogar lebensrettend. Schließlich entstand im Exil in jener dunklen Zeit eines der größten Märchen überhaupt: „Der kleine Prinz“, ein Hoffnungsfunke inmitten von Zeiten der tiefsten Barbarei. Sein Schöpfer Antoine de Saint-Exupéry wurde kurz nach der Abfassung dieses Jahrhunderttextes tragischerweise ebenfalls Opfer des schlimmsten Krieges aller Zeiten. Oliver Geister erzählt die Geschichte des Märchens im „Dritten Reich.“ Er hat zahlreiche Quellen gesichtet und erstaunliche Fakten zusammengetragen, die zeigen, dass keine Literaturform so ambivalent und geheimnisvoll ist wie das Märchen.
Rezension
Märchen in dunklen Zeiten – Geschichte des Märchens im „Dritten Reich“ ist ein kleiner Band, der eine häufig „umgangene“ Zeit, die Zeit des Nationalsozialismus, in der Erzählforschung ans Licht hebt. Oliver Geister (1), der Autor, ist „promovierter Pädagoge, Lehrbeauftragter an der Universität Münster (Fachbereich Erziehungswissenschaft) und Lehrer am Gymnasium Wolbeck für die Fächer Deutsch, Pädagogik, Praktische Philosophie und Musik.“ Dementsprechend ist eine profunde, wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas zu erwarten.
Das Büchlein ist handlich und strapazierfähig. Papier, Druck sowie Bilder sind von sehr guter Qualität. Reto van de Rump (2) gestaltete das Cover als zum Thema hinführendes Aquarell. Das Preis-Leistungsverhältnis ist für die Leser sehr günstig gehalten. Zu dem agenda-Verlag ist zu bemerken, dass er für seine fundierte Auswahl an Fachliteratur bekannt ist.
Inhaltlich strukturiert sich die Arbeit in zwölf aufeinander aufbauenden Themen, denen jeweils erläuternde Beispiele zugeordnet werden. Die Texte und die wenigen Bilder ergänzen sich, bzw. erweitern die entsprechenden Aussagen. Die Sprache ist lebendig, leicht verständlich und entspricht dennoch den wissenschaftlichen Standards der aktuellen Erzählforschung.
Die Einleitung verweist auf Goebbels Einstellung zu Märchen und umreist gleichzeitig das gesamte zu erwartende inhaltliche Spektrum.
In „Dichtung und Wahrheit über Grimms Märchen“ werden typische Klischees der Form des damaligen Sammelns den Erkenntnissen der heutigen Märchenforschung gegenübergestellt. Das Sammeln von Märchen ist in den zwölf Jahren des Dritten Reiches noch nicht abgeschlossen. Jedoch verändert sich die Form des Märchen-Erzählens“ oder -Vorlesens. Hinzu kommen die neuen „erzählenden“ Medien des Stumm- und Tonfilmes, des Radios und der Tonträger, die für Goebbels Propaganda eine entscheidende Rolle spielen. Kurz und kontextualisierend werden ihre Reichweite sowie deren bewusster Einsatz dargestellt. Einen besonderen Aspekt, der häufig in dem Zusammenhang nicht beachteten wird, nehmen die Gemälde und Stiche ein. In zwei kurzen, sehr treffenden Bildanalysen gewinne die Leser einen intensiven Einblick in die subtilen Zusammenhänge von Bild, Medium, Märchen und Propaganda.
In „Die Grimms und die neue Ideologie“ nähert sich Geister der besonderen Rolle des Märchens in der Pädagogik der damaligen Zeit. Als „vermeintlich deutsches Kulturgut“ , das Kinder in den Bann zieht und Deutungsoffen ist, wird das Märchen zu der „wichtigsten unserer ‚heiligen Schriften‘“ in der Erziehung zum „völkischen Erwachen“ . Der Autor zeigt an den drei einzigen explizit Juden betreffenden Märchen der Brüder Grimm die nationalistischen Tendenzen der Romantik auf. Alle drei Märchen werden bündig analysiert und zeigen die zeittypische, aber nicht ausgesprochen antisemitische Haltung der Brüder. Die zitierte Korrespondenz der Grimms hingegen bietet Einblick in ihre nicht projüdischen Gedanken.
