lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Glück  Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2010
Glück


Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2010

André Holenstein, Ruth Meyer Schweizer, Pasqualina Perrig-Chiello, Peter Rusterholz, Christian von Zimmermann, Andreas Wagner, Sara Margarita Zwahlen (Hrsg.)

Verlag Paul Haupt
EAN: 9783258076898 (ISBN: 3-258-07689-8)
293 Seiten, paperback, 16 x 23cm, 2011, 25 Abb., 1 Tab., 2 Übers.

EUR 41,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
«Glück ist immer das, was man dafür hält.» Diese Aussage Ingrid Bergmans erfasst die Vielschichtigkeit des Wortes «Glück» und die enorme Breite und Individualität der Glückserfahrungen. Die deutsche Sprache unterscheidet nicht zwischen Glück als äußerem Geschehen im Sinne von «luck» und Glück als Gemütszustand im Sinne von «happiness». Eine inhaltliche Bestimmung ergibt sich nur durch zusätzliche Bezüge, wie z.B. auf verschiedene Zeithorizonte oder Systeme wie Individuum, Familie, Gesellschaft. Zudem müssen wir fragen: Wie verändern sich Begriffe und Ansprüche im Verlauf der Geschichte? Wer ist verantwortlich für Glück und Unglück - Gott, das Schicksal, der Zufall, die Gesellschaft? Oder sind die Einzelnen wirklich ihres Glückes Schmied und damit womöglich dem Zwang zum Glück ausgesetzt? Sind wir fähig, unserem Leben im Glück wie im Unglück einen Sinn zu geben?



Aus dem Inhalt

Vorwort: Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Ulrike Tanzer: Über das Glück in der Literatur

Alexander Berzin: The Sources of Happiness According to Buddhism

Cornel Zwierlein: Glück und Sicherheit in der Politik der Aufklärung und in der Gegenwart

Jürg Kesselring: Zum Glück brauchen wir unser Gehirn! Neurologische Aspekte zum Glück

Willibald Ruch und René T. Proyer: Positive Psychologie: Zum Glück geboren?

Christian Alt und Andreas Lange: Glück aus der Perspektive der Kinder

Hans-Jörg Uther: Hans im Glück. Vom Glück im Märchen

Josef H. Reichholf: Glück der Verliebtheit - eine evolutionäre Spurensuche

Klaus Schneewind: Familienglück - Familienleid

Bruno S. Frey und Alois Stutzer: Ökonomische Analyse des Glücks: Inspirationen und ­Herausforderungen

Pasqualina Perrig-Chiello: Glücklich oder bloss zufrieden? Hintergründe und Fakten zum Paradoxon des Wohlbefindens im Alter

Andreas Wagner: Alt und lebenssatt - Alttestamentliche Vorstellungen über das Glück im Leben

Annemarie Pieper: Was braucht der Mensch zum Glück?
Rezension
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die interdisziplinäre Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2010 zum Thema Glück zurück. Das Collegium generale hat die Aufgabe, den fächerübergreifenden, interdisziplinären Dialog innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende und Studierende zu fördern und in Veröffentlichungen und Veranstaltungen wie den Ringvorlesungen für Mitglieder aller Fakultäten und eine breitere Öffentlichkeit exemplarische Beispiele der wissenschaftlichen Arbeit der Universität zu vermitteln. - Ziele der diesem Band zugrundeliegenden Vorlesungsreihe waren, den diffus und undifferenziert verwendeten Begriff «Glück» zu untersuchen, seine Vielfalt und seinen Bedeutungswandel aufzuzeigen und auch vergessene Aspekte wieder ins Bewusstsein zu rufen. Die Beiträge gruppieren sich - nach eher grundlegenden Themen am Anfang und einer Einführung zum Thema «Glück im Lebenslauf» - entlang lebensgeschichtlicher Abschnitte. Eine zusammenfassende Übersicht aus philosophischer Perspektive schließt die Reihe ab.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Herausgeberinnen und Herausgeber 7

