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Kommentar zum Neuen Testament
Kommentar zum Neuen Testament




Klaus Berger

Gütersloher Verlagshaus
EAN: 9783579081298 (ISBN: 3-579-08129-2)
1056 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 17 x 25cm, Dezember, 2011

EUR 44,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Dr. Klaus Berger, geboren 1940, war Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Mit zahlreichen Büchern hat er einer großen Zahl von Menschen einen Zugang zur Bibel und zum christlichen Glauben eröffnet. Aufgrund seiner Ausbildung in Judaistik, Orientalistik und Patristik versucht er, neue Denkwege in der Auslegung zu erschließen, was ihm oft die Kritik der Fachkollegen einträgt.

Dieser Kommentar ist einzigartig: In nur einem Band erschließt Klaus Berger sämtliche Schriften des Neuen Testaments. Am Anfang jeder Schrift steht die Erörterung der wichtigsten Einleitungsfagen: Wann ist die Schrift entstanden? Wer hat sie verfasst? An welche Adressaten hat sie sich gerichtet? In welcher Gegend des Römischen Reiches fand der Text zunächst Verbreitung? Vor welchen historisch-sozialen Hintergründen ist er entstanden? Was ist sein theologisches Profil? Daran schließt sich die Kommentierung der jeweiligen Schrift an. Abschnitt für Abschnitt werden Gedankenführung und theologische Aussage des Textes erschlossen. An schwierigen oder in der Exegese besonders umstrittenen Stellen erfolgt auch eine Vers-für-Vers-Kommentierung. Berger bedient sich dabei der bekannten historischen Methoden, vor allem aber auch der Kompositionskritik: Welche theologische Konzeption verrät sich aus der Anordnung der Themen und Stoffe? Ebenso spielen religionsgeschichtliche Fragestellungen eine wichtige Rolle in der Auslegung, wobei das zeitgenössische Judentum als Hintergrund aller neutestamentliehen Theologien angenommen wird. Zudem werden außerbiblische Texte der frühen Kirche und der alten christlichen Liturgien für die Erschließung der neutestamentliehen Texte herangezogen.

Schließlich unternimmt Berger auch eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften gegenüber der herkömmlichen Exegese und setzt so neue Impulse.
Rezension
Das ist natürlich in ebenso gewagtes wie anspruchsvolles Unterfangen, das in diesem voluminösen Buch unternommen wird: Die wissenschaftliche Kommentierung aller 27 Schriften des Neuen Testaments in nur einem Band! Auf eine solche Idee kann eigentlich nur dieser Autor kommen, der hinreichend für jenseits des Mainstreams liegende Positionen bekannt ist: der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger. Nun könnte man zu gute halten: Es ist doch ein zu lobender Versuch, auf komprimiertem Raum, das Wesentliche zusammenzufassen. Allein: Hier wird keineswegs communis opinio in kompakter Weise präsentiert und damit ein hilfreiches Angebot für Studien-Anfänger, Erstleser und exegetische Beginner unterbreitet, sondern hier finden sich z.T. doch sehr umstrittene Aussagen (nicht nur zu Datierungsfragen, - man vergleiche Klaus Bergers Früh-Datierung des Joh) zu den neutestamentlichen Schriften. Wer das weiss, kann mit dem Buch arbeiten; wer das nicht weiss, wird doch nicht selten einmal auf eine skurile Fährte gesetzt ... Der Verlag nennt das "debattenfreudig": "Nicht selten zeichnet der Autor dabei ungewöhnliche Linien in seine Deutungen ein. Ob im Blick auf die Datierung einzelner Schriften, hinsichtlich ihrer geografischen Verortung oder ihrer theologischen Grundaussage: Immer wieder findet Klaus Berger gute Gründe dafür, nicht das zu sagen, was alle sagen."

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Das Neue Testament, in nur einem Band erschlossen!
- Einzigartig in seiner Knappheit und Kompaktheit
- Informativ, debattenfreudig, auf der Höhe der aktuellen Forschung
- Für alle an der Bibel Interessierten ...
Ein wahrhaft einzigartiges Werk: In nur einem Band kommentiert der wohl bekannteste Bibelwissenschaftler im deutschen Sprachraum alle Schriften des Neuen Testaments.
Am Beginn jeder Auslegung steht jeweils die Erörterung der wichtigsten Einleitungsfragen, daran schließt die Kommentierung des Textes an. Abschnitt für Abschnitt werden seine Gedankenführung und theologische Aussage erschlossen und der religiöse Gehalt zugänglich gemacht.
Nicht selten zeichnet der Autor dabei ungewöhnliche Linien in seine Deutungen ein. Ob im Blick auf die Datierung einzelner Schriften, hinsichtlich ihrer geografischen Verortung oder ihrer theologischen Grundaussage: Immer wieder findet Klaus Berger gute Gründe dafür, nicht das zu sagen, was alle sagen.
Ein ebenso informatives wie zur Debatte einladendes Buch!
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9

Das Evangelium nach Matthäus 11
Das Evangelium nach Markus 130
Das Evangelium nach Lukas 210
Das Evangelium nach Johannes 319
Die Apostelgeschichte 415
Der Brief an die Römer 495
Der erste Brief an die Korinther 566
Der zweite Brief an die Korinther 630
Der Brief des Apostels Paulus an die Galater 665
Der Brief an die Epheser 688
Der Brief an die Philipper 718
Der Brief an die Kolosser 736
Der erste Brief an die Thessalonicher 758
Der zweite Brief an die Thessalonicher 778
Der erste Brief an Timotheus 790
Der zweite Brief an Timotheus 809
Der Brief an Titus 822
Der Brief an Philemon 827
Der Brief an die Hebräer 831
Der Brief des Jakobus 889
Der erste Brief des Petrus 907
Der zweite Brief des Petrus 934
Der erste Brief des Johannes 944
Der zweite Brief des Johannes 970
Der dritte Brief des Johannes 974
Der Brief des Judas 977
Die Offenbarung des Johannes 983

Häufiger zitierte Literatur 1051


Vorwort
Im Folgenden ist die Grundlage der griechische Text des Neuen Testaments nach Nestle-Aland,
24. Auflage (E. Nestle, K. Aland, B. Aland: Novum Testamentum Graece). Als Übersetzung entstand
parallel und wird daher hier überall als Anregung zur Auslegung vorausgesetzt: Das Neue Testament
und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord,
6. Aufl., Frankfurt 2005. Dort auf S. 1363-1367 auch ein Verzeichnis der Abkürzungen. Dieses betrifft auch die zitierten alt- und neutestamentlichen Apokryphen.
Die hier häufiger zitierte Literatur ist auf einer Liste zusammengestellt S. 1051.
Um die Kommentierung nicht durch unnötige Extratouren zu belasten, habe ich auf Folgendes
durchgehend und bewusst verzichtet:
– auf neue Hypothesen, betreffend die synoptische Frage. Mit den Fachleuten in aller Welt warte ich
auf eine neue These, die das 19. Jh. hinter sich lässt. Bis dahin ist »alles offen«. An den relevanten Stellen habe ich daher auf eine kausale Erklärung verzichtet und mich damit begnügt, die Unterschiede in den bestehenden Endfassungen aufzuweisen.
– auf Teilungshypothesen und auf Rekonstruktion von »redaktionellen Schichten«. Derartige Versuche
erschienen mir immer wieder als Ausweis mangelnder Durchdringung der dann notleidenden Texte.
– auf weitläufige Forschungsgeschichte. Zum Ersatz habe ich den jeweiligen Kommentierungen vorangestellt eine chronologische Liste der Kommentare, soweit sie für mich (aus eigener Sammlung)
zugänglich waren.
Was die Methoden betrifft, so habe ich neben den bekannten historischen (dazu auch die eigene
Arbeit zur Formgeschichte »Formen und Gattungen im Neuen Testament«, 2005) besonders die der
Kompositionskritik verwendet: Welche theologische Konzeption verrät sich aus der Anordnung der
Themen und Stoffe?
Religionsgeschichtliche Fragestellungen sind für mich nach wie vor wichtig. Dabei ist das zeitgenössische Judentum als theologischer Hintergrund bzw. Mutterboden aller neutestamentlichen Theologien angenommen. An zweiter Stelle sind außerbiblische Texte der frühen Kirche und der alten
christlichen Liturgien für mich von zentraler Bedeutung. Die »Parallelen« haben für mich in der Regel konstruktive Funktion. Denn die biblischen Texte werden dadurch nicht weniger, dass sich außerbiblische Parallelen finden.
Schwachstellen der geläufigen Schulexegese wie mangelnde Berücksichtigung des Heiligen Geistes,
aber auch der Dimensionen der Leiblichkeit, Leibhaftigkeit und Kirche habe ich mich bemüht zu vermeiden.
Wenn ich die Hypothesen und Thesen der liberalen und noch mehr der hegelianisch beeinflussten
Exegese in der Regel ablehne, dann ändert das nichts an der Achtung vor dem hohen Maß an Intelligenz
und Fleiß, das man hier der Schrift hat angedeihen lassen. Oft nehme ich Anregungen aus dem
Reichtum der 1700 Jahre vormoderner Auslegung auf. Der innere Zusammenhang zwischen Halbbildung
und Unglaube steht mir dabei warnend vor Augen.
Der Kommentar versucht u. a. eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften.
Heidelberg, In assumptione BMV 2011
Klaus Berger


Leseprobe:

