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Höhenrausch Das kurze Leben zwischen den Kriegen
Höhenrausch
Das kurze Leben zwischen den Kriegen




Harald Jaehner

Rowohlt
EAN: 9783737100816 (ISBN: 3-7371-0081-0)
556 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 15 x 22cm, August, 2022

EUR 28,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Deutschland 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Die Inflation bringt die überlieferten Werte ins Wanken. Alles soll von Grund auf anders werden: die «Neue Frau», der «Neue Mann», «Neues Wohnen», «Neues Denken». Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen erobern die Rennpisten und Tennisplätze, gehen abends alleine aus, schneiden sich die Haare kurz und denken nicht ans Heiraten. Unisex kommt in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Büro und Großstadtverkehr, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der «Entwertung aller Werte», der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Als das Geld knapper wurde und die Zukunft düsterer, offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten.

Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.

Harald Jähner, Jahrgang 1953, war bis 2015 Feuilletonchef der «Berliner Zeitung», zugleich Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien das Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde und monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand; es wurde in zahlreichen Ländern veröffentlicht, darunter USA und England, wo es für den renommierten Baillie-Gifford-Preis nominiert wurde. «The Times» schrieb: «Eine bewegende, faszinierende Lektüre. Jähner versteht es meisterhaft, die tragischen, schrecklichen, komischen und aufbauenden Geschichten derer zu erzählen, die dabei waren.»
Rezension
Mit seinem vielbeachteten Buch "Wolfszeit - Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955" (9783499633041) hatte der Autor 2019 eine große Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt, mit dem jetzt erschienenen Werk "Höhenrausch - Das kurze Leben zwischen den Kriegen" folgt nun quasi Vergleichbares für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Ende des Kaiserreichs kommen zwar viele Deutsche mit der Niederlage und der ersten Deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, nicht gut zurecht und fremdeln damit, andererseits beginnt zugleich ein Siegeszug befreiter Lebensweisen, der sich vor allem in den Groß-Städten manifestiert und dort gefeiert wird, allen voran in Berlin: die «Neue Frau», der «Neue Mann», «Neues Wohnen», «Neues Denken» und es scheint ein kultureller Siegeszug zu werden, als Mitte der 1920er Jahre die Demokratie halbwegs gefestigt erscheint und auch der wirtschaftliche Aufschwung einsetzt. Es ist aber nur ein sehr kurzer "Höhenrausch", ein sehr kurzes befreites Leben, mit dem ein anderer teil der Bevölkerung wenig anzufangen weiß und spätestens mit dem weltweiten Wirtschaftskollaps der Börsenkrise 1929 abgehängt wird. Die weitere Entwicklung verläuft zielstrebig ins Ende der Demokratie und den Faschismus mit Hitlers Machtergreifung 1933.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Das neue Leben 11

1. Als der Krieg nach Hause kam 19

Die ersten Tage 21
Der unselige Pakt 29
Im Felde unbesiegt, aber bezwungen von Frauen 39
«Du tanzt Dir doch vom Leibe nicht die Schmach» 42
«Tagelöhner des Todes» 51
Fronterlebnis und Heimatelend 57
Staatsdiener im Fadenkreuz 65
Ebert, der Verachtete 68

2. Wenn das Geld stirbt 75

Der Verlierer zahlt alles 77
Nur das Heute zählt 82
Inflation, neue Freiheit und Sittenverfall – Otto Dix & Co. sehen die Republik als Großbordell 95
Die Wende: 20 Pfennig = 120 Milliarden Mark 101
Man raste wieder, nun aber aufwärts 107

3. Extremes Wohnen 113

Im Bauhaus-Haus 115
«Man wohnt eigentlich wie ein Schwein, furchtbar unüberlegt» 123
Tür an Tür – Neues Bauen für städtische Massen 128
Gebauter Rausch: Art déco 134
Das Flachdach als Gewissensfrage. Der Heimatschutzstil 141

