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Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand Expertise des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung
Thomas Rauschenbach
Bettina Arnoldt
Christine Steiner
Heinz-Jürgen Stolz
Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand
Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand


Expertise des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung

Thomas Rauschenbach

Bettina Arnoldt

Christine Steiner

Heinz-Jürgen Stolz

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Verlag Bertelsmann Stiftung
EAN: 9783867934268 (ISBN: 3-86793-426-6)
180 Seiten, paperback, 15 x 21cm, 2012

EUR 20,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
»Ein verlässliches Ganztagsangebot hat das Potenzial, die Bildungschancen der Kinder zu verbessern, und unterstützt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf«, betont Dr. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung. Die Zahlen der letzten sieben Jahre zeigen: Das ganztägige Angebot – ob offen, teilgebunden oder verbindlich – hat sich bundesweit mehr als verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Dennoch sind für die Zukunft wichtige Fragen zu klären: Was leistet Ganztagsschule tatsächlich für die individuelle Förderung und Chancengerechtigkeit? Wie stellt sich die Profilbildung der Schulen dar? Was sind die Qualitätskriterien für »guten« Ganztag?

Die Expertise in diesem Band beschreibt und bewertet den aktuellen Forschungsstand zur bundesdeutschen Entwicklung. Auf Basis der Daten der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) werden typische Profile vorgestellt. Zwölf Thesen fassen die vielfältigen Erwartungen an Ganztagsschule zusammen und geben wichtige Hinweise für den quantitativen und qualitativen Ausbau.
Rezension
Ganztagsschulische Angebote entwickeln sich seit einigen Jahren kontinuierlich zu einem bundesweiten Regelangebot. Chancengerechtigkeit soll damit erhöht und Bildungsdisparität verringert werden. Ganztagsschulen schlagen beim Ausbau ihres Ganztagsbetriebs aber sehr unterschiedliche Wege ein und es gilt jedenfalls die Qualität zu sichern. Ganztagsschulen können durch ihr vielfältiges Angebot sehr gute Bedingungen für individuelle Förderung bieten, das gilt aber keineswegs überall. Verbesserung von individueller Förderung bedeutet aber noch nicht verbesserte Chancengerechtigkeit. Mit diesen Sätzen läßt sich diese Expertise des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zur Ganztagsschule und ihren Potentialen ansatzweise zusammenfassen.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7

1 Das Reformprojekt Ganztagsschule – eine Einleitung 11

2 Schulbezogene Reformimpulse – zeitgeschichtliche Vergewisserungen 17

Der Dialog Ganztagsschule 20
Der Dialog Bildungslandschaft 23

3 Der Ausbau der Ganztagsschule – ein Blick auf die Länder 27

Entwicklungen im Vorfeld des IZBB 27
Der Ausbau der Ganztagsschulen auf Länderebene 29
Die Ausbaudynamik der Länder 29
Die Ausbauschwerpunkte seit dem IZBB 33
Ganztagsschule und Chancengerechtigkeit 35
Kooperation mit außerschulischen Partnern 37
Wandel durch Annäherung 38
Zwischenfazit 40

4 Der Ganztag im Spiegel der Forschung – eine Bilanz 43

Eine Bestandsaufnahme empirischer Befunde 43
Ganztagsschule als pädagogische Handlungseinheit 45
Professionelles Handeln und Kooperation 51
Lernen und Zeitstrukturierung im Ganztag 61
Inanspruchnahme von Ganztagsangeboten 67
Lokale und sozialräumliche Vernetzung 70
Chancengerechtigkeit und Ganztag? Ein Zwischenfazit 75

5 Ganztagsschulen – Modelle empirischer Klassifikation 81

Klassifikationen von Schulen 81
Ordnung in der Vielfalt? Prozessdimensionen schulischer Handlungsspielräume 83
Ganztagsspezifika 84
Ganztagsschulische Prozessmerkmale und individuelle Förderung 86
Methodisches Vorgehen 87
Analyseleitende Heuristik 87
Datenbasis 88
Die Items 90
Clusterverfahren 92
Befunde 94
Die Merkmale 94
Cluster für den Grundschulbereich 97
Cluster für die Schulen der Sekundarstufe I 107
Die besten Repräsentanten – ein Exkurs 120
Ganztagsschule als Regelschule – aber nach welchen Regeln? 126

