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Gegenwartskultur 130 Stichwörter
Gegenwartskultur
130 Stichwörter




Ralf Schnell (Hrsg.)

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476021700 (ISBN: 3-476-02170-X)
200 Seiten, paperback, 12 x 19cm, August, 2006

EUR 12,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Von Happening bis Hypertext. Die wichtigsten Phänomene der Gegenwartskultur seit 1945 wie 68er, Black Music, Comic, Event, Fernsehen, Fotografie, Historikerstreit, Körperkunst, Literaturbetrieb, Multimedia, Political Correctness, Video, Werbung und Wohnkultur werden informativ aufgeschlüsselt. Das ABC zum Mitreden.
Rezension
Dieses Lexikon stellt sich gezielt den Phänomenen unserer Gegenwartskultur (seit 1945) und schließt damit in der Tat eine Lücke, die durch die langen Bearbeitungszeiten von Lexika und Enzyklopädien in der Regel entstehen. Kultur ist dabei nicht auf die sog. Hochkultur fixiert, sondern weit gefasst und umschließt auch neuere Phänomene der Medienästhetik, Digitalität, Kulturinstitutionen und Alltags- und Popkulturen. Und so finden sich denn hier Stichworte, nach denen man andernorts vergeblich suchen wird wie z.B. Arte povera, Beutekunst, CD-Rom, Dekonstruktion, Esskultur, Feature, Graffiti, Hypertext, Interkulturalität, Kulturmanagement, Linguistic Turn etc. bis hin zu Yuppie und ZERO. Die "Metzler kompakt"-Lexika bieten dem Verlag wie dem Leser gleichermaßen großen Nutzen; sie basieren auf einem voluminöseren Lexikon des Verlags, aus dem ausgewählte Artikel übernommen werden. Dem Verlag gelingt damit ein Angebot desselben Materials in einem anderen Preis-Segment, der Leser kann in kostengünstiger Form auf qualitativ hochwertige Lexikon-Beiträge in Taschenbuch-Format zurückgreifen (je 12,95 pro Band bei ca. 300 S.). - Die Vorzüge der großen Metzler Lexika gelten - mit den inhaltlichen Abstrichen - auch für dieses Kompaktlexikon: präzis formuliert und kompetent verfasst. - Dieses Buch basiert auf: Ralf Schnell (Hrsg.), Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, VI, 565 S., Gebunden, Preis: EUR 19,95 / CHF 31,00, ISBN: 3-476-01622-6, ISBN: 978-3-476-01622-5, Erschienen am: 12.10.2000, Verlag J.B. Metzler, Preisvorteil: vorher Euro 29,90 jetzt nur Euro 19,95. Angesichts dieses geringen Preisunterschieds würde ich dann allerdings doch zu der gebundenen Ausgabe mit deutlich mehr Artikeln raten.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Gesellschaftsphänomene und Kultur seit 1945
Aus Literaturbetrieb, Musik, Digitale Medien u. v. m.
Begriffe wie Amerikanisierung, Erlebnisgesellschaft und 68er

Ralf Schnell, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/Germanistik, Universität Siegen, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienforschung, Universität Siegen
Inhaltsverzeichnis
basiert auf:

Ralf Schnell (Hrsg.)
Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart
Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945
VI, 565 S., Gebunden
Preis: EUR 19,95 / CHF 31,00
ISBN: 3-476-01622-6
ISBN: 978-3-476-01622-5
Erschienen am: 12.10.2000
Verlag J.B. Metzler
Preisvorteil: vorher Euro 29,90 jetzt nur noch Euro 19,95

Alle Begriffe, und Ausprägungen der Gegenwartskultur und der Klassischen Moderne
Zu vielen übergreifenden Themen wie Amerikanisierung, Erlebniskultur, 68iger und Selbsterfahrung

Artikel von A - Z

Leseprobe:

68er, abkürzende Bezeichnung für die
Generation, die Träger der Studentenrevolte
der Jahre 1967–69 war. Obwohl
die 68er ein internationales Phänomen
waren, sollten die politischen und kulturellen
Besonderheiten in den jeweiligen
Ländern berücksichtigt werden.