Das Evangelium nach Matthäus
Kommentare: Theodor v. Heraclea (350). – Apollinaris
v. Laodicea (380). – Joh. Chrysostomus I-II (vor
400). – Theophilus v. Alexandrien (400). – Hieronymus
(400). – Theodor v. Mopsuestia (425). – Cyrill v.
Alexandrien (440). – Hrabanus Maurus (vor 856). –
Paschasius Radbertus XII (vor 856). – Otfried v.
Weißenburg (868) – Photius v. Konstantinopel
(880). – Sedulius Scottus I-II (9. Jh.). – Komm. der
griech. Kirche (ed. J. Reuss 1957 [TU 61]). – Gregorius
Abulfarag (1200). – Thomas v. Aquin (1220). –
Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor
1349). – Nikolaus v. Dinkelsbühl (vor 1433). –
Alphonsus Abulensis (1455). – Dionysius Carthusianus
(vor 1471) – Faber Stapulensis (1521). – Philipp
Melanchthon (1523). – C. Hagendorf (1525). –
W. Musculus Dusanus (1544). – D. Carthusianus
(ed. 1545). – F. T. Hassellensis (1547). – A. Marloratus
(vor 1562). – D. Chytraeus (1575). – Joh. Ferus
(1577). – L. de Aponte I-II (1641). – A. de Sanseverino
(1659). – Joh. Gerhard (1663). – J. Huysinga
(1679). – Emanuel de Incarnatione I-IV (1695). –
J. de Sylveira (1697). – F. Lucas Brugensis (1712). –
C. Wolfius (1741). – Alexander Natalis (1745). –
J. J. Wettstein (1752). – C. T. Kuinoel (1823). –
C. F. A. Fritzsche (1826). – H. A. W. Meyer (1876). –
C. F. Keil (1877). – A.-J. Liagre I-II (1883). – R. Kübel
(1889). – H. Holtzmann (1889). – J. Knabenbauer
I-II (1892). – F. C. Ceulemans (1900). – Th. Zahn
(1903; 4. Aufl. 1922). – J. A. van Steenkiste I-III,
Brüssel (1903). – E. Klostermann (1909). – A. Schlatter
(1936). – E. Käsemann Ms Vorlesung SS (1957).
– J. Schmid (1959). – E. Lohmeyer (1962). –
W. Grundmann (1972). – E. Schweizer (1973). –
U. Luz I-IV (1985 ff). – H. Frankemölle I-II (1994). –
H. Th. Wrege (1991). – U. Luck (1993). – M. Vahrenhorst
(2002).

EINFÜHRUNG
Datierung und Adressatenkreis

Der wichtigste Unterschied zum MkEv (und auch
zum JohEv) ist, dass die Mission unter Heiden
offen zugegeben, ja befohlen wird. Andererseits
häufen sich die Signale für eine strikte Trennung
von Juden- und Heidenmission. Der Evangelist
bringt das Kunststück fertig: Nirgends sonst ist
Jesus so streng und eindeutig Messias für Israel,
und daher betritt er kein heidnisches Haus und
hält das Gesetz vollständig. Gleichzeitig wird die
Heidenmission durch ihn begründet – so klar
wie sonst höchstens annähernd bei Lukas. Die
bleibende Bedeutung dieses Ansatzes besteht darin,
dass zwei unterschiedliche Typen von Christentum
gleichermaßen durch Jesus selbst legitimiert
sind. – Jesus ist also gewissermaßen das
noch gelungen, woran Paulus historisch-biographisch
gescheitert ist, der wegen seiner Tätigkeit
als Völkerapostel dann als abgefallener Jude
immer wieder heftig verfolgt und schließlich
umgebracht wurde.
In seiner theologischen Geografie nimmt das
MtEv die ganze Welt in den Blick. Gegenüber
dem MkEv ist die Heidenmission selbstständiger
geworden. Sie muss nicht versteckt werden.
Denn Jesus ist zu hundert Prozent Jude und die
Heidenmission zu hundert Prozent an die heidnischen
Adressaten gerichtet. Die Schrift ist und
blieb gemeinsame Instanz, aber mehr als Buch
der Prophezeiungen. Beschneidung ist kein Thema.
Darin sind sich merkwürdigerweise alle vier
Evangelien einig. Dennoch empfiehlt Mt 23,3,
das zu tun, was die Schriftgelehrten und Pharisäer
lehren.
Dieser Verzicht auf das Thema Beschneidung
setzt auch einen Verzicht auf die Beschneidung
von Heiden voraus, die Christen werden. Es muss
daher ein grundlegend anderes Milieu vorliegen
als in Galatien und in Rom, wo Paulus heftig mit
diesem Thema zu kämpfen hat. Das heißt: Die
Heidenchristen leben ein Judentum, das dem von
Gottesfürchtigen und Sympathisanten ähnelte
(vgl. dazu B. Wander: Gottesfürchtige). Ein solches
Judentum der Unbeschnittenen gab es wohl
in Antiochien und in Alexandrien. In Röm 4,12b
könnte Paulus auch solche Christen meinen (unbeschnitten
sein, dennoch wie Abraham leben).
Dass das Thema Beschneidung in den Evangelien
nicht vorkommt, besagt gewiss nichts darüber,
dass hier nicht von Anfang an die stillschweigend
vorausgesetzte Trennwand gegenüber
dem »echten« Judentum lag.
Zeitpunkt der Entstehung des MtEv
Nach den antiochenischen Wirren, also nach
48-50. Keine Überschneidung mit dem Judenchristentum.
Die säuberliche Trennung im Evangelium
setzt auch dieselbe in der kirchlichen
Landschaft voraus. Auch der Paulus des Röm
partizipiert daran (Röm 4,11-12). Verzicht auf
Liberalisierung des Judentums bedeutet nicht
dessen Ausschluss vom Glauben an Jesus. Das
MtEv dürfte daher zwischen 50 und 60 n. Chr.
entstanden sein. Warum nicht später? Noch ist
die judenchristliche Kirche stark vertreten.
Israel und die Völker der Welt – zur matthäischen
Geschichtstheologie
Der Evangelist Matthäus liebt die Kontraste.
Wohl auch deshalb wurde er schnell zum Lieblings-
Evangelisten der Kirche. Auf die Frage nach
seinen Lieblingsfarben würde er wohl sagen:
Weiß wegen der Seligen – Schwarz wegen der
Verurteilten – Rot wegen der Märtyrer, die von
den Propheten bis in die Gegenwart des Evangelisten
reichen. Theologisch ist Matthäus hart
und kompromisslos, ungefügig. Oft und lange
war man der Meinung, das gelte auch für endgültige
Aussagen über Israel, die er bietet. Zum Beispiel
findet sich nur in der Passion der Ruf des
ganzen Volkes der Juden: »Sein Blut komme über
uns und unsere Kinder.« Und selbst der alte
Adolf Schlatter konnte 1910 sagen: »Matthäus erzählt
die Geschichte Jesu als den Abschluss der
Geschichte Israels … (Israels) Zeit ist vorbei,
und wie Jesus, so haben auch seine Boten die
Pflicht, ihm den nahenden Untergang anzukündigen.
Das Reich erbt Jesu Gemeinde.« – Erst in
den letzten 25 Jahren hat sich auch bei den Evangelischen
die Einstellung gewandelt. Man entdeckte
die Antijudaismen vor allem auch in der
Bibelauslegung selbst und betrieb »Theologie
des Judentums«.
Seit Jesus gekommen ist, kann man mit Matthäus
drei Phasen der Heilsgeschichte unterscheiden:
1. das Wirken des irdischen Jesus, in
dem Jesus von seinem Volk durchgehend abgelehnt
wurde, 2. das Reich des Menschensohnes
zwischen Ostern und Wiederkunft Christi und
3. die Wiederkunft Jesu als Beginn des sichtbaren
Reiches Gottes. – In der Zeit des Reiches
des Menschensohnes gibt es nun die Mission der
Heidenvölker einerseits und eine Fortsetzung
der Mission Jesu in Israel nach Ostern andererseits
(vor allem nach Mt 10; die Bitte um Erntearbeiter
ist ein klares Indiz). Das heißt: Auch in
der Gegenwart des Evangelisten ist Israel nicht
einfach abgeschrieben und verloren, sondern
Mission im Stil Jesu wird fortgesetzt, und zwar
bis zu seiner Wiederkunft. In dieser Zeitspanne
trifft auch das Strafgericht des Jahres 70 Jerusalem
(Zerstörung des Tempels), aber so, dass damit
alle Schuld an den Märtyrern der ganzen
Heilsgeschichte abgebüßt ist. Das Wort »Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder« ist damit
ein für alle Mal abgegolten.
Sodann kann man lernen, dass Matthäus das
»Gericht« am Ende in drei unterschiedlichen Szenarien
denkt. Einmal kennt der Evangelist die
Entrückung der Treuen und Auserwählten, also
der Jünger und anderer Christen, zumMenschensohn
hin (Mt 24,31), sodann weiß er um das Gericht,
das die zwölf Apostel über Israel halten
werden (Mt 19,28), und schließlich unterscheidet
er wiederum davon das Gericht über die Heidenvölker
(Mt 25,31-46). Von den Gerechten heißt es
ja, dass sie ahnungslos darüber waren, dass ihnen
im Bettler und Kranken der Herr begegnete. Die
Jünger aber wissen durch Matthäus darum, also
kann sich Mt 25,31-46 nur auf Nicht-Jünger beziehen.
Eine Parallele dazu gibt es im jüdischen
Testament des Abraham (Übers.: E. Janssen).
Dort wird unterschieden ein Gericht durch Abel
(vom Martyrium bis zur Wiederkunft), eines
durch die zwölf Stämme Israels und eines durch
den Gott persönlich. – Bemerkenswert ist die Entsprechung
zwischen den zwölf Stämmen und den
zwölf Aposteln. Und Abel ist Sohn Adams und
damit »Sohn des Menschen«. Nur ist die Verteilung
im Testament des Abraham größer, und die
Gerichteten sind jeweils alleMenschen, nicht verschiedene
Gruppen wie bei Matthäus.
Der Satz in Mt 23,39 »… bis ihr mir zurufen
12 Das Evangelium nach Matthäus
werdet: Gesegnet, der da kommen soll im Namen
des Herrn« ist auf den freudigen Empfang des
wiederkommenden Jesus durch Israel zu deuten.
Der Ausdruck »der da kommen soll« hat sich zur
Zeit des Matthäus (vgl. 11,3) schon so weit verselbstständigt,
dass damit unzweifelhaft der
Messias gemeint ist (und nicht einer seiner Boten,
wie man auch erwägen könnte). Das heißt: Die
Geschichte Jesu mit Israel ist weder mit der Kreuzigung
noch mit der Zerstörung Jerusalems beendet,
sondern die Israelmission in der Gegenwart
des Evangelisten mündet (dereinst) in den
Willkommensgruß Jesu in Jerusalem. Gerade so
erwartet es auch die Alte Kirche (bis hin zu den
Moslems). Jesus ist der Hirte Israels also nicht
nur im Erdenwirken, sondern durch seine Boten
jetzt und als Messias Israels dann.
Fazit: Israel ist weder verdammt, noch hat es
einen eigenen Heilsweg, der irgendwo an Jesus
vorbeiführte oder ihn überflüssig machte. Gerade
das Letztere wird heute von den Israel-Theologen
durchgehend vertreten (»doppelter Ausgang
der Schrift«). Matthäus haben sie nicht auf
ihrer Seite. Doch andererseits ist, wie schon Axel
von Dobbeler im Jahre 2000 feststellte, die Mission
in Israel strikt von der Mission unter den
übrigen Völkern zu trennen und verläuft nach
eigenem Stil und – mit der Begrüßung in Jerusalem
– auch nach den Bedingungen Israels. Paulus
sieht das in Röm 11,26 dann wohl ganz genauso.