Drei Vertreter der „völkische Märcheninterpretation“ stellen nationalsozialistische Analysen der Märchen, die als besonders geeignet für die Erziehung der Jugend, erachtet wurden, vor. Sie sind die Grundlage der später in den Schulbüchern genutzten und als Werbebüchlein vertrieben zurecht gestutzten Märchen, wie Rotkäppchen, Aschenputtel usw. Sie analysiert Geister in „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Kritisch ist dem Autor gegenüber anzumerken, dass bei Hänsel und Gretel seinerseits eine tiefenpsychologische Analyse verwandt wird, die er als solche nicht benennt und die auch nicht die alleinige Deutungshoheit hat. Interessant ist, dass im Reich neue Märchen, Kunstmärchen, geschaffen wurde. Ihr Zielrichtung waren der Kinderreichtum (zukünftige Soldaten), die Verherrlichung Hitlers und die Unterwerfung der Natur unter die Technik (speziell Flugzeuge). Ein Vertrieb über Zeitschriften erhöhte ihren Wirkungsgrad um das Vielfache. In diesen Analysen herrscht mitunter ein wertender Sprachstil des Autors vor.
Anhand von Zitaten aus einer Rede von Hans Schemm, einem bayrischen Kultusministers, von Pädagogen und der Zeitschrift des Lehrerbundes werden die Ziele der „Märchenpädagogik im ‘Dritten Reich‘ wie „Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit“ entfaltet und hinterfragt. Den Jugendlichen im Volkssturm wurden Märchenbüchlein mit in den Kampf gegeben.
Der politische Witz, die Parodie in „Wie kann eine arische Großmutter so rassefremd schnarchen?“ sind Ventile Andersdenkender (Kästner, Tucholsky u.a.), die nicht ohne Gefahr öffentlich oder hinter vorgehaltener Hand zum Nachdenken provozieren sollen. Geister analysiert auch diese treffend. Die Werke ihrer Schöpfer fielen z. T. der Bücherverbrennung zum Opfer.
„Hitlers Liebe zu ‚Schneewittchen‘“ könnte auch die Doppelmoral der Nazi-Elite betitelt werden. Ausländische Märchen sollten dem Volk nicht zugängig sein. Disney- Filme waren allseitig beliebt und nach Kriegseintritt der Amerikaner nur noch in den alten Verfilmungen öffentlich zugängig, währen Hitler die neuesten Filme täglich genoss. Welche Rolle, weshalb Disney-Film in der Antipropaganda der USA spielte, geht Oliver Geister in diesem Abschnitt nach.
Bisher drehte sich die Analyse um Schattenseiten der Märchendarstellung und -interpretation. Mit „Märchen im KZ“ werden die Hoffnung vermittelnden Seiten der Grimms Märchen und ebenfalls neugeschaffener Kunstmärchen anhand von Anne Frank, Theateraufführungen in Theresienstadt (Brundibár) und Märchen zeichnenden KZ-Häftlingen sehr eindrücklich dargelegt.
Die offensichtlich tiefgreifende Wirkung der nationalsozialistischen Märchenpädagogik arbeitet der Autor in Krieg mit Märchen – Krieg den Märchen eindrücklich heraus. Sie wurde frühzeitig von Gregor Ziemer, einem amerikanischen Schulleiter in Berlin vor dem 2. Weltkrieg in einer Studie aufgrund eigener Erhebungen vor Ort, erkannt und dargelegt. „Ziemer kritisiert die scharfe Trennung zwischen Jungen- und Mädchenerziehung, den Vorrang der leiblichen vor der geistigen Erziehung, vor allem aber das fehlende kritische Bewusstsein aller am Bildungswesen beteiligter.“ Daraus entsprang Disneys zehnminütiger Kurzfilm „Education for death: The making oft he Nazi“. Den Erkenntnissen entsprang ein kurzeitiges Märchenverbot nach 1945.
Mit der Kontextualisierung und Analyse vom „Kleinen Prinzen“ endet das Buch, wie es in einem Märchen sein soll, mit einem Funken Hoffnung.
Im Schlusswort werden alle wichtigen Elemente der Analyse aufgeführt und in den Gesamtzusammenhang gesetzt.
Eine ausführliche Literaturliste, passend zu jedem Abschnitt, beschließt die Arbeit.