6 Die Ganztagsschule der Zukunft – Erweiterungen des Bildungskonzepts 135

Die Ganztagsschule im kommunalen Sozialraum 137
Schulautonomie und Outputsteuerung 138
Die Ganztagsschule in einem erweiterten Bildungshorizont 141
Literatur 145
Tabellenverzeichnis 171
Abbildungsverzeichnis 172
Ganztagsschule als Hoffnungsträger? Eine Bilanz in zwölf Thesen 173

Anhang 177


Vorwort
Das Potenzial der Ganztagsschule besser ausschöpfen
Vielfalt ist Normalität in unseren Klassenzimmern – nicht nur in den
Grundschulen, sondern auch in den weiterführenden Schulen. Vor
allem in den Großstädten steigt die Zahl der Kinder aus Zuwandererfamilien,
in ländlichen Gebieten müssen Schulen unterschiedlicher
Art wegen Schülermangels zusammengelegt werden, immer mehr
Eltern schicken ihre Kinder – gerade in wohlhabenden Gegenden –
auf das Gymnasium, und seit Inkrafttreten der UN-Konvention gehen
zunehmend Kinder mit besonderem Förderbedarf auf Regelschulen.
Diese Vielfalt der kulturellen und sozialen Hintergründe, der Begabungen,
aber auch der unterschiedlichen Lernausgangslagen stellen
zusätzliche Anforderungen an Schule und Unterricht. Bislang
gelingt es unserem Schulsystem nicht ausreichend, der zunehmend
heterogenen Schülerschaft faire Bildungschancen zu bieten – der Bildungserfolg
hängt nach wie vor in hohem Maße von der Herkunft ab.
Das belegt, neben internationalen Schulleistungsstudien wie PISA
und IGLU, auch der »Chancenspiegel« des Instituts für Schulentwicklungsforschung
und der Bertelsmann Stiftung, der die Leistungsfähigkeit
und Gerechtigkeit der deutschen Schulsysteme untersucht:
Die Chance eines Akademikerkindes, ein Gymnasium zu
besuchen, ist beispielsweise 4,5-mal höher im Vergleich zur Chance
eines Arbeiterkindes. Angesichts dieser Bestandsaufnahmen drängt
sich die Frage auf, mit welchen konkreten Maßnahmen die Schulsysteme
in allen Bundesländern gerechter und gleichzeitig leistungsfähiger
gestaltet werden können.
Der quantitative und qualitative Ausbau der Ganztagsschule spielt
dabei eine zentrale Rolle. Seit 2003 unterstützen Bund und Länder
8
gemeinsam den Ausbau ganztagsschulischer Angebote im Zuge des
Investivprogramms »Zukunft Bildung und Betreuung«. Die Bundesregierung
fördert den Aus- und Aufbau der Ganztagsinfrastruktur
mit insgesamt vier Milliarden Euro. Schon diese Fördersumme ist ein
Hinweis auf die großen Hoffnungen, die mit Ganztagsschulen verbunden
werden: An die Ganztagsschule richtet sich die Erwartung,
dass sie die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit unterstützt,
zur Entwicklung von Lernkultur und pädagogischer schulischer
Praxis beiträgt, Lernchancen verbessert, den Erwerb kognitiver
und sozialer Fähigkeiten fördert sowie soziale Benachteiligung kompensiert.
Vor dem Hintergrund der ambitionierten Zuschreibungen und
Erwartungen an Ganztagsschulen hat die Bertelsmann Stiftung das
Deutsche Jugendinstitut beauftragt, das »Reformprojekt Ganztagsschule
« auf den empirischen Prüfstand zu stellen. Die Studie zeigt
einerseits die beeindruckende Ausbaudynamik der Ganztagsschulen
in Deutschland. Sie macht aber andererseits auch die Grenzen eines
Projekts deutlich, das ohne klares Leitbild und mit geringen inhaltlichen
Vorgaben gestartet ist. So ist, laut der Defi nition der Kultusminister,
eine Schule bereits dann eine Ganztagsschule, wenn sie an
drei Tagen der Woche mindestens sieben Stunden unterrichtet. Daher
geht die Studie vor allem der Frage nach, ob der bisherige Ganztag
wirklich einen substanziellen Beitrag zu Chancengerechtigkeit
leistet und herkunftsbedingte Benachteiligungen ausgleichen kann.
Ich danke an dieser Stelle den engagierten Autorinnen und Autoren,
Thomas Rauschenbach, Bettina Arnoldt, Christine Steiner, Heinz-
Jürgen Stolz, die sich der Herausforderung einer Bilanz der Ganztagsschulentwicklung
in Deutschland gestellt haben.
Empirische Befunde zur Leistungsfähigkeit der Ganztagsschulen