Während die Proteste in den USA –
Studentenunruhen in Berkeley, antirassistische
Demonstrationen schwarzer
Bürgerrechtler – Ende der 60er Jahre
ihren Höhepunkt bereits überschritten
hatten, konnte sich im Einflussbereich
des Warschauer Pakts allein die Tschechoslowakei
während des Prager Frühlings
für kurze Zeit aus der Umklammerung
durch den Sowjetkommunismus
lösen. In der Bundesrepublik, in der
eine große Koalition aus CDU und SPD
an der Macht war, forderte die APO
(,Außerparlamentarische Opposition’)
eine konsequentere Auseinandersetzung
der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit.
In Frankreich und mit Einschränkung
auch in Italien, also in jenen
Ländern des Westens, in denen einflussreiche
Arbeiterparteien existierten,
weitete sich die Studentenrevolte zum
Generalstreik der Arbeiter und Angestellten
aus. Ende Mai 1968, als Präsident
de Gaulle überraschend das Land
verließ, schien in Paris eine Revolution
in greifbare Nähe zu rücken. – Vor dem
Hintergrund einer in den 60er Jahren
prosperierenden Wirtschaft stellen sich
die Ereignisse jedoch als unkoordinierte
Kulturrevolte gegen die Werte der Elterngeneration
dar. So sind auch die
Nachwirkungen der antiautoritären
68er-Bewegung weniger in den flüchtigen
politischen, als vielmehr in den
langfristigen kulturellen Veränderungen
spürbar. In der Geschichtswissenschaft
und der »Sozialen Bewegungsforschung
« (Gilcher-Holtey) rücken zunehmend
die unvorhersehbaren und
zufälligen Momente in den Vordergrund.
Die Jahreszahl 1968 als Chiffre
unterschiedlicher Teilbewegungen und
ambivalenter Motive, häufig auch als
Synonym für den Mentalitätswandel in
den 60er Jahren insges., wird auf diese
Weise entmythisiert. Bewertungsversuche,
die solche Widersprüche reflektieren,
anstatt die Legenden der nostalgischen
Erinnerungsliteratur fortzuschreiben,
entgehen der ideologischen
Einseitigkeit: der Fixierung auf Erfolg
oder Misserfolg der Revolte. Paradox ist,
dass gerade die utopischen Ansprüche,
die mit dem Pragmatismus der Alten
Linken, der Oppositionsparteien und
Gewerkschaften nicht zu vermitteln waren,
die Voraussetzungen für kulturelle
Veränderungen schufen. Deshalb sollte
nicht übersehen werden, dass es wohl
nie zur Herausforderung des status quo
gekommen wäre, wenn sich die Studenten
und ihre Leitfiguren D. Cohn-Bendit
und R. Dutschke auf begrenzte, reformorientierte
Ziele beschränkt hätten.
Ihr Einsatz für Selbstverwirklichung
und selbstbestimmtes Sexualverhalten
schuf in den Folgejahren ein Klima der
Toleranz für die Emanzipation der
Frauen und für die Rechte von Homosexuellen.
Wie häufig in Revolten und
Revolutionen – von 1789 bis 1989 –
erkannten freilich die Akteure in dem,
was sie auf den Weg brachten, ihre Absichten
nicht mehr wieder. Einen Ausspruch
B. Brechts aufnehmend, der Kapitalismus
verwandle das ihm injizierte
Gift in sein eigenes Rauschmittel, könnte
man sagen: Die 68er haben dafür
gesorgt, dass der kulturelle Liberalismus
den wirtschaftlichen Liberalismus eingeholt
hat. Sie haben die schon 1967
von G. Debord als »spektakulären Kapitalismus
« bezeichnete Medien- und Erlebnisgesellschaft
vorbereitet. In Abgrenzung
zu den damals wiederbelebten
kommunistischen Utopien prägte M.
Foucault den Begriff der »Heterotopien
« und fasst damit Phänomene wie
äGlobalisierung, Medialisierung und
die Überlagerung heterogener Orte und
Zeiten zusammen – Tendenzen, die das
utopische Projekt der 68er längst eingeholt
haben.