KOMMENTAR
Zum Aufbau Mt 1-4
Sakrale Geografie

Der Evangelist Lukas beginnt seine Berichte über
den Täufer (Lk 3,1-2) und über Jesus (Lk 1,5;
2.1f) mit einer Einordnung in die Regierungsbzw.
Herrschaftszeiten der staatlichen römischen
Autoritäten, genannt Synchronismos. Der Evangelist
Matthäus dagegen wählt ein anderes Mittel,
das nicht chronologischer, sondern geografischer
Art ist. Man könnte es Synoikismos nennen:
Wo in der damaligen Welt liegen die Orte
des Geschehens? – Und Matthäus antwortet: in
der Mitte. Wie stark sein eigenes Interesse an
einer solchen Platzierung ist, zeigt die Tatsache,
dass er die meisten dieser Orte mit Hilfe von Reflexionszitaten
legitimiert bzw. ausschmückt.
Liest man die Darstellung in den ersten Kapiteln
unter diesem Aspekt, so fällt einem zuerst
der Satz Thomas Manns zu Beginn des ersten
Teils seiner Josefsromane ein: Tief ist der Brunnen
der Vergangenheit. Wie Thomas Mann (und
wohl als sein Vorbild), so beginnt bereits Matthäus
mit Abraham und Babylon. Schon im
Stammbaum Jesu fällt, von den Kommentatoren
kaum beobachtet, dreimal ganz auffällig das
Stichwort Babylon (1,12.17 [2]). So ist auch
die Sichtweise des damaligen Judentums: In Babylon
liegt der Ursprung aller Kultur. Daher
kommt auch Abraham aus dem Zweistromland.
Und die Magier mit ihrer Astronomie in Mt 2,1
haben ihr Fach ganz gewiss bei den Babyloniern
erlernt (So würde es ganz sicher Matthäus auf
Befragen hin sagen). Wo aber Babylon genannt
wird, darf auch der – wie es sich in den Augen
der damaligen Geografen darstellt – Gegenpol
Ägypten nicht fehlen (Mt 2,13-15.19-23). Das
heilige Geschehen, über das der Evangelist berichtet,
liegt demnach in der Mitte zwischen Babylon
und Ägypten. Jeder Jude würde bestätigen:
Diese Mitte ist Jerusalem, seit dem 2. Jh. v. Chr.
der Nabel der Welt. Der Evangelist ist so kühn
zu sagen: Die Mitte liegt bei Jerusalem, nämlich
in Betlehem; denn nach 2,6 ist Betlehem unter
den Fürstenstädten Judas »keineswegs die geringste
«, also die bedeutendste. Betlehem ist also
die Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Babylon
wurde durch den Stammbaum »legitimiert«,
Betlehem durch das Reflexionszitat in Mt 2,6
(Micha 5,1), Ägypten durch das Reflexionszitat
in 2,15 (aus Hos 11,1). Als Ort des Schreckens
wird Betlehem typologisch als »neues Rama« gedeutet
(2,18 aus Jer 31,15 LXX: 38,15). Und die
weiteren Orte werden ebenfalls sorgfältig mit
Schriftzitaten als Erfüllung von Gottes Wort im
Alten Testament gedeutet: Nazaret in 2,23 (mit
Ri 13,5), und da Kafarnaum im Gebiet der Stämme
Sebulon und Naftali liegt, fand sich auch dafür
eine Schriftstelle (4,13-15 aus Jes 9,1f), und
so ist es auch mit dem Ort, an dem der Täufer
predigt und tauft, der Wüste (Mt 3,3 aus Jes
40,3). Der Einzug Jesu nach Jerusalem wird mit
dem Sion-Zitat aus Jes 62,11 begründet (Mt
21,8 f) und Jesu Wirken im Tempel nach Mt
21,13 durch Jes 56,7. Schließlich wird noch der
für die 30 Silberlinge gekaufte Acker theologisch-
geografisch legitimiert (Mt 27,9 f aus
Sach 11,12f; Jer 18,2f; 19,1 ff; 22,6 ff).
Fazit: Die »Orte« Babylon, Betlehem, Ägypten,
Betlehem/Rama, Nazaret, Kafarnaum, die Wüste,
der Töpferacker sind in ihrer Bedeutung für
die Heilsgeschichte durch die Schrift bestens legitimiert.
Fast alle diese Stellen stehen in den
ersten Kapiteln (1-4) des MtEv.
Zwischen diesen Orten werden nun Wege genommen.
So wie Abraham (und dann das verbannte
Volk) aus Babylon kam, so Jesus aus
Ägypten. Palästina war und ist Wanderungsziel.
Und eine weitereWanderungsbewegung ist nicht
zu verschweigen: die von Judäa nach Galiläa
(2,22f). Gewiss ist es auch das Anliegen des Evangelisten
zu zeigen, dass das Christentum noblen
Ursprungs, dass also Betlehem nicht ein lächerliches
orientalisches Nest im Winkel ist.
Kindschaft/Genealogie
Das zweite große Thema der matthäischen Anfangskapitel
sind Variationen zum Thema Kindschaft.
Das betrifft sowohl Jesus selbst als auch
andere Kinder aus Betlehem und Umgebung
und schließlich auch neue Kinder, die Gott Abraham
schenken könnte. Für Jesus selbst wird gezeigt,
dass er »Gottes und der Menschen Sohn«
ist. Die menschliche Linie beginnt mit Abraham
und endet bei Josef. – Der Stammbaum nach Mt
umfasst 314 Generationen (in der 2. Reihe 15,
in der 3. Reihe 13). Die Überschrift zum Stammbaum
ist: »Buch des Ursprungs«. Die kunstvoll
aufgebauten Listen des Stammbaums zielen auf
Josef, den »Mann Marias, aus der geboren wurde
Jesus, der Christus genannt wird«. Der Stammbaum
beweist die Herkunft des heiligen Josef
von David und Abraham. Der naheliegende Einwand,
dass Jesus, weil er nicht physisch von Josef
abstammt, also auch nicht von David abstammt,
zieht nicht, weil die juristische Vaterschaft erweisbar
ist und in jedem Fall gilt, die physische
dagegen nie sicher ist. Schließlich gilt: Durch die
Verbindung zweier Familien gelten auch die beiderseitigen
Vorfahren als gemeinsame. Die
Adoption hatte die gleiche rechtliche Wirkung
wie die biblische Abstammung.
Weil es sich um den Stammbaum Josefs handelt,
hat man schon früh gefragt: Wieso gilt das
von Jesus, der doch von Josef gar nicht abstammt?
Die syrische Überlieferung gleicht aus:
»Josef zeugte…« Textkritisch ist diese Veränderung
wertlos, da ein dogmatisches Interesse
adoptianistischer Art bei den frühen Syrern erweisbar
ist.
Aus dem gleichen Grund (weil der Stammbaum
auf Josef zuläuft) muss auch die folgende
Darstellung in 1,18-25 von Josef handeln. Die
Brücke zwischen der menschlichen Herkunft (jedenfalls
von Maria) und der Gottessohnschaft
liegt darin, dass Maria nach 1,20 vom Heiligen
Geist empfangen hat. Diese Entstehung durch
Gottes Geist wird in Mt 3,16f öffentlich. In der
Szene bei der Taufe Jesu liegt daher das inhaltliche
Gegengewicht zum Stammbaum in 1,1-17
(deshalb steht ebenfalls bei Lukas beides zusammen).
Und auch das ist ein Weg: vom geheimen,
aus der Sicht Josefs eher zu verheimlichenden Geschehen
in Marias Schoß bis zur Öffentlichkeit
der Proklamation bei der Taufe.
Schließlich geht es um die Bedrohung des Kindes
im Rahmen der »Gefährdung des Retterkindes
« (s. u.) und auch anderer Kinder (Mt 2,16-18).
Korrespondenz zwischen Anfang und Schluss des
Evangeliums
Wie kein anderes Evangelium weist das MtEv intensive,
meist auch wörtliche Übereinstimmungen
zwischen Anfang und Ende auf. Damit erreicht
der Evangelist den Eindruck der Stimmigkeit
im gesamten Text. Auch hieran wird sein
eigentliches Thema erkennbar: die Begründung
der Heidenmission durch den Messias Israels.
Der Mord in Betlehem durch Herodes entspricht
dem Mord in Jerusalem durch Herodes.
Der gesuchte König der Juden (2,2) entspricht
dem König der Juden auf dem Kreuzestitel
(27,37).
Dass Jesus von den Sünden retten wird (1,21), entspricht
der Sündenvergebung durch sein Blut
(26,28).
Der Titel »Gott mit uns« (Immanuel; 1,23) entspricht
dem »ich…mit euch« (28,20).
Anerkennung durch Fremde: Dass die Magier vor
14 Das Evangelium nach Matthäus
Jesus niederfielen und ihm huldigten (2,11), entspricht
dem Bekenntnis des Hauptmanns: »Dieser
war Gottes Sohn« (27,54).
Die Versuchung in der Wüste (4,3.6: »Wenn du
der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]) entspricht
der Versuchung unter dem Kreuz (27,40: »Wenn
du der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]).
Die Mitte der Welt in Betlehem (Kap. 1-2) entspricht
der Sendung an alle Völker von Jerusalem
aus (28,19).
Der Berg der Versuchung (4,8) entspricht dem
Berg der Auferstehungserscheinung (28,16).
Die Rolle der fremdstämmigen Frauen im Stammbaum
(Kap. 1) entspricht der Sendung an alle
Völker (28,19).