waren bislang eher enttäuschend. So zeigt im erwähnten Chancenspiegel
ein Vergleich der Kompetenzwerte von Schülern in Ganz- und
Halbtagsschulen auf der Grundlage von PISA- und TIMSS-Daten
keine besseren Leistungen von Ganztagsschülern. Die Studie des
Deutschen Jugendinstituts macht nun deutlich, wie das Potenzial der
Ganztagsschule besser ausgeschöpft werden kann. Denn der Besuch
einer Ganztagsschule kann bei Schülerinnen und Schülern sehr
wohl zu positiven Wirkungen führen. Dies gilt sowohl im Hinblick
auf erzieherische Wirkungen (Motivation, Wertorientierung, Sozialverhalten)
als auch auf Leistung und Schulerfolg. Die Wirksamkeit
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der Ganztagsschule ist allerdings abhängig von der Qualität des Angebots
und einer regelmäßigen Teilnahme. So bieten voll gebundene
Ganztagsschulen prinzipiell bessere Bedingungen für eine individuelle
Förderung, sind aber nicht hinreichend für eine gute und gerechte
Schule. Nachdenklich stimmt im Hinblick auf Chancengerechtigkeit
zudem, dass sich Ganztagsschulen bislang nicht vermehrt
in sozialen Brennpunkten fi nden, wo der Bedarf an passgenauen Unterstützungsangeboten
für benachteiligte Schüler am größten ist.
Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das qualitative Potenzial
des Ganztags zurzeit noch nicht ausgeschöpft wird und auch
Ganztagsschulen es noch nicht schaffen, Herkunft und Schulleistung
zu entkoppeln.
Ziel muss es daher sein, dass alle Kinder und Jugendlichen von
einem qualitativ hochwertigen Ganztagsangebot profi tieren können.
Allerdings ist der Weg zu dem benötigten fl ächendeckenden System
alles andere als einfach – und auch fi nanziell eine Herausforderung:
Der fl ächendeckende Betrieb von gebundenen Ganztagsschulen kostet
Schätzungen zufolge bis zu zehn Milliarden Euro zusätzlich pro
Jahr. Beginnen muss der Ausbau darum in den sozialen Brennpunkten
der Städte. Dort werden die Ganztagsschulen am dringendsten
gebraucht. Mit der Zeit müssten sich die anfangs häufi g unverbindlichen
offenen Ganztagsschulen in – pädagogisch sinnvollere – verbindliche
gebundene Angebote wandeln. Damit der quantitative und
qualitative Ausbau mit dem nötigen Nachdruck passiert, brauchen
wir in wenigen Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz.
Bereits zu Beginn des Ausbaus müssen die Schulen so gut sein,
dass die Eltern ihre Kinder gern und freiwillig dorthin schicken – anders
wird sich der kulturelle Wandel politisch nicht durchsetzen lassen.
Deshalb müssen Ganztagsschulen mehr sein als Halbtagsschulen,
die in den Nachmittag verlängert werden: Lernen und
Erholungsphasen wechseln sich während des Tages ab, Sport und
Musik sind verstärkter Teil des Curriculums, Selbstlernphasen sind
genauso Bestandteil des Schulalltags wie »normaler« Unterricht. So
verstandene und konzipierte Ganztagsschulen unterstützen kognitives
Lernen, indem sie die intensive individuelle Förderung der Schülerinnen
und Schüler ermöglichen und sicherstellen, dass das neu
Erlernte geübt, wiederholt und verfestigt wird. Solche Ganztagsschulen
bieten aber auch neue Möglichkeiten, da sie Gelegenheiten für
10
informelles, soziales und interkulturelles Lernen eröffnen und beispielsweise
Sport- und Kulturangebote bereitstellen, die Kindern aus
bildungsfernen Familien sonst nicht zugänglich sind.
Eine solche Schule ist Lern- und Lebensraum für alle Kinder und
Jugendlichen. Nur so bietet Schule echte Chancen für alle und leistet
einen wirksamen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit in Deutschland.
Die einzelne Schule wird das allein nicht schaffen. Sie ist dabei
auf die Unterstützung der Kommune und des Landes angewiesen.
Wir brauchen eine Gesamtstrategie von Bund, Ländern und Kommunen,
damit das Potenzial von Ganztagsschulen endlich besser ausgeschöpft
werden kann. Diese Studie soll für eine solche Strategie entsprechende
Anstöße geben.
Dr. Jörg Dräger
Mitglied des Vorstands
der Bertelsmann Stiftung