Während bereits Pariser Studentengruppen
wie die »Wütenden« ihre Slogans
vom Dadaismus und Surrealismus
entlehnt hatten (»Es ist verboten, zu
verbieten«), folgten Künstler und Theatergruppen
der situationistischen Parole
»l’imagination au pouvoir!« (»Die
Phantasie an die Macht!«). Sie setzten
sich für eine Verschmelzung von Kunst
und Leben außerhalb der bürgerlichen
Kulturinstitutionen und für eine Erweiterung
und Intensivierung der sinnlichen
Wahrnehmung ein. Der Aufstieg
des Fernsehens zum dominanten Massenmedium,
das der 68er-Bewegung
und ihrer Gegenkultur eine beobachtende
Öffentlichkeit verschaffte, stürzte
in der Bundesrepublik die Literatur und
ihren Markt vorübergehend in eine Legitimationskrise.
Hinzuweisen ist auf
die im Umkreis der Studentenbewegung
entstandene Literatur, die Lyrik von E.
Fried, F. C. Delius und D. Biga, die Mai-
Romane in Frankreich, die Pop-Collagen
R.D. Brinkmanns und die Sozialreportagen
E. Runges (Bottroper Protokolle
1968) bis hin zur literarischen Verarbeitung
der enttäuschten Illusionen in
den Nach-68er-Romanen: P. Lainés L’irrévolution
(1971), P. Schneiders Lenz
(1973), U. Timms Heißer Sommer
(1974), P.P. Zahls Die Glücklichen
(1979) und M. Houellebecqs Les particules
élémentaires (1998). Doch fanden
seit Anfang der 60er Jahre die produktivsten
Experimente im Film und auf
dem Theater statt. Die Theatergruppen
von P. Brook und J. Grotowski, das
»Living Theatre« J. Becks, A. Mnouchkines
»Théâtre du Soleil«, H. Nitschs
»Orgien-Mysterien-Theater« und nicht
zuletzt die spontan gegründeten Amateur-
und Straßentheater erprobten ein
von A. Artauds Theater der Grausamkeit
ausgehendes Körper-Theater, das
direkt auf die Nervenzellen der Zuschauer
einwirken sollte. In der Bundesrepublik
bezogen sich die Regisseure auf
Brecht und Piscator und machten im
Dokumentartheater politische Hintergründe
transparent, etwa die brutale
Kriegführung der amerikan. Truppen in
Vietnam (P. Weiss’ Vietnam-Diskurs,
1968). Die Trennung zwischen Schauspielern
und Publikum war in den Augen
der 68er ein Spiegelbild der Zuschauerdemokratie.
Die festgelegten
Rollen in der Familie und an der Universität
(»Unter den Talaren, der Muff
von 1 000 Jahren«, lautete ein berühmtes
Transparent) sollten durch Improvisation,
Spontaneität und die rituelle
Erfahrung des eigenen Körpers aufgehoben
werden. Die Ambivalenz der
68er-Formel, Kunst müsse unmittelbar
politisch wirksam sein, zeigt sich bei
Künstlern wie J.-J. Lebel, der Protestakte
gegen die Gesellschaftsordnung
schlechthin zur Kunst erklärte, oder J.
Immendorff, der auf eine Leinwand den
Satz »Hört auf zu malen!« malte. Auch
die Filmemacher der Nouvelle Vague,
des Neuen Deutschen Films und des
New British Cinema nahmen die äintermedialen
Experimente dieser Zeit
auf. Die Filmproduktion wurde als Modell
eines kollektiven Werks herausgestellt,
für das kein Autorsubjekt mehr
allein verantwortlich zeichnet. Die in
den historischen und mentalitätsgeschichtlichen
Analysen noch viel zu wenig
beachteten Filme von J.-L. Godard,
J. Rivette, R.W. Fassbinder, K. Reisz und
J. Cassavetes entwerfen schon früh ironische,
paradoxe und mehrdeutige Zeit-
Bilder. In Godards Filmen La Chinoise
und Week-end erscheinen die jugendlichen
Revolteure bereits in der Geburtsstunde
der Revolte, im Jahr 1967,
widersprüchlich, weil ihnen die Distanz
zu den übernommenen Rollen und Vorbildern
entgleitet. Auch M. Antonionis
Film Blow up (1966), vor der Kulisse des
swinging London gedreht, nimmt die
surrealen und karnevalesken Aspekte
der 68er-Ereignisse vorweg. Die Verquickung
von Kunst und Engagement,
ästhetischer und politischer Demonstration,
die Medienkombinatorik und
die Genremischungen erfordern eine
2 68er
noch zu schreibende integrierte Kulturund
Kunstgeschichte der 60er Jahre, die
auch Kleidungsstile, Videokunst, Performance,
Rockmusik und die im Free
Jazz erreichte Auflösung harmonischer
Vorgaben berücksichtigen müsste.