Die Weltherrschaft als Versuchung durch Satan
(4,8) und die von Gott verliehene Vollmacht Jesu
im Himmel und auf Erden (28,18) stehen in dualistischer
Entsprechung.
Instrumente theologischer Geschichtsschreibung
Immer wieder erscheint ein Engel des Herrn im
Traum und gibt Gottes Absichten kund (1,20;
2,12.13.19.22). Bei den zeitgenössischen Heiden
sind Träume unangefochtene Offenbarungsmittel,
bei Juden dagegen suspekt. Dadurch aber,
dass der Evangelist in Träumen den Engel des
Herrn auftreten lässt, stabilisiert er dieses Instrument
der Offenbarung. Gott lenkt auch auf diese
Weise die Geschichte.
Mt 1: Jesu Stammbaum – Josefs Bedenken
Der Abschnitt Mt (1,1-11.18-25 ist eng mit den
Kindheitsgeschichten bei Lukas vernetzt. Das zeigen
folgende gemeinsamen Elemente: Jesu
Stammbaum (zwischen Abraham und David
weitgehend identisch); Zeit des Königs Herodes;
Maria ist die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist
»Urheber« Jesu im Leib Marias; dieses wird durch
einen Engel bekannt gemacht (bei Mt: Josef nach
der Empfängnis; bei Lk: Maria vor der Empfängnis);
Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josef
gehabt (Mt 1,18; Lk 1,34); der Engel sagt: »Du
sollst seinen Namen Jesus nennen« (bei Lk zu Maria,
bei Mt zu Josef); Jesus wird in Betlehem geboren;
das Kind bekam den Namen Jesus; all dieses
Material wird dem Bericht über Johannes den
Täufer und die Taufe Jesu im Jordan vorangestellt;
nur Lk holt den Stammbaum Jesu (in
3,23-38) nach. – Dabei ist theologisch wichtig:
Der Herkunft Josefs von David entspricht die davidische
Geburtsstadt Betlehem. Auffallend ist,
dass die weiteste Übereinstimmung in dem Satz
besteht, wonach das Kind Jesus heißen soll. Und:
Der Heilige Geist wirkt Marias Schwangerschaft;
dies wird als Engelsbotschaft abgesichert.
Bei den im Stammbaum Jesu genannten vier
Frauen handelt es sich jeweils um eine illegitime
Schwangerschaft oder eine solche, bei der der Vater
nicht der regulär dafür gehaltene Mann war.
Tamar und Rahab sind Dirnen, die Frau des Uria
kommt durch ein Verbrechen an Davids Seite,
Rut stammt aus dem feindlichen Volk der Moabiter.
Bei Josef hat Gott selbst diese »merkwürdige«
Linie aufgegriffen. Was zuvor im Stammbaum
menschlich fragwürdiges oder im Dunkel der
Geschichte versunkenes Geschehen war, hat Gott
hier durch den Heiligen Geist mit eigener Handschrift
fortgesetzt und umgewandelt. So gibt es
hier die Typologie – dass der übliche biologische
Vater fehlt in der Übereinstimmung des Defektes
eines normalen Vaters – neben der Antitypologie,
die darin besteht, dass bei Jesus diese Rolle kein
zweifelhafter Mann ausfüllt, sondern Gottes
Geist.
Mt 1,18-24: »Bekehrung Josefs«
Man kann diesen Text durchaus die »Bekehrung
des heiligen Josef« nennen. Damit aber ist der
Text, wie jede biblische Bekehrungsgeschichte,
auch an die Leser gerichtet. So ist – ungewöhnlich
genug – das ganze Kapitel 1 eine Geburtsgeschichte,
erzählt aus der Perspektive des Ziehvaters,
der für Schwangerschaft und Geburt
nichts kann.
Man kann Matthäus nicht vorwerfen, dass er
nicht sofort an die einzige Ausnahme gedacht
hat, die der Prophet Jesaja (7,14) beschreibt. Offenbar
sind Maria und er noch nicht lange verlobt,
sodass jeder wissen und sehen kann, dass
Josef nicht der Vater sein kann. So möchte er
das Verlöbnis ohne großen Medienrummel dis-
Kapitel 1 15
kret lösen, d.h. Maria nach Hause schicken, sodass
sie allein die Schande der unehelichen Mutter
zu tragen hat.
Deshalb muss dann erstens Gott seinen Engel
zu Josef schicken, ihm eine Offenbarung geben,
und zweitens muss eine Schriftstelle herangezogen
werden, um das Geschehen plausibel zu machen.
Das heißt: Auch Gott hielt hier den Glauben
nicht für selbstverständlich, sondern hat ihn
durch sein eigenes Handeln und Erklären erst ermöglicht.
Zur Menschwerdung Jesu durch den Heiligen
Geist ist zu sagen: Die hierzu nächste jüdische
Parallele gibt es gerade zur Matthäus-Version:
Der Anhang zum slawischen Henochbuch (1. Jh.
v. oder n. Chr.; jüdisch) berichtet über die gottgewirkte
Entstehung des Kindes Melchisedek im
Leib einer zuvor unfruchtbaren Frau, die bei der
Geburt stirbt. Der Vater will – wie Josef bei Mt –
das Kind nicht anerkennen und erwägt, seine
Frau zu entlassen. Von Melchisedek gilt somit:
»ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum«
(Hebr 7,3). Im Unterschied zu Matthäus fehlen
der Engel, der Heilige Geist, das davidische Element,
die symbolische Bedeutung und Deutung
des Namens (Jesus = Erlöser). Bei Matthäus und
Lukas ist die Menschwerdung Jesu durch den
Heiligen Geist die höchstmögliche Zuspitzung
der Berufung und Heiligung vom Mutterleib an.
Hier wird eine prophetische Tradition radikalisiert;
nach Lk 1,15 war auch Johannes der Täufer
schon vom Mutterleib an wenigstens mit Heiligem
Geist erfüllt; Jesus ist gar durch den Heiligen
Geist entstanden. Wie seine Auferstehung
geistgewirkt war, so ist es auch seine Entstehung.
Engel (in den Kindheitsgeschichten) sind
nichts Selbstverständliches. Doch zunächst ist
das stets etwas Ungeheuerliches, herrlich und
schrecklich zugleich. Gottes Menschwerdung ist
ein Geheimnis – genauso wie seine Auferstehung.
Und niemand ist hier oder dort Zeuge. Aber das,
was offenbart werden kann, sagt in beiden Fällen
ein Engel. Die spätere Kirche wird sagen: Durch
diese geheim gebliebenen Vorgänge konnte Satan
hintergangen werden. Ohne dass er es merkte,
wurde das entscheidende Heil gewirkt. In diesen
Fällen ist daher die Offenbarung durch Engel zugleich
eine Art der Geheimhaltung.
Wie bei den Osterberichten sind auch bei den
Engelerscheinungen in den Kindheitsgeschichten
die Evangelien sozusagen Exklusivberichte des
zuvor Geheimen. In jedem Fall also richtet sich
die Engelsbotschaft an intime Zeugen des heiligsten
Geheimnisses: dass Maria vom Heiligen
Geist schwanger wurde und dass die Frauen das
Grab leer sahen und eine Engelsbotschaft dort
vernahmen. Übrigens geht es beide Male um etwas,
das der Heilige Geist am Leib Jesu wirkt.
Denn wo immer gefragt wird, wer Ostern eigentlich
bewirkte, war es Gottes Heiliger Geist (Ez 37;
Offb 11,11; Röm 1,3f; 1 Tim 3,16). Gott hat
durch seinen Heiligen Geist die Zone der Leiblichkeit
Jesu erreicht. Dieses Eingreifen geschieht
an den beiden entscheidenden Eckpunkten des
Lebens Jesu, bei seiner Menschwerdung und bei
seiner Auferstehung.
Aber kann man nicht, wie es viele tun, einfach
die Jesaja-Verheißung in Mt 1,23 wiedergeben
mit den Worten: »Eine junge Frau wird empfangen
und einen Sohn gebären …«? Dann brauche
man keine Jungfrau. Und dann ist die ganze Geschichte
eine normale Schwangerschaft. – In der
Erzählung bei Mt ist die Jesaja-Stelle doch erst
das zweite Zeugnis und nicht der Grund, weshalb
die ganze Geschichte erfunden wurde. An erster
Stelle steht die Botschaft des Engels, und sie hat
viele Gemeinsamkeiten mit dem, was wir aus den
Kindheitsgeschichten nach Lukas kennen. Doch
liest man Jes 7 aufmerksam, dann soll hier ein
besonderes Zeichen gegeben werden. Dass aber
eine »junge Frau« ein Kind bekommt, ist überhaupt
kein besonderes Zeichen, sondern das in
aller Welt Übliche. Daher kann das Zeichen, das
Gott gibt, jedenfalls nur in etwas Außergewöhnlichem
bestehen. Und das hebräische Wort »alma
« kann durchaus »Jungfrau« bedeuten. So
übersetzt es übrigens die griechische Bibel der
Juden, die Septuaginta. In der Erwartung der
Griechisch sprechenden Juden war der Immanuel
aus Davids Haus daher von einer Jungfrau geboren.
Und Jes 7,14 ist auch nicht der »Ursprung
« der neutestamentlichen »Konstruktion
der Jungfrauengeburt«, sondern wird von Matthäus
beiläufig hinzugezogen, um die christliche