1 Das Reformprojekt Ganztagsschule –
eine Einleitung
Im Schuljahr 2010/11 gab es in Deutschland mehr als 14.000 Schulen
bzw. schulische Verwaltungseinheiten mit Ganztagsangeboten. Das
entspricht einem Anteil von inzwischen über 50 Prozent an allen
schulischen Verwaltungseinheiten. Im Vergleich zum Bezugsjahr
2002/03, als es noch keine 5.000 »Ganztagsschulen« gab, kommt das
einem Zuwachs um 192 Prozent bzw. um mehr als 9.500 Ganztagsschulen
in nur acht Jahren gleich. Setzt sich der Ausbau in den nächsten
Jahren etwa im gleichen Tempo fort – und mehrere Bundesländer
haben sich hier ehrgeizige Ziele gesteckt –, dürfte die Zahl der Ganztagsschulen
bis Mitte des Jahrzehnts, also bis zum Schuljahr 2015/16,
auf nahezu 20.000 Verwaltungseinheiten steigen. Das hieße: Rund
sieben von zehn Schulen könnten in wenigen Jahren ein Schulangebot
im Ganztagsbetrieb unterbreiten.
Schon dieses kleine Zahlenspiel macht deutlich: Wenige bildungspolitische
Reformprojekte der letzten Jahre dürften das Bildungswesen
und die Schullandschaft hierzulande – aber auch das Aufwachsen
von Kindern und Jugendlichen – so nachhaltig verändert
haben wie der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. Deutlich leiser
geworden sind die anfänglich kontroversen Debatten um die weitere
Ausbreitung staatlich verantworteter Bildung, Betreuung und Erziehung,
nahezu verstummt sind die zeitweilig massiv geäußerten
föderalen Vorbehalte gegen eine bundeszentrale Beteiligung am
Ganztagsschulausbau. Aus einer zunächst ungewissen Entwicklungsperspektive
heraus hat sich Deutschland ausnahmslos in allen
Bundesländern auf den Weg gemacht, die für die Bundesrepublik so
prägende Halbtagsschullandschaft sukzessive mit einem fl ächendeckenden
Ganztagsangebot zu unterfüttern.
Noch ist nicht erkennbar, welche Stellung im Bildungswesen der
Ganztagsschule am Ende dieser Ausbaudynamik zukommt. Wird sie
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in diesem Jahrzehnt zu einem anteilsmäßig weiter wachsenden Alternativangebot,
bei dem zuallererst die Nachfragenden – die Schülerinnen
und Schüler sowie deren Eltern – entscheiden, in welchem
Ausmaß diese neue Schulform in Anspruch genommen wird? Oder
wird es in wenigen Jahren – ähnlich wie bei der Kindertagesbetreuung
– für Kinder und ihre Eltern auch im (Grund-)Schulalter einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz geben, der die staatliche
Seite in die Pfl icht nimmt, für einen bedarfsdeckenden Ausbau
zu sorgen? Oder aber wird die Ganztagsschule gar zu dem fl ächendeckenden
schulischen Regelangebot schlechthin, sprich zur Normalform
des schulischen Alltagslebens für alle Kinder und Jugendlichen,
wie dies beispielsweise in Frankreich der Fall ist?
Alle diese Varianten sind vorerst immer noch denkbar. Zwischen
einem niedrigschwelligen, freiwilligen Angebot am einen und einem
verpfl ichtenden Ganztagsschulkonzept am anderen Ende ist die weitere
Entwicklung nach wie vor ergebnisoffen, auch wenn die gegenwärtigen
Rahmenbedingungen unübersehbar eine – immer mal wieder
geforderte – Möglichkeit ausschließen: die kurzfristige Realisierung
eines verpfl ichtenden Ganztagsschulkonzeptes für alle Schülerinnen
und Schüler in Deutschland. Zu dieser Sofortmaßnahme fehlen
schlicht die Voraussetzungen – baulich, personell und fi nanziell.
Aber auch jenseits der schulorganisatorischen und fi nanztechnischen
Hindernisse, die sich auf dem Weg zu einem fl ächen- wie bedarfsdeckenden
Ganztagsschulangebot zumindest kurzfristig unübersehbar
auftun, wird es letztlich darauf ankommen, ob sich die
erhofften Vorzüge tatsächlich realisieren lassen, sprich: ob die Vorteile