Zugänge

Über das Glück in der Literatur
Ulrike Tanzer 17

The Sources of Happiness According to Buddhism
Alexander Berzin 41

Glück und Sicherheit in der Politik der Aufklärung und in der Gegenwart
Cornel Zwierlein 53

Zum Glück brauchen wir unser Gehirn!
Neurologische Aspekte zum Glück
Jürg Kesselring 83

Glück im Lebenslauf

Positive Psychologie: Zum Glück geboren?
Willibald Ruch und René T. Proyer 97

Kindheit
Glück aus der Perspektive der Kinder
Christian Alt und Andreas Lange 121

Hans im Glück
Vom Glück im Märchen
Hans-Jörg Uther 143

Mittleres Alter
Glück der Verliebtheit – eine evolutionäre Spurensuche
Josef H. Reichholf 169

Familienglück – Familienleid
Klaus A. Schneewind 193

Ökonomische Analyse des Glücks:
Inspirationen und Herausforderungen
Alois Stutzer und Bruno S. Frey 215

Höheres Alter
Glücklich oder bloss zufrieden?
Hintergründe und Fakten zum Paradoxon des Wohlbefindens im Alter
Pasqualina Perrig-Chiello 241

Alt und lebenssatt – Alttestamentliche Vorstellungen über das Glück im Leben
Andreas Wagner 255