Tradition, die er mit Lukas teilt, zu kommentieren.
Aber man kann nicht sagen, von da aus sei
diese Legende entstanden.
16 Das Evangelium nach Matthäus
Mt 2,1-12: Die Magier
Von Mose, Abraham und Jesus erzählt man: Ein
Knabe soll geboren werden, der künftig sein Volk
retten wird, der also in irgendeinem Sinne »König
« sein wird. Durch Fachleute (Astronomen,
Astrologen, Weise) erfährt der noch regierende
gegenwärtige Herrscher von der Gefahr, die ihm
droht. Denn ein Stern verrät den neugeborenen
König (wegen Num 24,17). Er ist regelmäßig
ein grausamer, gottloser Herrscher. – Da er das
neugeborene Kind nicht finden kann, weil es in
einer Höhle oder an anderem unerwarteten Ort
versteckt ist, lässt er flächendeckend alle Knaben
dieses Alters umbringen. Nur der, den er eigentlich
fangen will, entgeht ihm, wird in seinemVersteck
wunderbar ernährt und danach dennoch
König. – Diese Erzählungen könnte man die »Gefährdung
des Retterkindes« nennen. (parallel zur
»Gefährdung der Ahnfrau«). Die Magier, die
dem Kind die Geschenke bringen, sind auch in
den Parallelerzählungen über Mose und Abraham
stets Nichtjuden. Früher hat man aus diesen
bis ins Einzelne gehenden Ähnlichkeiten im Ablauf
geschlossen, dass im Ganzen nichts davon
wahr sei, da alles biografischer Topos gewesen
sei. Dabei hat man übersehen, dass Ähnlichkeiten
der Erzählungen nichts über die »Historizität
« besagen. Denn Analogie zu einem anderen
Fall kann durchaus die historische Wahrscheinlichkeit
erhöhen. Es kann auch sein, dass Ähnlichkeiten
bestehen, die dann vom Erzähler im
Sinne des allgemeinen Ablaufs ergänzt werden.
Anders gesagt: Auch wenn nur ein leiser Anlass
besteht, dass auch dieses Retterkind verfolgt wurde,
kann der Erzähler die anderen Punkte nachreichen.
Schließlich gilt: Die Handschrift Gottes
bleibt in der Geschichte immer erkennbar. Offenbarung
muss keineswegs immer das Neueste
kundtun; sowohl das Wort wie das Geschehen
können dasselbe Altbewährte in neuer Wiederholung
(mit Abweichungen) sein.
Quellen für die Motive des Kindermordes und der
Magier im Umkreis des Neuen Testaments:
pers = Chronik von Zuqnin (Berger/Colpe, Religionsgesch.
Textbuch, Nr. 180); mos = Bericht
über Mose nach Ex 1,15 ff und paläst. Targum zu
Ex 1,15; abr = Abraham-Midraschim nach
A. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen I, 14.16.18.
35.42; protev = Protevangelium des Jakobus 19;
ignat = Ignatius v. Antiochien, An die Epheser
19: mt = Mt 2.
Stern (zeigt neuen Herrscher an; Num 24,17):
pers, abr, protev, mt, ignat.
Höhle (im Berg, als Geburtsort): pers, abr, protev
Gottloser Herrscher: mos, abr, mt.
Herrscher hat einen Traum: mos (Targum; Lamm
undWaage). In den anderen Quellen steht an dieser
Stelle oft eine Notiz über unaufgeklärte astronomische
Phänomene.
Anbetung des neuen wahren Herrschers: pers, mt
Neuer Herrscher ist König der Magier: pers, ignat,
mt.
Mt 2,2: Der neugeborene König der Juden
Religionsgeschichtlich gesehen haben wir es hier
zu tun mit einem Stück aus einer orientalischen,
jüdischen und vorkanonischen Tradition. Man
könnte diese nennen »Die Offenbarung des Menschengestaltigen
im Himmelslicht«. D.h.: Man erwartet
die Offenbarung eines himmlischen Erlösers
bzw. Befreiers. Diese wird sich nach einigen
Texten auf einem Berg ereignen (denn der Berg
ist dem Himmel nahe, bzw. ihm ähnlich). Sie
kommt aus dem Licht des Himmels (Stern). Dieser
Befreier sieht aus wie ein Mensch oder ein
himmlisches Kind. Repräsentanten der Menschheit
erleben dessen Offenbarung. Belege für diese
verbreitete Tradition: Vision in Ez 1,26: »etwas,
das einem Throne gleichsah. Auf dem thronähnlichen
Gebilde war oben darauf eine Gestalt, die
einem Menschen glich.« Ferner: Vision des Menschenähnlichen
in Dan 7,13: »Ich schaute in den
Nachtgesichten, und siehe, mit den Wolken des
Himmels kam einer, der aussah wie ein Mensch
(Sohn eines Menschen). Er gelangte bis zu dem
Hochbetagten. Ihm verlieh man Herrschaft …«
In äth Hen wird der Menschensohn als Richter
vorgestellt, der auf seinem Thron sitzend die Völker
richten wird.
Im Neuen Testament dient diese Tradition dazu,
den himmlischen Ursprung Jesu und seine
künftige Richterfunktion zu bekräftigen. Dass
Jesus überhaupt Menschensohn genannt wird,
hängt mit seinem Ursprung und mit seiner erwarteten
Funktion zusammen.
Kapitel 2 17
Parallel zu Ez und Dan wird diese Tradition unter
persischem Einfluss in Kleinasien rezipiert
und umgeformt:
»Betreffs der Offenbarung des Lichtes jenes
verborgenen Sterns … und jeder einzelne von
uns sah wunderbare und verschiedene Visionen
… Und wir kamen, jeder einzelne von uns, um
zum Berg der Siege hinaufzusteigen und um
uns zu taufen in der Quelle der Reinigung …
Und wir sahen ein Licht in Gestalt einer Säule
von unaussprechlichem Licht, das herunterstieg
und über den Mysterien stehen blieb…, und
über ihm den leuchtenden Stern, von dessen
Licht zu sprechen wir nicht imstande waren …
und wir stiegen hinauf und fanden die Säule des
Lichtes vor der Höhle… und es näherte sich vor
unseren Augen…etwas wie die Hand eines kleinen
Menschen … und stärkte uns. Und wir nahmen
unsere Kronen und legten sie unter seine
Füße« (nach G. Widengren, Iranisch-semitische
Kulturbegegnung in parthischer Zeit, 1960, 71-
86, ähnlich im Opus Imperfectum in Matthaeum
PG 566,637f, vgl. die alte christliche Tradition
von der Geburt Jesu in der Höhle im ProtEvJak
und bei Justin; vgl. jetzt die Übersetzung der
Chronik von Zuqnin, auf die sich G. Widengren
bezieht, bei: B. Landau, Revelation of the Magi,
2010).
Da die Offb im Ganzen nach Ez aufgebaut ist,
besteht kein Problem, die Vision des Menschengestaltigen
nach 1,13-16 und den Berg nach
21,10 im Sinne der dargestellten Tradition von
der Erlösung durch den lichtvollen Messias zu
verstehen, die sich in dem lichtvollen Geschehen
auf dem Berg auswirkt.
Da es sich in Ez 1,15 und in Offb 1,13 um
einen »Sohn des Menschen« handelt, wird begreiflich,
dass das »kleine Menschenkind« nach
einigen Variationen des Mythos nichts weiter ist
als der sehr wörtlich verstandene »Sohn/Kind
eines Menschen«, und zwar ohne Namen.
Bei der Verklärung nach Mk 9 kommen diese
Elemente aus der Tradition zusammen: Berg,
Licht, begrenzte Zahl der Zeugen (die auf den
Berg hinaufgehen), die lichtverklärte Gestalt
eines Menschen; eigentlich (wenigstens im Vergleich
mit Ez 1; Offb 1) ist daher Mk 9 eineMenschensohn-
Vision. (Aber vom Gottessohn auf
dem Berg ist auch nach Lactantius die Rede.)
Besonderheiten in Mt 2
Nirgends sonst besuchen die Weisen/Astrologen
das Kind oder geleitet der Stern diese zum Fundort
des Kindes. Nur hier werden dem Kind von
den Weisen/Astrologen Gaben dargebracht, nirgends
sonst fallen diese ihm anbetend zu Füßen,
nirgends sonst wird auch gegen Ende der Erzählung
sorgfältig darauf geachtet, dass der Herrscher
dieWeisen nicht doch noch trifft. Die Magier
sind selbstständig handelnde Figuren geworden.
In den Parallelberichten geht es zwar auch
oft um Astrologie/Astronomie, aber die Astronomen
sind für den Herrscher nur die Quelle seiner
Kenntnis, sie gehen nicht selbstständig zu dem
erwählten Kind, um es zu verehren. Dass sie das
Kind anbeten, fehlt in den Parallelen von Abraham
und Mose, Jesus wird dadurch als Gottessohn
vor ihnen ausgezeichnet. Weil nur bei Matthäus
die Astronomen das Kind besuchen, sind
auch die Gaben, die sie mitbringen, samt ihrer
symbolischen Bedeutung typisch für Matthäus.
Während Frühjudentum und Neues Testament
skeptisch bis ablehnend gegenüber dem Traum
alsMittel der Offenbarung sind, ist er in Mt 2,12;
27,19 positiv bewertet – sicher im Kontext der