4. «Schicksale hinter Schreibmaschinen» – die Trägerschicht der Neuen Zeit 149

Morgens um acht bevölkern seltsame Wesen die Straßen 151
Auch im Sitzen schnell: Die stillen Dramen des Büros 157
«Hübsch will ich bleiben, so lange es eben geht» 163
Intellektuelle im Büro – Gastspiele aus der Oberschicht 169

5. Prekäre Balance: Ebert stirbt, Hindenburg kommt 177

Posthum besteht der Reichspräsident den Würdetest – und die Republik gleich mit 179
Der Held von Tannenberg in Schwarzrotsenf 183
Flaggenkrieg am Ostseestrand 187

6. Verkehr als Staatsbürgerkunst 191

«Nie zu nahe noch zu fern»: Die Stadt und das Taktgefühl 193
Stadt ohne Menschen 206
Flaneure und Autofahrer 209
«Denkendes Erz» und singende Autos 212
Auf und davon – die Frau am Steuer 218

7. Die Charleston-Jahre 227

«Man zahlt, und du musst tanzen» 229
«Shimmy shake!» 233
Irgendwo aus Afrika 242
Shisha-Pfeifen im Haus Vaterland, ein Büro im Moka Efti 252

8. Selbstoptimierung: Die Perfektionierung der Freizeit und der Körper 263

Lunapark 265
Im Kino: Sichtbare Stimmen 270
«Dichter sollten boxen» 277
Blaues Licht – auch Leni Riefenstahl emanzipiert sich 290
«In mein’ Verein werd ich erst richtig munter» 294
Kampf, gegen wen auch immer 300

9. Zwischen Frau und Mann – Geschlechterzweifel 305

«Der modegerechte, hundsmagere Halbknabe» 307
Politik mit der Haarschere: Der Bubikopf 310
Rittmeister mit Busen – die kulturelle Aneignung des Monokels 315
Starke Frauen, verunsicherte Männer 320
Stiernacken, Erzengel, Charakterköpfe und Hohlbirnen – zur Physiognomie der Weimarer Republik 327

10. Die Arbeit geht aus 337

In New York verspekuliert man sich, und der Stein kommt ins Rollen 339
Die schwarze Null: Haushaltssanierung um jeden Preis 343
Ein Garnfabrikant aus Delmenhorst gibt den Rest – die Talfahrt ist nicht mehr aufzuhalten 347
Arbeitslose und Ausgesteuerte 352
Arbeit und Heimat: Das Land unermüdlichen Fleißes 356
Arbeitslose träumen nicht von Revolution 358
«Schaffendes und raffendes Kapital» – verletzte Arbeiterehre und Antisemitismus 363

11. Die Stimmung sinkt, der Geschmack passt sich an –Kulturelle Konflikte in der Depressionszeit 371

«Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder»: Höchstleistungen trotzen der Krise 373
Herrschaft des Minderwertigen: Alles Pofel, Ramsch und Plunder? 379
Optimismuskampagnen für das Konsumklima 391
Der Aufstand der Provinz: Agrarromantik und Ökologie 394
Das Ende des Charleston 405

12. «Abend über Potsdam» – Das Ende einer Kommunikationsgemeinschaft 413

Gastmahl vor Staffelei 415
Links die «Weltbühne», rechts «Die Tat» 423
Bitte möglichst rücksichtslos: Hochmut und Unterwerfungslust 429

13. Einsame Eliten – Kabinettspolitik gegen Populismus 435

Das Vorspiel: Staatsstreich in Preußen. Von Papen putscht die Landesregierung aus dem Amt 437
Das letzte Aufgebot. Der Netzwerker Kurt von Schleicher und die Querfront 442

14. Das Ende: Reichskanzler Hitler 453

Jubel und Terror 455
Vom Kanzler zum Führer aus «herzzerbrechender Zerrissenheit» 461
Die Demokratie schafft sich ab 466

Epilog 475

Anhang 487

Anmerkungen 489
Literatur 528
Personen 546
Dank 555
Nachweis 556