Lit.: M. L. Syring (Hg.), Um 1968:
konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft
(1990). – I. Gilcher-Holtey (Hg.),
1968 – vom Ereignis zum Gegenstand
der Geschichtswissenschaft (1998). –
Cahiers du Cinéma, Cinéma 68, numéro
hors-série (1998).
M.Lo.
Agitprop (Kurzwort aus ›Agitation‹
und ›Propaganda‹), im 20. Jh. die massenwirksame
politische Beeinflussung
durch den Einsatz auch künstlerischer
Mittel, und zwar in sozialistisch-antikapitalistischer
Orientierung. – Die von
Lenin maßgeblich entwickelte Verbindung
zielte mit der Propaganda mehr
auf eine (langfristige) Verbreitung parteioffizieller
Anschauungen, mit der
Agitation mehr auf eine (kurzfristige)
Handlungsanweisung in bestimmten
gesellschaftlichen Situationen. A. war in
den sozialistischen Staaten kulturpolitisch
institutionalisiert (der Begriff
selbst wurde dort seit den 60er Jahren
weniger gebraucht). Solche Vorgaben
bestimmten auch die A.-Bewegung in
der Weimarer Republik, zusammen mit
Einflüssen aus dem sowjetrussischen
Proletkult: Traditionen des sozialdemokratischen
Arbeitertheaters und des Laienspiels
wurden gebündelt und umfunktioniert
zum proletarisch-revolutionären
A.-Theater, in Abkehr vom
bürgerlichen Kulturbetrieb. Exemplarische
Spielszenen wechselten mit statistisch-
dokumentarischen Informationen
(samt Bild- und Schrifttafeln) und
mit chorischen Aufrufen zur unmittelbaren
Aktion (samt unterstützender
Musik). Die Wirkung war entscheidend
durch Mobilität und Variabilität bedingt:
durch Aufführungen abseits der
etablierten Spielorte und durch Anpassungen
der Texte an die jeweils aktuelle
Problemlage (einige Namen von A.-
Truppen: Das rote Sprachrohr, Die
Trommler – 1. Deutsche Truppe von Arbeiterschauspielern,
Kolonne Links, Spieltrupp
Südwest). – Nach der Zerstörung
durch den Faschismus wird dieses Modell
in den westlichen Ländern während
der 60er Jahre wiederaufgenommen,
nun aber ausdrücklich gegen alle kulturell
und politisch herrschenden Institutionen.
Das Straßentheater der antiautoritären
Bewegungen erneuert den
stark mimisch-gestischen Darstellungsstil
voll grotesk-satirischer Übertreibungen
und verbindet wieder das belegende
Zitat mit dem Appell zur eingreifenden
Umsetzung. Theatertruppen solcher
Gegenöffentlichkeit sind z.B. in
den USA die San Francisco Mime Troupe
und das Teatro Campesino, in der Bundesrepublik
Deutschland das Theaterkollektiv
Zentrifuge, die Kollektive Rote
Rübe und Das Rote Signal. Kunstmittel
der A. gehen auch in das zunächst bühnengebundene
politische Theater ein
(z.B. Peter Weiss, Gesang vom Lusitanischen
Popanz) und bestimmen zudem,
über den Protestsong, einen Teil der
Politischen Lyrik der Zeit (z.B. Dieter
Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt).
Bei allen neueren Formen dieser operativen
Kunst bleibt aber die Wendung an
wirklich anwesende und sich letztlich
beteiligende Zuhörer und Zuschauer
das entscheidende Kriterium: A. als appellative
Demonstration und Aktion.