Epilog

Was braucht der Mensch zum Glück?
Annemarie Pieper 273

AutorInnen und HerausgeberInnen 289




Vorwort
André Holenstein, Ruth Meyer Schweizer, Pasqualina Perrig-Chiello,
Peter Rusterholz, Christian von Zimmermann, Andreas Wagner,
Sara Margarita Zwahlen
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die interdisziplinäre Vorlesungsreihe des
Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2010 zum Thema
Glück zurück.
Die Glücksthematik hat in der refl exiven Moderne zweifellos Hochkonjunktur.
Dies zeigt die multimediale Werbung, in welcher die unterschiedlichsten
Produkte − technische Geräte ebenso wie Bekleidung oder Nahrung − publikumswirksam
als glückbringend angepriesen werden. Und dies zeigt vor allem
auch die vielfältige Rezept- und Sachbuchliteratur zum Thema mit ihren hohen
Aufl agen und Verkaufszahlen. Nicht zuletzt bemächtigen sich auch verschiedene
Wissenschaftszweige des Themas. Die praktische Philosophie, die selbstverständlich
auf eine Tradition seit den Anfängen philosophischen Denkens
verweisen kann, erfährt einen neuen Aufschwung, die positive Psychologie
vermag sich zu entfalten, sogar in der Ökonomie gewinnt die Glücksforschung
neuerdings einen viel beachteten Stellenwert. Nicht zuletzt befasst sich auch
die jüngere Neurologie mit entsprechenden Fragestellungen. Recht früh schon
wandte sich auch die empirische Sozialforschung im internationalen Rahmen
dem Glücksthema zu. Hintergründe dieses Booms von Glücksfragen und Versuchen,
eine sinnstiftende Antwort auf sie zu fi nden, dürften in der modernen
Privatisierung und Säkularisierung und deren Folgen zu suchen sein: der
Herauslösung des Menschen aus normativen Denk- und Handlungszwängen,
der Erfahrung von hoher Komplexität und auch Kontingenz sowie den daraus
folgenden Anforderungen an das Handeln unter Unsicherheit. Auch in
der Umbruchzeit der französischen Aufklärung gewann die Glücksfrage eine
hervorstechende Bedeutung. In all diesen Zusammenhängen geht es um das
Glücklich-Sein. Im Unterschied zu zahlreichen anderen Sprachen braucht die
8 Die Herausgeberinnen und Herausgeber
deutsche Sprache bekanntlich sowohl für Glücklich-Sein wie für Glück-Haben
die gleiche Wortwurzel. Sie bringt damit nicht zuletzt zum Ausdruck, dass
beide in einem inneren Zusammenhang stehen. Glück-Haben erschöpft sich
nicht in Los- oder Lotterieglück und auch nicht in glückbringenden Amuletten,
die auch heute, wie seit jeher, ihre zahlreichen Anhänger fi nden. Welche Erfahrungen
heutige Menschen dem glücklichen situativen Zufall (im Sinne von:
ich habe Glück gehabt) zuschreiben, bleibt eine noch offene Forschungsfrage.
Auch bei den Beiträgen dieses Bandes geht es vorrangig um das Glück im
Sinne von Glücklich-Sein. Im Unterschied zu den bestehenden Veröffentlichungen
greift diese Reihe breit und tief aus. Neben Philosophie, Soziologie,
Psychologie, Neurologie und Ökonomie kommen auch Literatur- und Geschichtswissenschaft,
Evolutionsbiologie sowie Theologie zur Sprache. Zudem
wird versucht, zwischen allgemeinen «Zugängen» und einem «Epilog»
das Hauptaugenmerk auf die Glücksfrage entlang der lebensgeschichtlichen
Abschnitte Kindheit – mittleres Alter – höheres Alter zu richten.
Zugänge
Die Germanistin Ulrike Tanzer verweist zunächst darauf, dass Glück in der
Literatur nicht als ein Motiv wie andere zu sehen sei, da es sich dabei um eine
anthropologische Kategorie handle: jeder Mensch strebe unabhängig von Zeit
und Raum nach Glück. Andererseits stellt sie fest, dass in der deutschen Literaturwissenschaft
von einer eigentlichen «Glücksskepsis» gesprochen werden
müsse, die in der Literatur selbst durchaus ihre Spiegelung fi nde. Wie aber
Glück doch auch in der deutschen Literatur in unterschiedlichen Genres immer
wieder zum Thema wird, und wie sich ein vielfältiger Diskurs über Glück im
hoch komplexen inhaltlichen Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel
in ihr zu entfalten vermag, macht die Autorin anhand von zahlreichen Beispielen
insbesondere aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert deutlich.
Der Orientalist und buddhistische Philosoph Alexander Berzin gibt eine