Hochachtung gegenüber der Heidenmission. –
Wie in der Passion Jesu heißt der Widersacher
»König Herodes« (hier: Herodes d.Gr., dort: Herodes
Antipas); Jesus wird mit dem Tod bedroht
und wunderbar errettet. Er ist der »Typus« des
leidenden und von der staatlichen Macht verfolgten
Gerechten, und zwar am Anfang und am Ende
seines Lebens. Das entscheidende Stichwort
aber für Matthäus ist die »Anbetung«, die Jesus
hier zuerst und dann noch öfter zuteil wird, und
zwar nur bei Matthäus. Denn er fasst die Gottessohnschaft
Jesu so auf, dass der eine und einzige
Gott in Jesus präsent ist wie in einem Tempel und
er demgemäß hier anzubeten ist. Das bedeutet
auch »Gott mit uns« nach 1,23: Weil Jesus da ist,
ist auch Gott bei den Menschen. Denn in ihm
und durch ihn wendet sich Gott den Menschen
zu, und zwar von Anfang an auch den Heiden.
Denn die Magier, die dem Christuskind die Geschenke
bringen, sind auch in den Parallelerzählungen
über Mose und Abraham stets Nichtjuden.
Schließlich: Nur bei Matthäus ist der Fundort
des neugeborenen Kindes ein besonderes Thema.
Denn um diesen Ort dreht sich die ganze Erzäh-
18 Das Evangelium nach Matthäus
lung, bevor es hier zur Anbetung kommt. Für
den Leser hat Betlehem Jerusalem als Heilsort ersetzen
können. Hier wird der Gottessohn gefunden.
Damit wird das Thema der Davidsohnschaft
aus Kap. 1 wieder aufgegriffen, denn Betlehem
ist die Stadt Davids. In Jerusalem sitzt Herodes,
und dort werden auch später die Feinde Jesu
wohnen. Denn Jerusalem hat nach der Auffassung
von Matthäus und Lukas alle Propheten ermordet,
und so wird es auch mit Jesus geschehen
(Mt 23,37; Lk 13,33). Jerusalem steht daher für
das abtrünnig gewordene Volk. Betlehem dagegen
bedeutet den Neubeginn des Heils gerade
aus der Stadt, die man für die unbedeutendste
hält (Mt 2,6). Aber so ist es ja mit Jesus auch: Er
ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben,
der aber zum Eckstein wurde (Mt 21,42). Wider
Erwarten wird das scheinbar Geringste zum
Größten. Das ist auch ein Stück pharisäischer
Weltanschauung, die sich besonders bei Matthäus
erhalten hat (Mt 5,19). Am Kleinsten entscheidet
sich alles. Matthäus setzt auf das Kleinste,
weil er ahnt, dass alles Große sowieso korrumpiert
ist, sonst hätte es – zu den Bedingungen
dieser Welt – nicht so groß werden können. So
steht Betlehem für den Neubeginn aus der Unschuld
des Hirtenidylls, genauso wie zeitgenössische
Propheten – Johannes der Täufer und andere
– einen radikalen Neubeginn aus der Wüste
versuchen. Denn die Wüste ist noch reines Land,
nicht befleckt von der Korruption der Geschichte.
Auch David hat in Betlehem noch keines seiner
Vergehen begangen. Von hier aus ist Neubeginn
möglich. Das Judentum dieser Zeit sucht
daher, so können wir feststellen, für das Programm
von Umkehr und Neubeginn Orte, die
für den Zauber des Anfangs stehen und von der
Korruption der Geschichte frei sind. Deshalb ist
Betlehem das, was für den Täufer dieWüste ist.
Dass es drei Männer waren, hat man nur aus
der Dreizahl der Gaben erschlossen; dass es Könige
gewesen seien, erschloss man aus der persischen
Kopfbedeckung, die man dem höheren
Gegenüber vor die Füße legte (vgl. Offb 4,10).
Die Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe
sind seit alters her symbolisch gedeutet worden:
Gold steht für das Königtum (Reichtum, Glanz,
Macht), Weihrauch für die Gottheit Jesu Christi
(vgl. die entsprechende Anbetung des römischen
Kaisers) und Myrrhe für das Leiden. Bis
heute wird Myrrhen-Tinktur als Mittel zur Reinigung
von Wunden gebraucht; die Anwendung
selbst ist schmerzhaft. Zur Platzierung der Myrrhe
in der Passion Jesu vgl. Mk 15,23; Joh 19,39;
das griech. Wort »smyrna« kommt von der Stadt
Smyrna (Offb 1,11; 2,8). Zu Gold und Weihrauch
vgl. schon Jes 60; dass die drei Männer
Könige waren, konnte man auch aus Jes 60 lesen,
denn es heißt dort in V. 3: »Völker wallen zu deinem
Licht und Könige dort zu deinem strahlenden
Lichtglanz.« Hier hat Gott also den Heiden
das Zeichen vom Himmel (!) gegeben, das er
seinem eigenen Volk verweigert hat (Mk 8,11f).
Die drei Gaben sind damit symbolische Vorzeichen
und gehören als solche in die Kindheitsgeschichten.
Die Gattung der symbolischen Vorzeichen
(Prodigien) gehört fest in den Ablauf
von Herrscherbiografien. In Jesus ist daher einer
erschienen, der Mensch, König und Gott zugleich
ist. Wenn dieser vorwegnehmend hier als
König der Heidenvölker und als Weiser aller
ihrer Weisen (denn Magier galten als gelehrt
und weise) dargestellt wird, dann nimmt er etwas
in Anspruch, was außer ihm in damaliger
Zeit nur einer tat: der Kaiser in Rom.
In Mt 2,6 wird das Zitat aus Micha 5 in seiner
Bedeutung umgedreht: Während es im hebräischen
Text heißt: »Du, Betlehem, bist die geringste
…«, macht Matthäus daraus: »Du, Betlehem,
bist keineswegs die geringste…« Doch wird der
Gesamtsinn dadurch nicht verfälscht. Der Sinn
des hebr. Textes ist: Obwohl du die geringste
bist…; der Sinn des griech. Textes: Weil du keineswegs
die Geringste bist, … – nämlich: Weil
du durch die Herkunft Davids geadelt bist. Zitate
dieser Art nennt man Reflexionszitate, weil der
Evangelist mit ihnen den Bericht im Lichte der
Schrift kommentiert und illustriert. Zitate dieser
Art aus dem Alten Testament finden sich vorzüglich,
aber nicht ausschließlich, im Evangelium
nach Matthäus.
Für die Historizität könnte sprechen: a) Über
Herodes d. Gr. wird auch sonst nichts Gutes berichtet.
– b) Die Beseitigung potenzieller Rivalen
durch Kindermord gehört zu den politischen
Üblichkeiten gerade des 1. Jh. n. Chr. Gerade für
dieses Jahrhundert wird wiederholt davon berichtet
(Livius, Sueton, Dio Cassius). – c) Im Unterschied
zur älteren Forschung ist davon auszugehen,
dass Sondergut einzelner Evangelisten
Kapitel 2 19
– darum handelt es sich hier – nicht einfach der
»Erfindung« des Redaktors zuzuschreiben sind,
sondern in der Regel auf dessen eigener überkommener,
spezifischer Tradition beruhen. –
d) Auch bei nur einmaliger Bezeugung (also hier
in Mt 2) ist bis zum Erweis des Gegenteils davon
auszugehen, dass die Evangelisten ihre Leser
nicht täuschen, sondern Historisches berichten
wollen. Es gibt noch genügend »Platz« im Leben
des Herodes, sodass er diese Tat sehr wohl vollbracht
haben kann. – Die Historizität dieses Berichts
auf Verdacht hin zu bestreiten überfordert
jede denkbare Kompetenz von Historikern.
Religionsgeschichtlich gesehen tritt neben die
»Gefährdung des Retterkinds« noch ein zweiter
Strang: Die Verehrung des persischen »Messias«
durch die Anhänger der persischen Religion.
Diese Tradition umfasst die Verehrung des als
Mensch erschienenen Lichtes in einer Höhle
durch Magier (hier haben die Darstellungen der
Anbetung Jesu in einer Höhle und die Aussagen
der Liturgie über das Licht zum 6.1. ihren Ursprung
(vgl. dazu K. Berger/C. Colpe, Religionsgeschichtliches
Textbuch zum NT, 1987, 114,
Nr. 180). Im bunten religiösen Milieu Antiochiens
bestand für den Evangelisten sicher die
Möglichkeit, sich über diese Auffassungen zu
orientieren.
Innerhalb der vier Evangelien gibt es das Wort
»König der Juden« nur und erst in den Passionsberichten,
so etwa in Mk 15,2 etc. Ausnahme ist
nur Mt 2,2. Denn hier geht es – wie bei den symbolischen
Gaben – gleichfalls um Prodigien, um
Vorzeichen für das kommende Geschick der
Hauptperson.
Mt 2,16-23: Kindermord und Rückkehr
Von »theologischer Geografie« spricht man,
wenn das auf einer Landkarte Verzeichnete
Punkt für Punkt und Ort für Ort eine sakrale
Bedeutung hat. Der Evangelist Matthäus entfaltet
dieses vor allem in den Kapiteln 2-4. Dadurch lesen
sich diese Kapitel wie ein frühes Pilgerhandbuch.