Lit.: A. v. Bormann, Politische Lyrik
in den sechziger Jahren. In: M. Durzak
(Hg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart
(1971). – D. Herms/A. Paul,
Politisches Volkstheater der Gegenwart
(1981). – B. Büscher, Wirklichkeitstheater,
Straßentheater, Freies Theater
(1987).
K.H.H.
AIDS (Akronym für engl. Acquired Immune
Deficiency Syndrome = erworbenes
Immunschwächesyndrom), seit
AIDS 3

1982 offizielle Bezeichnung für eine
durch Infektion mit HIV (Human Immuno
Deficiency Virus) bedingte Verminderung
der körperlichen Abwehrfähigkeit
gegenüber Krankheitserregern,
die sog. opportunistische Krankheiten
mit häufig tödlichem Ausgang
zur Folge hat. Trotz der Fortschritte in
der Entwicklung lebensverlängernder
Therapien gilt A. bis heute als unheilbar.
– Um die Implikationen von A. für die
Kultur der Gegenwart zu erfassen, ist zu
berücksichtigen, dass die ›neue‹, als tödlich
geltende Krankheit Gegenstand einer
interdiskursiven Konstruktion ist
und mit Bedeutungen befrachtet wurde,
die weit über die ohnehin unsicheren
medizinischen Tatsachen hinausgehen.
Aufgrund der Unklarheit über Herkunft,
Verbreitung, Übertragungsweisen,
Krankheitsverlauf und Therapiemöglichkeiten
gestaltete sich der Diskurs
über A. als Arbeit unterschiedlicher
Spezialdisziplinen (Medizin, Biochemie,
Immunologie; Politik, Recht,
Ethik, Sozialwissenschaften; Kunst etc.)
an einer epistemologischen Lücke. Diese
Offenheit begünstigte, dass verschiedenste
aktuelle Dispositionen auf das
Thema übertragen werden und A., häufig
als »postmoderne Seuche« bezeichnet,
zum Gegenstand zeitdiagnostischer
und kulturkritischer Zuschreibungen
werden konnte. Als ›Zeichen, das uns
etwas sagen will‹, wurde A. mit unterschiedlichen
Sinnzuweisungen befrachtet,
was Anlass zu der Diagnose einer
»epidemic of signification« (P.A.
Treichler) bot. Zu den einschlägigen Topoi,
auf die sich eine Reihe kultureller
Produktionen reflexiv beziehen, gehören:
A. als Strafe (Gottes oder säkularisierter
Instanzen wie ›natürliche Selbstregulierung‹)
für Perversion, falschen
und/oder zuviel Sex; als Dekadenzphänomen,
das nach der ›Permissivität‹ der
60er und 70er Jahre für einen backlash
einsteht; als Zivilisationskrankheit, die
an ökologische Kosten des technologischen
Fortschritts erinnert; als soziale
Krankheit, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten
ins Organische übersetzt;
als Memento mori, das insbes. industrialisierte
Gesellschaften mit ihrer Todesverdrängung
konfrontiert, u. a. – Der
Diskurs über A. erweist sich als Schauplatz
von Grenzverhandlungen, wo
stellvertretend eine Reihe anderer gesellschaftlicher
Probleme diskutiert werden.
Maßgeblich für die Etablierung einer
auch politisch effizienten »Logik des
Epidemischen« (L. Singer) ist die Unterscheidung
zwischen dem Eigenen und
dem identitätsbedrohenden Fremden.
Das verdeutlicht die Konzeptualisierung
von A. als ›Krankheit der Anderen‹, in
der Rede von »Risikogruppen« (in westlichen
Gesellschaften v. a. Homosexuelle
und Benutzer intravenöser Drogen) sowie
in diversen Ursprungshypothesen,
die die Herkunft des Virus z.B. in Afrika
oder in den biochemischen Waffenlabors
des jeweiligen politischen Gegners
lokalisieren. Die sexuelle Übertragbarkeit
von HIV hat nachhaltige Auswirkungen
auf das Verständnis von Sexualität
(als ›Grenzerfahrung‹, aber
auch als Gegenstand von regulierender
Grenzsetzung). Einerseits ist hier die
Repathologisierung von Homosexualität
und damit die Revision der sexuellen
Befreiungsbewegungen unter dem
Schlagwort der ›Promiskuität‹ und die
Konjunktur des Wertes ›Familie‹ zu beobachten.
