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Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert
Humboldt
oder Wie das Reisen das Denken verändert




Oliver Lubrich

Matthes & Seitz
EAN: 9783751803373 (ISBN: 3-7518-0337-8)
525 Seiten, hardcover, 14 x 22cm, März, 2022

EUR 34,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Als Alexander von Humboldt am 5. Juni 1799 an Bord der „Pizarro“ Europa verlässt, verändert sich sein Blick auf die Welt. Seine Forschungsreise beginnt mit einer offenen Frage: wie lässt sich der Mensch in seiner Umwelt verstehen? Während Humboldt das Wissen über die Welt im Namen der Forschung verändert, verändert die Welt, die er entdeckt, auch ihn. Seine Schriften sind Zeugnisse für die bewegende Kraft der Begegnung. Sie zeichnen das Bild eines reisenden, der durch das Reisen ein anderer wird.
Rezension
„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ Dieses Zitat zur Bedeutung des Reisens stammt von Alexander von Humboldt (1769-1859), für den das Auge das „Organ der Weltanschauung“ bildete. Der international bekannten Naturforscher war ein modernes Universalgenie: Geograph, Geologe, Klimatologe, Astronom, Botaniker, Zoologe, Historiker, Künstler, Naturphilosoph, Ethnologe, Schriftsteller, Bergsteiger und Weltreisender. Berühmtheit erlangte er zu Lebzeiten durch seine Reisen, insbesondere durch seinen ersten großen Forschungsaufenthalt von 1799-1804 in den amerikanischen Tropen. Während seiner 70 Jahre umfassenden Publikationstätigkeit verfasste er nicht nur 25 Bücher - zu den bekanntesten zählen seine „Ansichten der Natur“ (1807/1849) und sein Hauptwerk „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ (1845-1862) -, sondern auch ungefähr 1000 unselbstständige Schriften. In diesen weltweit veröffentlichten Aufsätzen, Reiseberichten, Reden, Artikeln, Essays, Gutachten, Rezensionen oder Briefen zeigt sich der „internationalste Publizist seiner Zeit“ (Oliver Lubrich/Thomas Nehrlich) ebenso als politischer Denker: als Kosmopolit, Demokrat, Befürworter der Gleichstellung von Juden, als Gegner der Sklaverei und des Rassismus.
Entscheidend für die Konstituierung und Entwicklung der Weltanschauung Humboldts waren seine Reisen. Dieses zeigt differenziert unter Heranziehung des umfangreichen Œuvres des Naturforschers und unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes Oliver Lubrich (*1970) in seiner Monographie „Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert“ auf. Erschienen ist das umfangreiche Buch bei Matthes & Seitz Berlin. Der Professor für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Bern zählt zu den international führenden Humboldt-Forschern. Zusammen mit seinem wissenschaftlichen Assistenten Oliver Nehrlich hat er die exzellente zehnbändige Edition „Sämtlicher Schriften“ Alexander von Humboldts zu verantworten. In seinem neuen Buch untersucht Lubrich präzise die Wechselwirkung zwischen der Biographie, den Reisen, dem zeichnerischen und graphischen Werk sowie den Schreibweisen des Naturforschers. Humboldt konstatiert nämlich selbst: „Alles ist Wechselwirkung.“ Der Wissenschaftler experimentierte in seinen Schriften permanent mit der Sprache. Daher fokussiert Lubrich in seinem Buch auch die rhetorischen Stilmittel des Universalgenies, wie Metaphern und Metonymien. Überzeugend kann er belegen, dass schon Humboldt eine postkoloniale (Reise-)Poetik entwickelte. Sein Hauptwerk „Kosmos“ identifiziert Lubrich als ersten und „originellste[n] Beitrag der deutschen Literatur zur postkolonialen Theorie“(S. 273). Durch die Untersuchungen des Germanisten erhält man einen sehr guten Einblick in die Genese des Humboldtschen Œuvres, insbesondere in sein Denken. Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Ethik, Geographie, Geschichte oder Biologie werden durch Lubrichs gut verständlich geschriebenes Buch dazu eingeladen, Leben und Schriften des letzten Universalgenies im Fachunterricht oder in fächerübergreifenden Projekten angemessen zu würdigen.