Jeder dieser heiligen Orte wird als solcher
mit einem »Reflexionszitat« begründet. So nennt
man Texte aus dem Alten Testament, die ein
Evangelist im Lichte ihrer neutestamentlichen Erfüllung
liest und die er in diesem Geschehen bestätigt
sieht. Er »reflektiert« darin die Erfüllung
des neutestamentlichen Geschehens mit Hilfe des
Alten Testaments. So begründet und reflektiert
der Evangelist Mt den Geburtsort Betlehem in
2,6 durch Micha 5,1. In Mt 2,15 reflektiert er Jesu
zeitweiligen Aufenthalt in Ägypten durch Hos
11,1; Num 23,22. In Mt 2,23 reflektiert er die Bedeutung
der Heimat Jesu in Nazaret mit einem
rätselhaften Zitat, das wohl auf die Nasiräer-Texte
in Ri 13,5 oder Num 6 zurückgeht. Und
schließlich wird in Mt 4,15 Jesu Auftreten in Kafarnaum
und im »Galiläa der Heiden« reflektiert
mit Jes 8,23; 9,1. – Auch gegen Ende des Lebens
Jesu wird der Evangelist die Topographie der Passionsgeschichte
entsprechend mit Schriftzitaten
verbinden, so Sion (21,5), den Tempel (21,13)
und den Acker des Töpfers für das Judasgrab in
27,9 f. Besonders zu Anfang des Evangeliums
werden die heiligen Stätten der Kindheit und
des Wirkens Jesu genannt: Betlehem, Ägypten,
Nazaret und Kafarnaum. Jede ist eine »Stadt
Jesu«. Der Ort am Anfang des Evangeliums entspricht
dem Schema der Biografie. Denn nächst
Eltern (Abkunft) und Ausbildung müssen die
»Wohnsitze« genannt werden, um eine Person
zu skizzieren. Die Offenbarung Gottes ist bodenständig.
Sie vollzieht sich nicht im luftleeren
Raum und irgendwie »rein geistig«, sondern wie
schon im Alten Bund (Sinai, Sion etc.) an heiligen
Orten. Damit wird ein Stück Schrifterfüllung
geleistet und Wallfahrtstheologie praktiziert.
Die Nennung der Stämme Sebulon und
Naftali in 4,12-14 erinnert daran, dass Matthäus
besonderen Wert auf die Zwölfzahl der Stämme
legt (19,28). Andererseits sind zwei der angegebenen
heiligen Orte heidnisch: Ägypten und Galiläa.
So wie der Evangelist auch sonst eine sorgfältige
Balance sucht zwischen Jesu Zuwendung
zu Juden und Heiden, so nennt er neben zwei typisch
jüdischen Orten (Nazaret und Betlehem)
zwei heidnische.
20 Das Evangelium nach Matthäus
Mt 2,19-23: Heimkehr nach Nazaret
Der Ortsname Nazaret ist im Alten Testament
nicht belegt. Das Zitat in Mt 2,23 kann sich nur
auf die Gruppe der Nasiräer beziehen. Das philologische
Problem entsteht daraus, dass Nasiräer
nicht Nazoräer sind, schon gar nicht aber Nazarener.
Nun wird in Mt 4,13 Nazaret mit dem
Wort Nazara benannt. Das gibt der Diskussion
über Nazaret eine neue Richtung: Nasaraioi ist
eine bei frühen östlichen syrischen und griechischen
Kirchenlehrern bezeugte Gruppe von
Heilern und Exorzisten. Sie könnte vorchristlichen
Ursprungs sein. Epiphanius (Haereses
29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Christus
und kannten Christus nicht.« So nennt er sie
(19.5) als jüdische Religionspartei neben Sadduzäern,
Essenern und anderen (vgl. mehr zu Mk
1,24). Im Aramäischen und Syrischen werden
die Christen mit scharfem s (Sade) nasraija geschrieben,
die Nasiräer dagegen mit weichem z
(Zain; nezira). Auch das spricht gegen die Herleitung
von den Nasiräern. Oder sind die Christen
von nasar (mit scharfem s) hergeleitet und
damit die Bewahrenden, Beobachtenden, also
die Observanten? Das JohEv würde das bestätigen
(Bewahren der Gebote Jesu, griech.: terein).
Auch das o wäre vom Partizip her zu erklären.
Und das käme auch der Textgestalt in Mt 2,23
nahe.
Mt 3,1 – 4,12: Taufe und Versuchung
Mt 3,13-17: Taufe Jesu
Besonderheiten bei Mt: Die Himmelsstimme am
Schluss ruft nicht: »Du bist mein Sohn«, sondern
sie erklärt den Umstehenden: »Dieser ist mein
Sohn, mein Geliebter und Auserwählter.« – Der
Leser des Matthäus-Evangeliums weiß schon von
der Kindheitsgeschichte her, dass Jesus Sohn
Gottes ist. Deshalb kann es bei der Taufe weder
um die Adoption (durch »Du bist…« wie bei
Mk, wie manche meinen) noch um die Einsetzung
(im Sinne des Amtsantritts oder der juristisch
verstandenen offiziellen Bestellung) zum
Sohn gehen. Vielmehr liegt die Gattung der Proklamation
vor: Das, was Jesus schon seit der
Empfängnis ist, wird nun öffentlich enthüllt
und allen kundgetan. Diesen Akt der Vorstellung
kennt man aus dem Herrscherritual (Vorstellung,
Präsentation). 3,16 ist eine »Epiphanie«
(plötzliches hilfreiches, rettendes Erscheinen
eines Gottes oder eben eines Herrschers). Die
Taufe Jesu ist eine mystische Erfahrung. – Daher
wird auch im judenchristlichen Ebioniten-Evangelium
die Taufe Jesu im Rahmen des Erstrahlens
eines großen, starken Lichts dargestellt
(Übers.: Berger/Nord, 983f).
So wie Matthäus uns die Taufe schildert, wird
darin ein politischer Anspruch erhoben. Proklamation
und Epiphanie meinen einen Gottkaiser
(und mehr), eben den, der am Schluss des Evangeliums
von sich sagen wird: »Mir ist alle Gewalt
gegeben im Himmel und auf der Erde.« Nach
3,15 will Jesus durch seine Taufe Gottes Forderung
nach Gerechtigkeit nachkommen. Im Klartext
heißt das: Gottes Gebote erfüllen. So wird
Jesus seine Bergpredigt verstehen, zu deren Beginn
er davon spricht, dass es ihm um die Erfüllung
des Gesetzes geht (5,17). Weil sie Gerechte
sind, werden die Christen verfolgt (5,10); ihre
Gerechtigkeit muss radikaler, durchdringender
sein als die der Pharisäer (5,20). Und wenn Jesus
in 21,32 seine gesamte Lehre als »Weg der Gerechtigkeit
« zusammenfasst, dann schließt er
auch hier Johannes den Täufer ausdrücklich mit
ein. So spricht er ja auch in 3,15 davon, dass »wir
alle Gerechtigkeit erfüllen« müssen. Im Hintergrund
könnte Ez 36,24-27 stehen (Gott gibt
Wasser und Geist, »dass ihr meine Forderungen
nach Gerechtigkeit erfüllt«. Nach Röm 8,3f wird
gerade an der Sendung Jesu auf Erden (und
nicht erst bei der Auferstehung) deutlich, dass in
ihm Gottes Geist wirkt zur Erfüllung des ganzen
Gesetzes. Deshalb ist bei Matthäus auch sonst
(28,19) und bei Paulus öfter (z.B. 1 Kor 12,13)
der Heilige Geist mit der Taufe verbunden.
In Mk 1,9f; Lk 3,21 fehlt der Dialog zwischen Johannes
und Jesus aus Mt 3,14 f. Bei Mk und Lk
wird stark die Vorbildfunktion Jesu für den Weg
jedes Christen betont. Das ist im MtEv und noch
stärker im JohEv anders. Bei Mt ist Jesus von Anfang
an wahrer Gott und wahrer Mensch. Von diesem
Standpunkt aus ist die Taufe durch Johannes
Kapitel 3 21
tatsächlich eher problematisch. Nach Mk wird
Jesus mitWasser und Geist getauft, wie es zur Zeit
des MkEv Standard war – nach Joh 1 wird Jesus
gar nicht getauft; denn im JohEv steht Jesus mehr
den Menschen gegenüber, als dass er ihnen auf
dem Weg vorangeht. Bei Mt, der Joh hier nahesteht,
muss die Taufe des Gottessohnes wirklich
gerechtfertigt werden. Sie gehört (vgl. Mt 21,32)
zum Weg der Gerechtigkeit dazu, weil jeder
Christ ausWasser und Geist getauft werden muss.
Dass es sich aber bei Jesus nur um eine Proklamation
handelt (»Dieser ist …«) und nicht um eine
Installation (»Du bist …«), das macht gerade hier
Sinn. Denn im Unterschied zu den Christen hat
Jesus nach Mt den Geist von Mutterleib an. Dennoch
ist Jesu Taufe ein Zeichen für alle Christen,
auch wenn im Ausnahmefall Jesu der Heilige
Geist in der Taufe nicht verliehen, sondern nur
publik gemacht wird.
Mt 4,1-11: Versuchung in der Wüste
Zur Versuchungsgeschichte im Ganzen: Im Rahmen
der Gattungsgeschichte gehen die Versuchungsberichte
in den drei ersten Evangelien
zurück auf den biografischen Topos der »Anfechtung
des Neubekehrten«, wie sie das Judentum
aus den Nacherzählungen des Lebens Abrahams,
Hiobs und anderer kennt und wie sie z.B.
für die Thessalonicher auch Paulus voraussetzt
(1 Thess 3). Nun ist Jesus kein Neubekehrter, sodass