Andererseits haben Aufklärungs-
und Safer-Sex-Kampagnen zu
einer Vermehrung der Diskurse über
sexuelle Praktiken und deren ›Normalisierung‹
beigetragen (äHomosexuellenkultur).
– Der Bandbreite der Aspekte,
die das Thema berühren, entspricht
die Vielfalt der künstlerischen Reaktionen
auf die A.-Krise und der Rückgriff
auf unterschiedlichste Ausdrucksformen
und Genres, so dass von einer
spezifischen ›A.-Kunst‹ oder ›A.-Kultur‹,
wenngleich häufig als Desiderat
formuliert, nicht gesprochen werden
kann. Dass A. hinsichtlich der stereotypen
Kopplung von Krankheit und
4 AIDS
Kunst diverse symbolische Zuschreibungen
insbes. der Tuberkulose und
der Syphilis beerbt, kommt im Topos
›A. als Künstlerkrankheit‹ zum Ausdruck
(S. Sontag). Die Anfälligkeit der
Thematik für stigmatisierende, insbes.
homophobe und rassistische Projektionen
provozierte gerade in den 80er Jahren
zu repräsentationskritischen Herangehensweisen,
die auf eine Diskurskorrektur
abzielen. In der expliziten Reflexion
auf traditionelle Vorgaben und
symbolische Bestände sowie auf die
Kodierung des verwendeten Diskursmaterials
zeigt sich häufig der Einfluss
differenztheoretischer Befunde und ästhetischer
Praktiken der äPostmoderne.
Zu den einschlägigen Verfahren gehört
dabei die zitierende Aneignung kursierender
Stereotypen und Mythologeme,
sei es, um deren Konstruktcharakter
durch parodistische Übertreibung und
Verzerrung auszustellen, sei es, um
durch äCollagen bzw. Montagen heterogenen
Materials jene Bedeutungskonkurrenz
zu exponieren, die A. als
›massenmediales Syndrom‹ kennzeichnet.
– Die künstlerische Auseinandersetzung
mit A. reicht von professioneller
Kunstproduktion bis zu ›laienhafter‹
persönlicher Bewältigung, was häufig
als gelungene Umsetzung der von verschiedenen
äAvantgarden reklamierten
Überschreitung der Kunst-Leben-Grenze
gewürdigt wird (A. Schock, F. Wagner),
aber auch Ressentiments seitens
einer Kunstkritik hervorgerufen hat, die
an der Unterscheidung von Hoch- vs.
Trivialkultur festhält (T. Krause, F. J.
Raddatz). Bes. in den USA haben die
sozialen, politischen und kulturellen
Implikationen der A.-Krise zu Allianzen
zwischen Künstler/-innen und aktivistischen
Gruppen (wie ACT UP, Testing
the Limits, Gran Fury) geführt. Der
pragmatische Einsatz von Strategien
z.B. der Werbung, des propagandistischen
Plakats und des Aufklärungsfilms
spielt für die aktivistischen Interventionen
eine zentrale Rolle. Das gilt auch
für Produktionen, die der Tradition
von Pop Art verpflichtet sind (General
Idea, K. Haring). Andere Arbeiten thematisieren
die Krise des Körpers und
der sexuellen Identität oder den Verlust
von Geliebten und Freunden (R. Faber,
A. Serrano, K. Smith, F. Gonzales-Torres).
In der Fotografie ist eine Tendenz
zum Dokumentarischen, etwa in der
sich als authentisch ausweisenden Repräsentation
des kranken Körpers, zu
beobachten (J. Baldiga, N. Goldin, A.
Leibowitz, N. Nixon). – Zumindest in
der deutschsprachigen Literatur zum
Thema dominieren ego-dokumentarische
Genres wie Autobiographien,
Krankheitsjournale, Tagebücher, Memoiren,
obwohl auch im engeren Sinne
fiktionale Texte vorliegen. So greifen
verschiedene Anti-Utopien die Debatten
um Zwangsmaßnahmen wie Meldepflicht
und Quarantänisierung auf, indem
sie totalitäre ›Seuchenregime‹ entwerfen
und dabei explizit oder implizit
einen Konnex zwischen A.-Krise und
Holocaust herstellen (F. Breinersdorfer,
P. Zingler). Dass in der westlichen
Welt männliche Homosexuelle von der
A.-Krise in bes. Maße betroffen sind,
hat sich auch in der literarischen Auseinandersetzung
mit dem Thema niedergeschlagen.