Fazit: In seiner Monographie „Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert“ nimmt Oliver Lubrich jede und jeden mit auf eine faszinierende Entdeckungsreise durch das Gesamtwerk des Universalgenies. Man erhält durch die Lektüre des Buches eine hervorragende Einführung in den erschließenswerten „Humboldt-Kosmos“.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Alexander von Humboldt: Von einem, der auszog, die Welt zu erforschen, und dabei ein anderer wurde
Von 1799 bis 1804 reist Alexander von Humboldt nach und durch Amerika, später nach Russland und bis an die Grenze des chinesischen Kaiserreichs. Was seine Reisen begleitet, ist das Schreiben. Aus seinen veröffentlichten, aber auch unveröffentlichten Schriften entsteht in Oliver Lubrichs Untersuchung ein Bild des Reisenden selbst: neugierig und trotz Vorurteilen stets bereit, genau diese an seiner Umgebung zu überprüfen. Das macht seine Aufzeichnungen bis heute so brisant: Sie sind das Zeugnis einer Wissenschaft, die versucht, der Welt so nah wie möglich zu kommen, so genau wie möglich von ihr zu berichten und auch das eigene Scheitern unbedingt produktiv zu machen. Während Humboldt das Wissen über die Welt im Namen der Forschung verändert, verändert die Welt, die er entdeckt, auch ihn: Da ist der missglückte Aufstieg auf den Chimborazo, die unüberwindbare Felsschlucht, die sich in einem wahnwitzigen Verfahren im Text niederschlägt. Da sind der Orientalismus und die Antikisierung der überseeischen Kulturen – erfahren, die Humboldt dekonstruiert. Und da ist die Zensur seiner Schriften im zaristischen Russland, die ihn dazu zwingt, verdeckte Formen für die Erzählung einer Reise unter politischem Druck zu finden, die brandaktuell sind. Immer mehr erscheint Humboldt nicht nur als Schreibender, sondern auch als Geschriebener. In jedem Buch wagt er einen anderen Entwurf, um Objektivität und Subjektivität neu zu vermitteln. Seine intellektuelle Biografie zeigt, dass in der Veränderung selbst der größte Erkenntnisgewinn liegt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
12 Aufbruch
(La Coruna, 1799)
14 Das letzte Licht
18 Tagebuch, Reisebericht, Literatur
21 Fragen an Humboldt
23 Leben, Reisen, Schreiben
24 Verehrung, Verurteilung, Veränderung
Erstes Kapitel
26 Spaltenkunde: Die Mythologie des Chimborazo
(Tagebuch, 1802)
27 Überhöhungen
33 Erinnerungen
33 Brief an den Bruder
34 Ansichten statt Aussichten
37 Bergbilder
44 Zwei Versuche
56 Spaltenkunde
61 Entzauberungen des Entzauberen
Zweites Kapitel
68 Reiseliteraturals Experiment: Indigene Ästhetik
(Vues des Cordilleres, 1810-1813)
69 Mehrfache Lesbarkeit
78 Der Reisebericht als Ausstellung
82 Die Öffnung der Form
86 Zwischen Schlegel und Canetti
88 Humboldt experimentiert
94 Der Widerspruch bleibt
97 Die Büste Alexanders
Drittes Kapitel
100 Schmerzen, Krankheiten und Metaphern:
Die Physiologie des Reisens
(Relation historique, 1814-1831)
101 Der Körper des Reisenden
111 Der Körper Amerikas
116 Die Körper derAmerikaner
Viertes Kapitel