gegenüber den Nachteilen und unvermeidlichen Nebenwirkungen
überwiegen, ob also das Reformprojekt Ganztagsschule das halten
kann, was es verspricht – und was sich viele davon erhoffen. Nur
dann wird es gelingen, auch die anfänglichen Skeptiker gegenüber
einer weiteren Verschulung und zeitlichen Verdichtung des Kindesund
Jugendalters zu überzeugen. Ohne eine breite Zustimmung aufseiten
der Eltern, ohne das Einverständnis und die Mitwirkung der
Lehrkräfte und ohne eine überzeugte und überzeugende Politik wird
das fl ächen- und bedarfsdeckende Reformprojekt Ganztagsschule
nicht zu vollenden sein.
Die Ganztagsschule ist keine exklusive Erfi ndung der jüngeren
Bildungspolitik. Dazu gibt es zu viele Vorläufer und Anschlussstellen
an frühere Entwicklungen und Debatten. Trotzdem stand dieses Re13
formprojekt zu keinem Zeitpunkt so stark im Mittelpunkt der wissenschaftlichen,
politischen und medialen Aufmerksamkeit wie in
den letzten Jahren. Mehr noch: Kaum bestreitbar dürfte es sein, dass
die Ganztagsschule sich inzwischen in Deutschland so stark verbreitet
und etabliert hat, dass es keinen Weg mehr zurück geben wird.
Die Ganztagsschule ist hierzulande unwiderrufl ich eine Realität im
Bildungswesen geworden.
Das Augenmerk wird in den nächsten Jahren vor allem auf vier
Themenkomplexe zu richten sein:
• auf die Fragen nach der zeitlichen Ausbaugeschwindigkeit und
nach der politischen Ausbauentschiedenheit – in den einzelnen
Gemeinden und in den Ländern ebenso wie auf der Ebene des
Bundes –, also auf die Fragen nach dem (bildungs-)politischen
Willen für eine Ganztagsschullandschaft;
• auf die Frage nach den sich herausbildenden Formen und Spielarten
schulischer Ganztagsangebote angesichts des Umstandes,
dass dieses Projekt ergebnisoffen ist, da zu Beginn der Ausbauphase
keine einheitlichen Leitziele und keine verbindlichen Leitbilder
für die bundesdeutsche Ganztagsschullandschaft vorgegeben
wurden;
• auf die Frage, in welchem Verhältnis die Ganztagsschulentwicklung
zu den zeitgleichen Bemühungen um eine vernetzte
Bildung steht – wie sie etwa bei den Themen »Lernen vor Ort«
oder »lokale Bildungslandschaften« sichtbar wird –, und in welcher
Weise sie die Impulse um ein erweitertes Bildungsverständnis
in sich aufnimmt, mit dem das Bildungswesen in neuer, zeitgemäßer
Weise auf die Herausforderungen des Aufwachsens im
21. Jahrhundert vorbereitet werden soll;
• auf die Frage, ob es im Rahmen ganztägiger Angebote besser und
nachhaltiger gelingt, alle Heranwachsenden trotz einer größeren
Heterogenität individuell zu fördern sowie die herkunftsbedingten
Disparitäten abzumildern und in diesem Zuge vor allem den
bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen mehr Chancengerechtigkeit
zu eröffnen.
Damit sind wesentliche Zukunftsthemen des Reformprojekts Ganztagsschule
abgesteckt: Ausbaudynamik, Profi lbildung, Vernetzung
und Horizonterweiterung sowie verbesserte Chancengerechtigkeit.
Jedes dieser Themen ist eine eigene Betrachtung wert.
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Die Ganztagsschule ist kein solitäres bildungs- und gesellschaftspolitisches
Entwicklungsprojekt. Vielmehr muss es als Bestandteil
und Ausdruck von übergreifenden und umfassenderen Reformbestrebungen
im Bildungs-, Sozial- und Erziehungswesen verstanden
werden, die derzeit hierzulande zu beobachten sind. Nicht ohne
Grund hat die Bundeskanzlerin vor wenigen Jahren die »Bildungsrepublik
Deutschland« ausgerufen, hat die Bundesregierung ein milliardenschweres
Programm »Aufstieg durch Bildung« aufgelegt. Selbst
wenn man den angepeilten Erfolg bislang noch für überschaubar halten