Einführung in das buddhistische Konzept von Glück. Glück defi niert sich darin
einerseits als eine subjektiv erfüllende und gewinnbringende Erfahrung.
Andererseits defi niert sich Glück als Gefühl, das ein wesentliches Manko hinterlässt,
wenn es abhanden gekommen ist. Auf lange Sicht gilt konstruktives
Vorwort 9
Verhalten als Hauptursache für Glück, das heisst, sich allen Handelns, Denkens
und Sprechens aufgrund negativer Emotionen zu enthalten. Kurzfristig macht
aus Sicht des Buddhismus glücklich, sich vorrangig den Problemen der Mitmenschen
zuzuwenden und diese lösen zu helfen. So lassen sich auch die eigenen
Probleme mit der nötigen objektiven Distanz angehen. Zusätzlich bringen
Meditationsmethoden Gemüt und Verstand zur Ruhe, und damit werden die
natürliche innere Wärme und das innere Glück offenbar.
Der Historiker Cornel Zwierlein fragt nach dem Verhältnis von Sicherheit
und Glück, bzw. – in der Terminologie der betreffenden Epoche – Glückseligkeit,
hauptsächlich in der deutschsprachigen Staatslehre und Staatspraxis seit
dem 18. Jahrhundert. Dabei geht er zunächst auf die private «Glückseligkeit
und ihre Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert ein als dem Widerpart zur
staatlichen Seite». Bei der letzteren geht es zunächst um die Genese der Verschränkung
von Sicherheit und Glück, die am Beispiel der Medizinalpolicey
und der kameralistischen Versicherungen verdeutlicht werden, dann um das
Verhältnis von Sicherheit und Glück im Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts.
Abschliessende Überlegungen gelten der Frage, inwieweit es sich mit der Erweiterung
des Sicherheitsbegriffs auf internationaler Ebene in der heutigen
Zeit um eine Rückkehr der Glückausrichtung von Politik zu alten Konzepten
handelt.
Der Neurologe Jürg Kesselring betont einleitend, dass es sich auch beim
Glück um eine subjektive Gefühlsbefi ndlichkeit handle, und dass diese zusammenhänge
mit eigener Leistung und Aktivität. Worin die Einzelnen ihr
Glück suchen, das verändert sich mit dem zeitlichen und räumlichen Kontext.
Auch Glücksemotionen spielen sich im Gehirn ab, wobei bestimmte Neurotransmittoren
aktiv sind. Die Hauptthese von Jürg Kesselring lautet, dass ein
Glückszustand einem Gleichgewichtszustand entspreche, bei dem durch lernende
Aktivität sowohl Unter- wie Überforderung vermieden wird. Er verweist
dabei auf die Flowtheorie von M. Csikszentmihalyi. Deutlich distanziert
er sich von Annahmen moderner Neurowissenschaftler, die dem Menschen
einen freien Willen absprechen. An Fallbeispielen aus seiner grossen klinischen
Erfahrung demonstriert er, wie Defi zite glückbringend kompensiert werden
können.
10 Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Glück im Lebenslauf
Die Persönlichkeitspsychologen Willibald Ruch und René T. Proyer gehen von
dem «dramatic turn» in der Psychologie aus, das heisst der wieder stärkeren
Hinwendung der psychologischen Forschung zu den «positiven Aspekten
menschlichen Erlebens und Verhaltens…, wie Hoffnung, Weisheit, Kreativität
oder Mut..» oder eben Glück. Der «dramatic turn», initiiert in den USA vor
etwas mehr als zehn Jahren, hat unter dem Titel der Positiven Psychologie seither
eine nicht zu überschätzende Wirkung zu entfalten vermocht. Dabei geht
es, ausgehend von einer Klassifi kation von Charakterstärken und universellen
Tugenden, vor allem um deren Förderung in der lebenslangen menschlichen
Entwicklung durch positive Lebensstile, positive mitmenschliche Beziehungen,
positive Vorbilder oder auch positive Institutionen. «Ziel des Aufbaus von
Stärken ist es, das subjektive Wohlbefi nden (sujective well-being) zu steigern
und gegen psychologische Beeinträchtigungen zu schützen». Anhand einer
Fülle von empirischen Untersuchungen diskutiert der Autor viel versprechende
Erkenntnisse und offene Fragen.
Kindheit
Die Soziologen Christian Alt und Andreas Lange verweisen zunächst darauf,
dass die neuere Kindheitsforschung sich explizit der Perspektive der Kinder
zuwende und nicht länger darauf vertraue, Erwachsene könnten zuverlässig
auch über das Wohlbefi nden, das Glücklich-Sein, der Kinder Auskunft geben.