Ein Großteil sowohl der
fiktionalen wie der nicht-fiktionalen
Texte stammt von schwulen Autoren,
die in unterschiedlichen Genres ihre
subjektiven Erfahrungen verarbeiten,
z.B. das Sterben, die Effekte für die
eigene Sexualität, aber auch das kollektive
Trauma, das A. für die gay community
bedeutet (D. Feinberg, W.M.
Faust, H. Fichte, H. Guibert, D. Meyer,
P. Monette, N. Seyfahrt, M. Wirz). – Im
Film findet die A.-Thematik bis in die
90er Jahre ausschließlich jenseits von
Mainstream-Produktionen statt. Erst
1993 wird mit Philadelphia (J. van
Demme) die Ignoranz des Hollywood-
Kinos gegenüber dem nicht Happy-
End-fähigen Thema aufgegeben. Eine
Reihe von low-budget-Filmen bezieht
AIDS 5

sich auf die Situation der gay community,
darunter Dokumentationen über
Menschen mit HIV und A. (A. L. Bressan)
und Safer-Sex-Pornos (W. Speck).
Häufig wird an die Darstellung der eigenen
Erkrankung die Kritik an politischen
Zuständen und an gesellschaftlicher
Ignoranz bzw. Ausgrenzung gekoppelt
(D. Jarman). Parodistische Inszenierungen
der A.-Hysterie greifen
z.T. auf die mit Schwulenkulturen assoziierte
Camp-Ästhetik zurück (R. von
Praunheim, J. Greyson). – Auch im
Theater bezieht sich die Reaktion auf
die A.-Krise v. a. auf den Konnex von
Homosexualität, Krankheit und Tod.
Während die ersten Stücke häufig der
Trauerarbeit und dem persönlichen
Verlust gelten, formulieren viele der
späteren Stücke eine Kritik an der homophoben
Gesellschaft (Copi, L. Kramer,
T. Kushner). – Die Diversität der
jeweiligen Herangehensweisen, Medien
und Genres (neben den erwähnten sind
hier noch Performances, Comics, Internet-
Installationen, elektronische Newsgroups,
neue Formen kollektiver Trauerarbeit
wie das A.-Quilt oder der Solidaritätsbekundung
wie die A.-Schleife
u. a. zu nennen) ist nicht der einzige
Einwand gegen eine Subsumption der
künstlerischen und kulturellen Resonanz
auf A. unter das homogenisierende
Etikett einer ›A.-Kultur‹. Als Reaktionen
auf die A.-Krise können auch Arbeiten
gelten, die sich mit den ›sekundären‹
Effekten von A. auseinandersetzen, z.B.,
wie in E. Jelineks Roman Lust (1989),
mit den Folgen für die psychosexuelle
Gestaltung von Geschlechterverhältnissen.
– Die Fortschritte in der Entwicklung
lebensverlängernder Therapieformen
haben dazu beigetragen, dass A.
zunehmend als ›normale‹ Krankheit
wahrgenommen wird, während der
Schauplatz der ›Katastrophe‹ sich auf
nicht-westliche Regionen verschoben
hat. War die direkte Auseinandersetzung
ohnehin stark den Kulturprogrammen
der A.-Hilfen und Schwulenverbände
vorbehalten, die sich allerdings
auch für die Interessen anderer
Gruppen öffneten, so trägt die Tendenz
einer ›Entdramatisierung‹ der A.-Krise
in der westlichen Welt zu einer weiteren
Marginalisierung des Themas im öffentlichen
Diskurs bei.
Lit.: D. Crimp (Hg.), AIDS. Cultural
Analysis/Cultural Activism (1989). –
A. G. Düttmann, Uneins mit AIDS: wie
über einen Virus nachgedacht und geredet
wird (1993). – B. Weingart, Ansteckende
Wörter. Repräsentationen
von AIDS (2002).