ein Gattungstransfer vorliegt. Doch seine
Taufe wird offenbar als eine Art Berufung verstanden,
und die Grenzen zwischen Bekehrung
und Berufung sind tatsächlich unscharf. Im
MtEv ist die Taufe eine öffentliche Berufung.
Der Versuchungsbericht stellt die Echtheit der
Berufung und damit auch ihre inhaltliche Struktur
fest, indem er dieses Thema dialogisch entfaltet.
Dabei ist die tiefgreifende theologische
Erfahrung vorausgesetzt, dass Teuflisches und
Göttliches sich rein äußerlich sehr ähneln (vgl.
zur Theologie der Offb das Phänomen der Nachäffung).
Denn der Teuflische ahmt stets Gott
nach; deshalb kenne ich, was die Einleitung, den
Rahmen, betrifft keinen Versuchungsbericht,
der ohne die Gestalt des Teufels auskommt.
Eben deshalb ist eine präzise Unterscheidung
von Anfang an nötig. Auch im Corpus des Evangeliums
selbst wird ja der Verdacht geäußert,
Jesus stehe in Wirklichkeit auf der Seite des Teufels
(Mt 12,24-32).
Dass die Versuchung als schriftgelehrter Disput
geführt wird, ist einzigartig. Auffällig ist dabei,
dass Jesu Antworten alle aus Dtn 6-8 stammen.
Das Dtn ist übrigens – nicht zuletzt wegen
des Hauptgebotes in 6,4f – das (neben Jes, Ps,
Gen und Ex) auffällig häufig zitierte Buch im
Neuen Testament.
Inhaltlich geht es in der Versuchungsgeschichte
um zwei Themen: um die Frage des Nutzens der
Berufung für Jesus persönlich und um die Definition
von Gottes Reich, letztlich um das Gottesbild.
Zur ersten Frage: Wenn Jesus Steine in Brot
verwandelt, hat er sich selbst aus der durch die
Wüste gegebenen Situation des Hungers befreit.
Auch unter dem Kreuz werden die Menschen sagen:
Rette dich selbst, Arzt, hilf dir selbst. Und
Steine in Brot zu verwandeln, ist göttlich. Man
könnte die Speisungsberichte der Evangelien
auch so deuten. Doch Jesus nutzt seine Vollmacht
nicht zum eigenenWohlergehen. Genau das würde
ihn als teuflisch erweisen.
So wäre auch der Sturz von der Tempelzinne
ein Schauwunder zu eigenen Gunsten. (Jakobus,
dem Herrenbruder, Jesu Verwandtem, wird man
das später antun, ohne dass ihn Engel retten).
Die Steigerung gegenüber dem Brotwunder läge
darin, dass es beim Sturz um Leben und Tod ginge.
Auch beim Gang zum Kreuz rettet sich Jesus
nicht selbst aus dem Tod. Das muss ein anderer
tun. Darauf werden die Leser hier vorbereitet.
Die größte Steigerung schließlich ist die Weltherrschaft
mit all ihrem Glanz. Interessant ist,
dass der Teufel (!) sie zu vergeben hat (vgl. 2 Kor
4,3 f). Auch hier wäre die scheinbare Parallele zu
Gottes Reich ganz offenkundig. Daher die Entsprechung
von Mt 4,8 zu Mt 28,18.
Fazit: Jesus lehnt nicht nur die Ratschläge des
Teufels ab, er weist auch ein Dienst- und Anbetungsverhältnis
zurück. Soweit die grundsätzliche
Uneinigkeit zwischen Jesus und dem Satan.
Der Preis für all die angebotene Selbstbedienung
wäre ein Verrat an Gott.
Aber was wird positiv aus diesem Dialog für
Gottes Reich und den Gott Jesu Christi erkennbar?
Ist Gott etwa nicht aufMacht erpicht? Sollen
Verwandlungswunder (Steine in Brot) und Rettungswunder
(Bewahrung vom Sturz in den Tod)
22 Das Evangelium nach Matthäus
etwa nicht seineWege sein, die Herzen der Menschen
zu bekehren, und zwar für sich zu bekehren?
Ist die »Macht und die Herrlichkeit« nicht
sein wahres Thema? (Alle diese Elemente spielen
in der Kirchenkritik späterer Jahrhunderte stets
eine Rolle). Hat Jesus Gott falsch verstanden?
Die Brisanz und die Anstößigkeit der Versuchungsberichte
liegen genau darin: Gott verzichtet
auf das kurzfristig und sichtbar Hilfreiche.
Das überlässt er im Zweifelsfalle dem Satan.
Zumindest Brot und Rettung aus Abstürzen sind
doch wirklich hilfreich!Undwenn einer wie Jesus
(freilich unter Verzicht des Bekenntnisses zu
Gott) Chef der Weltregierung würde, wäre das
nicht gut? Könnte man dann nicht seine Ableugnung
des Glaubens an Gott geradezu als Zeichen
der Toleranz auch positiv werten? – Die Antworten,
die Jesus in diesem Dialog gibt, reichen bis in
die Theodizeefrage hinein. Denn alles Sichtbare
ist nur ein kleiner Teil der Herrschaft Gottes, ist
nur der nebensächliche Vordergrund. Und wie
auf der Bühne kann der Vordergrund aus Gründen
weitreichender Regierungsstrategie auch leer
bleiben oder schnell umdisponiert werden. Daher
sind sichtbare Veränderungen – und seien sie
auch noch so hilfreich – nicht (zwingende) Beweise
für diesen Gott. Die hat er nicht nötig. Mehr
Nahrung und mehr wunderbare Rettungen bleiben
im Zwielicht des Vordergrunds. Es wird nicht
gesagt, das Unsichtbare oder Innerliche sei das Eigentliche.
Gemeint ist etwas anderes: Gottes Regiment
und Willen sind nicht festzulegen auf das,
was »weltlichen« Nutzen bringt, schon gar nicht,
wenn der Preis die Ableugnung Gottes ist.
Jesus plädiert für drei Prioritäten: die des
Hörens auf Gottes Wort, die des Wartens auf
Gottes Eingreifen, wann und wie er es will, und
die Priorität der Anbetung. Mit diesen drei Prioritäten
kämpft Jesus für Gottes Reich. Es enthält
die Verheißung, dass es so für den Menschen am
besten sei. Alles andere ist Illusion, vergängliches
teuflisches Trugbild.
Die Gegenfrage: Was will der Teufel in diesem
Bericht? Durchaus dasselbe wie in der Versuchung
Mt 16,23, wo Jesus ihn erneut scharf zurückweist,
als er aus Petrus spricht: Da sieht der
Teufel den Sinn messianischer Existenz in einem
leidfreien Wohlergehen. Das ist auch das Thema
der Versuchungen in 4,3-7 (kein Hunger mehr,
keine körperliche Katastrophe mehr). Der Gerechte
aber muss leiden – das ist die unschöne
Schlussfolgerung, die sich aus Mt 4,1-11 und
16,23 nahelegt.
Die dritte Versuchung ist nur zu verstehen auf
dem Hintergrund des römischen Kaisertums im
1. Jh. n. Chr. Denn die Weltherrschaft liegt bereits
in den Händen eines Einzigen, des römischen
Kaisers. Und Jesus bestätigt der einzigen
und absoluten Großmacht seiner Zeit, ihr Selbstverständnis
sei teuflisch. Denn so ist jede Macht,
die ohne den Glauben an Gott auskommt. Gottes
Macht inklusive Gottes Messias sind nicht einzuplanen
in die Machtspiele der Welt.
Ähnliche Spannungen bestehen auch zum Rest
des Evangeliums, zu den Speisungsgeschichten
und zu Jesu Errettung aus dem Tod. Denn Gott
will auch ohne Wunder geglaubt werden. Er liefertWunder
nicht auf Anforderung oder auf Befehl,
sondern wann und wie er will. Gewiss heißt
es: »nicht vom Brot allein«. Jesus will beides geben,
Gottes Wort und Brot, der Teufel nur eines.
Wenn Jesus beides gibt, dann nur unter Respektierung
der Souveränität Gottes, nicht unter
dem Diktat des Nützlichen im Rahmen vergänglicher
»Werte«.
Theologiegeschichtlich ist das, was die Versuchungsgeschichten
bieten, zweifach einzuordnen:
einmal in die weisheitliche Tradition der
Kritik gegen jede Verabsolutierung der »Werte«
der Gesellschaft (Reichtum, Militär, »dumme«
Gesundheit). DieseWerte sind nur Spielmaterial,
nicht das Letzte. Zum anderen ist der Versuchungsbericht
bestimmt von demselben pneumatologischen
Dualismus, der auch in den Exorzismen
zutage tritt. Gottes Reich steht gegen das
Reich des Teufels, und Letzteres hat entgegen
dem Augenschein jetzt ein Ende. So wird es deutlich
aus Mt 12,28; Lk 11,20 und aus dem Freer-
Logion Mk 16,14: »Da verteidigten die Jünger ihr
Verhalten und sagten: ›Unsere Welt ist ohne Gesetz
und ohne Glauben. Sie steht unter der Herrschaft
Satans. Der Satan verhindert durch böse
Dämonen, dass wir Menschen den wahren und
wirklichen Gott und seine Kraft erfassen.‹ Sie baten
den Messias: ›Lass die Zeit offenbar werden,
in der deine Gerechtigkeit herrscht.‹ Und der
Messias erwiderte: ›Das Maß der Jahre, in denen
Satan herrschen kann, ist schon voll. Doch anderes
Schreckliches kommt auf euch zu.