128 »Überall Ägypter«: Amerikanischer Orientalismus
(Relation historique, 1814-1831)
131 Orientalische Metaphern
134 Verstehen heißt Vergleichen
136 Wirtschaftsräume
137 Spracherwerb
139 Begriffe vom Orient
141 Orientalische Obsession
144 Metonymie
147 Das Ende der Orientalisierung
148 Vertauschungen
151 Umwertungen
Fünftes Kapitel
156 »Wie antike Bronzestatuen«: Transatlantischer Klassizismus
(Relation historique, 1814-1831)
158 Amerika in der Antike
161 Wissen, Verstehen, Vergleichen
164 Metapher oder Metonymie
168 Reise durch die Zeit
170 Translatio Imperii
174 Automatische Ausschmückungen
176 Der Urwald als zeitloser Raum
178 Das griechische Paradigma
181 Verschiedenheit und Vieldeutigkeit
183 Verschiebungen und Verkehrungen
Sechstes Kapitel
186 Im Reich der Mehrdeutigkeit: Die Dialektik der Aufklärung
(Essai poiiticjue sur l’ile de Cuba, 1826)
188 Annäherung
190 Ankunft
197 Sprachzerfall
205 Zwischenräume
Siebentes Kapitel
208 Die andere Reise: Politische Klimatologie
(Asie centrale, 1843)
218 Schreiben zwischen den Zeilen
223 Versuche, den Orientalismus zu vermeiden
225 Räume und Grenzen
228 Dreiecke
230 Die Entdeckung des Klimawandels
234 Auf dem Weg zur Evolution
236 Wildes Denken und die Dialektik des Kolonialismus
238 Das Ende des Reiseberichts
241 Prismatische Optik
243 Satirische Echos
248 Vom Tagebuch zum Kosmos
Achtes Kapitel
250 Das Wuchern der Imperien: Koloniale Wissensgeschichte
(Kosmos, 1845-1862)
251 Die Bedeutung der »Composition«
257 Tropenprosa
261 Die Kolonialgeschichte des Wissens
263 Alexanders Expedition
265 Der »Einfall der Araber«
267 Metaphern des Kolonialismus
271 Postkoloniale Poetik
Neuntes Kapitel
274 Im Labyrinth der Sinne: Die Synästhesie der Tropen
(Ansichten der Natur, 1849)
275 Die Sinne des Reisens
281 Der Sinn der Sinne
286 Die Lesbarkeit der Natur
290 Die Nacht in den Tropen
Zehntes Kapitel
298 Von der Zeichnung zum Erlebnisraum: Bilder und Medien
(1797-1853)
302 Reisebilder
307 Die Gestalt der Ruinen
309 Kartographische Kollateraleffekte
314 Humboldts Tierleben
318 Botanik in Bewegung
321 Landschaften des Wissens
324 Denkbilder
331 Die Medien des Reisens
332 Die Vermessung der Welt
336 Guckkasten und Laterna magica
338 Vom Museum zum Erlebnisraum
343 Humboldts Bilder - Bilder Humboldts
Elftes Kapitel
346 Der andere Kosmos: Die ganze Welt in tausend Schriften
(1789-1859)
348 Der Meister der kleinen Formen
349 Der internationalste Publizistseiner Zeit
352 Vom disziplinären zum postdisziplinären Forscher
354 Vom Wissenschaftler zum Public Intellectual
356 »Mein Leben sucht in meinen Schriften«
Zwölftes Kapitel
358 Humboldt-Effekte: Räume der Weltliteratur
(1809-2005)
361 Schauplätze der Gründungsmythologie: Cumanä, Chimborazo, Magdalena
363 Landschaften der Kulturtheorie: Pampa, Sertäo, Anähuac
366 Räume der Poetik: Amazonas, Orinoco, Macondo
368 Das Humboldt-Delirium
Schluss
370 Dynamiken des Reisens
(2019)
371 Poetiken des Reisens
374 Der Schlussstrich
376 Siglenverzeichnis
377 Anmerkungen
479 Literaturverzeichnis
516 Abbildungsverzeichnis