Dieser Perspektivenwechsel ist umso wichtiger, als Kinder in viel grundsätzlicherer
Weise ihrer Umwelt «ausgeliefert» sind als die Erwachsenen. Daraus
ergibt sich auch die Verantwortlichkeit der Erwachsenenumwelt, für das Glück
der Kinder das Möglichste zu tun, diesen aber auch zu zeigen, dass das Streben
nach höchstem Glück seine Grenzen fi nden muss. Breite Untersuchungen
zeigen erfreulicherweise, dass ein Grossteil der Kinder grundsätzlich glücklich
ist. Basis dafür ist die Familie. Das Wohlbefi nden in der Schule erfährt mehr
Einschränkungen. Als sehr gut erweist sich das Verhältnis zu den «Peers»,
während für manche Kinder der Aktionsradius im Wohnumfeld nicht genügend
gross ist. Aus Studien mit Kindern lassen sich auch wichtige praktisch-politische
Lehren ziehen.
Vorwort 11
Eine ganz besondere Rolle in der und für die kindliche Entwicklung kommt
den Märchen zu. Der Literaturwissenschaftler und Erzählforscher Hans-Jörg
Uther zeigt an vielen Beispielen, dass in den meisten Märchen im Unterschied
zu Sagen ein optimistischer Grundton vorherrscht. «Helden und Heldinnen
überwinden alle Schwierigkeiten, sind dabei jedoch nicht allein, sondern geleitet
und unterstützt durch Zufälle und Glück» – im Sinne des angelsächsischen
«luck». «Das Glück bedeutet nicht nur inneres Wohlbefi nden» – «happiness» – ,
«sondern äussert sich im sozialen Aufstieg und materiellen Zugewinn.» Der
Autor zeigt auf, wie sich die Glücksvorstellungen in Volkserzählungen im Laufe
der Zeit wandeln und stellt dann das atypische Märchen von Hans im Glück,
eine literarische Erfi ndung um 1800, die vor allem in der Grimmschen Fassung
bis heute ihre Popularität textlich und bildlich nicht verloren hat, in den
Mittelpunkt seiner Betrachtungen.
Mittleres Alter
Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf macht sich auf eine evolutionäre Spurensuche
von Verliebtheit, Glück und Liebe, «ohne diese Phänomene entzaubern
zu wollen». Es geht ihm dabei um «jenes Glück, das kein Zufall ist, sondern auf
der Fähigkeit beruht, es zu empfi nden, weil wir unserer Natur nach darauf eingerichtet
sind». Unmittelbar lassen sich auch Glückszustände physiologischmedizinisch
messen, doch sagt dies nichts aus über ihr Zustandekommen.
Glück empfi nden können zweifellos auch Tiere, doch sind bei diesen auch
Glücks- und Lustzustände sehr viel stärker funktional eingebunden. Ausführlich
zeichnet der Autor die Entstehungsgeschichte des Menschen hin zum aufrechten
Gang, der Nacktheit und dem im Vergleich zur Körpergrösse übergrossen
Gehirn, zum «Läuferaffen» und «Arbeitstier», zur Frühgeburt und dem
langen extrauterinen Lernprozess; ebenso hin zu einem auch nahrungsbedingt
neuen Lebensstil, der um die Partnerfamilie zentriert ist, in dem das «Recht
der Priorität» gilt, Sex von der unmittelbaren Fortpfl anzung abgekoppelt ist
und neue Kulturtechniken entwickelt werden können und müssen.
Der Psychologe Klaus A. Schneewind geht von zwei Fragen aus: 1. Machen
Kinder ihre Eltern glücklich? und 2. Machen Eltern ihre Kinder glücklich?
Er kann anhand reichen deutschen Datenmaterials – dessen Ergebnisse mit
12 Die Herausgeberinnen und Herausgeber
schweizerischen weitgehend übereinstimmen – zeigen, dass beide Fragen
grundsätzlich zu bejahen sind, dass bei beiden aber auch Trübungen sichtbar
werden. So geht es «ca. einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen mit und
in ihrer Familie weniger gut», als dies wünschenswert wäre. Daraus folgen die
weiteren Fragen: «Was aber bedeutet ‹glücklich sein› – und zwar für Eltern…
wie für Kinder? Und was können Eltern zu dem beitragen, was sie selbst und
ihre Kinder in die Lage versetzt, ein ‹glückliches Leben› zu führen?» Der Autor
beantwortet diese Fragen mit dem Hinweis auf den Schweizer Philosophen
Wilhelm Schmid und dessen Überlegungen zur Lebenskunst als einer Individualethik
mit einem existentiellen Imperativ, der zu einem sinnvollen Leben
führe. Sein Fazit schliesst mit konkreten «Ratschlägen» zur Glücksförderung
von Eltern und Kindern.
Die Ökonomen Bruno S. Frey und Alois Stutzer stellen den jüngsten, jedoch
auch besonders öffentlichkeitswirksamen wissenschaftlichen Zugang