mag, sind derartige Aktivitäten starke Signale für einen größeren
Reformbedarf und für umfassende Reformvorhaben rund um das
Thema »Bildung«.
Bildungsrelevante Reformprojekte sind in diesem Zusammenhang
daher auf allen Ebenen zu konstatieren, seien es die vielfältigen
Aktivitäten rund um die frühkindliche Bildung und das damit einhergehende
»U3-Ausbauprojekt« – der Rechtsanspruch auf einen
Betreuungsplatz für Ein- und Zweijährige ab 2013 –, seien es die
schulinternen Reformen im Kontext der Transformation der Hauptschulen
und der Schulzeitverkürzung durch die G8-Gymnasien,
seien es die – weniger deutlich gebündelten – Bemühungen, die Folgen
der ersten Schwelle am Übergang von der Schule in die berufl iche
Ausbildung abzumildern, oder seien es schließlich die keineswegs
unumstrittenen Bologna-Reformen im Hochschulwesen. Sie
alle zeigen, dass Bildung längst zu einer politischen Schlüsselfrage,
zu einem weichenstellenden Themenfeld mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit
des Landes geworden ist. Und in diesen weiteren Kontext
muss auch der Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland
gestellt werden.
Allerdings gibt es im Unterschied zu den anderen Reformbaustellen
in Sachen Bildung einen auffälligen Unterschied: Das Projekt
Ganztagsschule, der Auf- und Ausbau einer deutschlandweiten Ganztagsschullandschaft,
wurde deutlich weniger als die anderen laufenden
Vorhaben von einer dezidiert bildungspolitischen Begründung,
von einer grundlegenden Weichenstellung getragen. Dies hat nicht
zuletzt damit zu tun, dass der Bund sein Ganztagsschulprogramm
just in einer Hochphase der Kontroversen um eine Entfl echtung föderalistischer
Verstrickungen von Bund und Ländern aufl egte, das im
Kräftespiel zwischen diesen Ebenen zu einer fast schon stilisierten
kategorischen Ablehnung jedweder inhaltlicher Ambitionen des Bun15
des aufseiten der Länder führte. Da die Bundesländer selbst jedoch
nicht auf die zugesagten Mittel des Bundes für den Auf- und Ausbau
verzichten wollten, wurde das Reformvorhaben Ganztagsschule in
Deutschland einigermaßen überstürzt, jedenfalls nicht als Ergebnis
einer Grundsatzdebatte über Sinn und Ziele der Einführung ganztägiger
Schulangebote auf den Weg gebracht.
Diese offene Ausgangskonstellation prägt bis heute den öffentlichen,
fachlichen und politischen Umgang mit dem Ganztag als einem
bildungspolitisch folgenreichen Thema. Die Ganztagsschule
umgibt immer noch eine Art konzeptionelles Vakuum. Dies beschwört
unweigerlich eine nachholende Modernisierung, eine nachträgliche
Zweck- und Zielbestimmung des Reformprojektes herauf.
Vorerst, so drängt sich der Eindruck auf, gleicht der Ganztagsschulausbau
– in seiner Gesamtentwicklung – einer Reise in die Zukunft
ohne klares Ziel, zumindest mit einem nicht hinreichend geklärten
Ziel.
Die vorliegende Expertise wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung
von einer kleinen Arbeitsgruppe am Deutschen Jugendinstitut
– teils unterstützt von weiteren Personen – verantwortlich angefertigt.
Ziel der Studie war der Versuch, die aktuelle Lage der Ganztagsschulen
im Licht der jüngeren Forschungsergebnisse unter zwei erkenntnisleitenden
Gesichtspunkten zu bilanzieren: zum einen der
Frage, ob sich in einer pluralen und wenig vorstrukturierten Ganztagsschullandschaft
unterscheidbare Muster und Typen, gewissermaßen
distinkte Ganztagsschulprofi le abzeichnen oder herausbilden;
zum anderen der Frage, inwieweit Ganztagsschulen zu mehr Chancengerechtigkeit
im Bildungssystem beitragen. Zu beiden Themen
hoffen wir weiterführende Hinweise liefern zu können.