Meines Erachtens liegt hier ein Buch vor, das im Deutsch-, Ethik und Geschichtsunterricht der oberen Klassen (ab der 10. Klasse), den Berufsschulen, speziell auch denen, die Pädagogen ausbilden u.a. und den Lehramt, Germanistik und Kulturanthropologie Studierenden als Text hervorragend an die Hand gegeben werden kann. Sowohl Gruppenarbeiten, Analyseübungen , Lektüreseminare u. a. sind auf dieser Grundlage sehr gut durchführbar.
(1) Betreiber der Website Märchenpädagogik.de, die „über die wunderbarste aller literarischen Gattungen informieren und eine Menge wertvolle Tipps bekommen für den pädagogischen Umgang mit Märchen“ bereitstellen möchte. Geister, Oliver: Märchenpädagogik, http://www.olivergeister.de/, download: 20.06.2021.
(2)Kooperationspartner der Wolbecker Märchenwerkstatt. Geister, Oliver: Wolbecker Märchenwerkstatt, http://www.wolbeckermaerchenwerkstatt.de/index.php, download: 20.06.2021.

Rezensiert für die Lehrerbibliothek von Claudia-Maria Maruschke
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Goebbels und das Märch 7

Dichtung und Wahrheit über Grimms Märchen 12
Vom Märchensammeln im 20. Jahrhundert 13
Der Volksempfänger: das Ende der Märchenerzählkultur 22

Die Grimms und die neue Ideologie
Oder: Wie manipuliert man Märchen? 30
Die Brüder Grimm als Antisemiten? 32
Der Jude in den Märchen der Grimms 34

Von völkischer Märcheninterpretation 43

Fritz Hugo Hoffmann - Deutsche Märchen und ihre Deutung.
Ein Volksbuch 46
Rudolf Friedrich Viergutz - Von der Weisheit unserer Märchen 49
Georg Schott - Weissagung und Erfüllung
im deutschen Volksmärchen 51

Was nicht passt, wird passend gemacht: Märchen umschreiben und neu erfinden 58
Die "wahre"Fassung von Hänsel und Gretel 58
Neue Märchen auf das Reich 61

Märchenpädagogik im "Dritten Reich": Ideologische
Märchenvermittlung in Schule und Unterricht 66
Märchenpädagogik in der Zeitschrift des Nationalsozialistischen
Lehrerbundes 70

"Wie kann eine arische Grossmutter so rassefremd schnarchen?" -
Märchen, Witze und Parodien als eine Form des Widerstandes? 75

Hittlers Liebe zu "Schneewittchen" - Die Nazi - Elite und das
Märchen 85
Disneys Snow White and the Seven Dwarfs 89
Die erste deutsche Synchronfassung von Disneys Snow White 91

Märchen im KZ 97
Märchen in Auschwitz 104
Anne Frank und ihre Märchen 108

Krieg mit Märchen - Krieg den Märchen. Von Education
for death bis zum "Märchenverbot" nach 1945 115
Das Märchenverbot 1945 120

Ein Funke Hoffnung inmitten des Grauens: Der kleine Prinz 126

Schlusswort: Märchen als Rettung - Märchen als Gefahr 131

Anhang: Literatur und Anmerkungen 135
Danksagung 147