zur Glücksforschung vor. Dass Ökonomen sich mit der Glücksfrage befassen,
ist keineswegs selbstverständlich, wird dadurch doch auch das Menschenbild
des homo oeconomicus als höchst beschränkt entlarvt. Bei der ökonomischen
Glücksforschung «geht es um Fragen, inwiefern Wirtschaftswachstum,
Arbeitslosigkeit und Infl ation, aber auch institutionelle Faktoren wie die Ausgestaltung
demokratischer Entscheidungsprozesse, das individuelle Wohlbefi
nden beeinfl ussen.» Die Annahme, wirtschaftliche Aktivität sei ein Selbstzweck,
wird verworfen. Ziel auch der Wirtschaftspolitik müsse es sein, die
individuelle Wohlfahrt zu erhöhen. Ihre empirischen Untersuchungen basieren
die Ökonomen bisher vor allem auf Erhebungen zur Lebenszufriedenheit.
Anhand einer Vielzahl bereits vorliegender Resultate lässt sich aufzeigen, wie
vielversprechend der neue Ansatz in der Ökonomie ist.
Höheres Alter
Die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello geht zunächst in
einem «terminologischen Exkurs» näher auf die unterschiedlichen Konzepte
Glück, Lebenszufriedenheit und Wohlbefi nden ein: «Glück als Erfüllung»,
«Lebenszufriedenheit als rationale Einschätzung des eigenen Lebens bzw. gewisser
Lebenssituationen» und Wohlbefi nden als multidimensionales Kons-
Vorwort 13
trukt, das sowohl «emotionale wie rationale (kognitive) Komponenten hat»
und sich besonders gut auch als Instrument in der Gerontologie eignet. Zahlreiche
Untersuchungen zeigen, dass trotz zwingender altersassoziierter Einbussen
«die meisten alten Menschen» sich «gar nicht so unglücklich» fühlen, wie
vielfach angenommen wird. Die Aufl ösung dieses Wohlbefi ndensparadoxons
liegt in Selbstregulationsprozessen, wie vor allem dem Kontrollüberzeugungssystem.
Daraus folgt, dass «Wohlbefi nden … primär eine Frage der Einstellung
zum Leben», eine Frage der Lebenskunst sei, die lebenslang gelernt werden
müsse und könne. Vertieft wird diese Lernanforderung hin zu einem sinnvollen
Leben an den fünf Grundmustern «psychohygienischer und krisenprophylaktischer
Haltungs- und Handlungsweisen» von Viktor Frankl.
Der Alttestamentler Andreas Wagner fragt nach dem geglückten Alter in
der besonderen historischen Welt der hebräischen Bibel, weil dabei auch «Auffassungen
und Wertvorstellungen…, die bis heute die Vorstellungen zum Alter
der auf dem Alten Testament gründenden Religionen …prägen», zum Ausdruck
kommen. Anhand von vielfältigen Textstellen zeigt er auf, dass im Alten
Testament meist drei Generationen unterschieden werden. Alt ist dabei, wer
in die reifen Jahre gekommen ist. Zu bedenken ist natürlich, dass die durchschnittliche
Lebenserwartung in dieser Zeit tief war. Die bekannte symbolische
Überhöhung von Altersangaben herausragender Persönlichkeiten verweist u.a.
auf die Hochachtung gegenüber dem Alter. Deutlich wird im Alten Testament
auch, dass Alter wegen der schwindenden Kräfte mühselig sein kann. «Das
grösste Glück ist, das Lebensziel… Tod zu erreichen: nach einem gottgefälligen
Leben in der Welt alt und lebenssatt sterben» zu können.
Epilog
Die Philosophin Annemarie Pieper verweist einleitend auf die Tatsache, dass es
zum Menschen gehört, nach Glück zu streben, und dass dieses Streben auch
legitim ist, dass es aber keinen Konsens darüber gibt, was «Glück an sich selber
ist» und wie man es erreichen kann. Es muss dies eine «Sache der persönlichen
Entscheidung» bleiben. Wer den heute besonders eindringlichen Werbestrategien
verfällt, «verzichtet auf die Freiheit», in lebenslangen Lernprozessen «seinem
Leben selbst seinen ganz persönlichen Sinn zu geben». Philosophischen
14 Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Glückstheorien hingegen kann eine Orientierungsfunktion zukommen. Die
Autorin selbst wählt ein Raster der Unterscheidung zwischen «einem Glück des
Kopfes, einem Glück des Herzens und einem Glück des Bauches», die sich «mit
bestimmten Menschenbildern verbinden», die sie in ihrer Beschränktheit im
Einzelnen ausführt. Geglücktes Leben kann nur gelingen, wenn der Organismus
sich sinnhaft zu einem Ganzen zusammenfügt. «Einer allein kann nicht
glücklich sein unter lauter Unglücklichen.»
Bern, im März 2011 Die Herausgeberinnen und Herausgeber