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Dietrich Bonhoeffer 1906-1945 Eine Biographie
Dietrich Bonhoeffer 1906-1945
Eine Biographie




Ferdinand Schlingensiepen

Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406534256 (ISBN: 3-406-53425-2)
432 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 15 x 22cm, 2005, mit 46 Abbildungen

EUR 24,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Ferdinand Schlingensiepen schildert anschaulich und auf der Grundlage zahlreicher neuer Quellen den ungewöhnlichen und mutigen Lebensweg Dietrich Bonhoeffers. Dabei versteht er es meisterhaft, den Menschen, Schriftsteller, Theologen und Widerstandskämpfer Bonhoeffer in zeithistorischen Bezügen darzustellen und gerade dadurch lebendig werden zu lassen. Mit dieser Biographie liegt nach langer Zeit wieder ein Standardwerk zum Leben Dietrich Bonhoeffers vor.



Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers laufen auch noch sechzig Jahre nach seiner Hinrichtung vielen gängigen Erwartungen entgegen: Bonhoeffer entschied sich als Theologe für den Widerstand gegen Hitler; aber sein Widerstand war kein religiöser oder pazifistischer, sondern ein politischer und schloß die Gewaltanwendung nicht aus. Er gilt weltweit als einer der herausragenden Theologen des 20. Jahrhunderts, aber ein systematisches Hauptwerk sucht man vergeblich. Fasziniert haben vor allem seine in der Tegeler Haft geschriebenen Briefe und Aufzeichnungen, seine Gedichte und Gebete und nicht zuletzt die «Brautbriefe» an seine viel jüngere Verlobte. Ferdinand Schlingensiepen erzählt anschaulich und auf der Grundlage zahlreicher neuer Quellen den ungewöhnlichen Lebensweg des Theologen und Widerstandskämpfers und macht deutlich, warum der Sohn eines bekannten Nervenarztes immer wieder Entscheidungen getroffen hat-für die Theologie, für die Bekennende Kirche, für den politischen Widerstand -, die ihn von bisherigen Mitstreitern isoliert und zum Martyrium geführt haben.



Ferdinand Schlingensiepen, geb. 1929, war u.a. als Vorsteher der Kaiserswerther Diakonie tätig. Er richtete 1972 den ersten Internationalen Bonhoeffer-Kongreß aus und regte die Gründung der Bonhoeffer-Gesellschaft an. Zahlreiche Publikationen zu Dietrich Bonhoeffer, Heinrich Heine und Theodor Fontane.
Rezension
Im Februar 2006 wäre Dietrich Bonhoeffer 100 Jahre alt geworden; zahlreiche Veröffentlichungen, darunter auch neue Biographien, bereiten schon im Jahr 2005 dieses Ereignis vor. Die hier anzuzeigende Darstellung geht mit dem monumentalen und grundlegenden Werk Eberhard Bethges von 1967 weitgehend konform in den Hauptaussageabsichten ("Alle späteren Biographien - auch die vorliegende - müssen darauf aufbauen", S. 12), sie war ursprünglich eigentlich einmal als "Kurzfassung" des 1080 S. Werkes Bethges geplant ... ; gleichwohl werden etliche neue Quellen in die Darstellung eingearbeitet (u.a. Bonhoeffers Brautbriefe aus der Haft, die 1992 erschienen sind und die komplette Ausgabe von "Widerstand und Ergebung") und endlich wird die doch weitgehende Dominanz der Bethge-Biographie nach dessen Tod durch weitere Darstellungen wie diese ergänzt und bereichert. Denn auch die zeitgeschichtliche Situation hat sich gegenüber Bethges Darstellung deutlich verändert: Bonhoeffer bedarf heute keiner Verteidigung mehr. Zugleich aber gilt heute mehr denn je: Bonhoeffer wollte nicht verehrt, sondern gehört werden.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
100. Geburtstag am 4. Februar 2006

Dietrich Bonhoeffers ungewöhnlicher Lebensweg gilt aus heutiger Sicht gerade deshalb als vorbildlich, weil Bonhoeffer in seinen Entscheidungen für die Theologie, für die Bekennende Kirche und für den politischen Widerstand immer wieder den scheinbar geraden Weg verlassen hat. Nach Eberhard Bethges monumentaler Biographie liegt jetzt wieder ein Standardwerk zum Leben Dietrich Bonhoeffers vor.

Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers laufen auch noch sechzig Jahre nach seiner Hinrichtung vielen gängigen Erwartungen entgegen: Bonhoeffer entschied sich als Theologe für den Widerstand gegen Hitler; aber sein Widerstand war kein religiöser oder pazifistischer, sondern ein politischer und schloß die Gewaltanwendung nicht aus. Er gilt weltweit als einer der herausragenden Theologen des 20. Jahrhunderts, aber ein systematisches Hauptwerk sucht man vergeblich. Fasziniert haben vor allem seine in der Tegeler Haft geschriebenen Briefe und Aufzeichnungen, seine Gedichte, Gebete und Lieder und nicht zuletzt die Brautbriefe an seine viel jüngere Verlobte.

Ferdinand Schlingensiepen versteht es meisterhaft, den Menschen, Schriftsteller, Theologen und Widerstandskämpfer Bonhoeffer in zeithistorischen Bezügen darzustellen und gerade dadurch lebendig werden zu lassen. Seine Biographie basiert auf zahlreichen neuen Quellen und Forschungsergebnissen, lebt aber auch von der Nähe des Autors zum Thema: Schlingensiepen verbrachte die entscheidenden Jahre seiner Kindheit in einem illegalen Seminar der Bekennenden Kirche, das sein Vater bis zu seiner Verhaftung leitete, und war nach dem Krieg eng mit Eberhard Bethge befreundet.

Der Autor:
Ferdinand Schlingensiepen, geb. 1929, richtete 1972 den ersten internationalen Bonhoeffer-Kongreß aus und regte die Gründung der Bonhoeffer-Gesellschaft an. Zahlreiche Publikationen zu Dietrich Bonhoeffer, Heinrich Heine und Theodor Fontane.

Pressestimmen:
„Ein Jahr vor Bonhoeffers 100. Geburtstag hat Ferdinand Schlingensiepen eine bemerkenswerte Biografie geschrieben. Er hat neue Quellen ausgewertet und profitiert nicht zuletzt von persönlichen Kontakten zu Weggefährten Bonhoeffers. In unaufgeregtem Tonfall gelingt es ihm, Bonhoeffers Entschiedenheit als Prozess einzufangen. Er zeigt, wie sich dessen Motive im Laufe der Jahre verändert haben. (…) Seine Biografie geht über Eberhard Bethges Standardwerk teilweise hinaus, das den Wandel Bonhoeffers ebenfalls „vom Christen zum Zeitgenossen“ beschrieben hatte. Schlingensiepen zieht Bonhoeffers Denken nun aus der Nachkriegswahrnehmung heraus in die Gegenwart.“
Friedhard Teuffel, Der Tagesspiegel, 19. Oktober 2005

„Auf knapp 400 Textseiten gelingt ihm eine gleichmässig vorwärts eilende Lebensbeschreibung Bonhoeffers, in welche neue Dokumente eingearbeitet sind und dabei die so wichtigen zeitgeschichtlichen Kontexte dennoch nicht zu kurz kommen. (…) Anschaulich wird das Leben Bonhoeffers beschrieben (…).“
Niklaus Peter, Neue Zürcher Zeitung, 18. Oktober 2005

„Bonhoeffers erster Biograf, sein Freund und Mitwisser Eberhard Bethge, hat dargestellt, was den Theologen und Mitstreiter der Bekennenden Kirche zum Handeln trieb. Beide Biografen, Bethge und Schlingensiepen, stimmen darin überein, dass der Weg vom (öffentlichen) Protest zum (geheimen) Widerstand für Bonhoeffer moralisch entschieden war, als er von den Pogromen der so genannten Reichskristallnacht erfahren hatte. Jetzt käme alles darauf an, dass man das Ziel erreichte, Hitler auszuschalten. (…) Der Mann, der in diesen Jahren an einer christlichen Ethik schrieb, hielt 1940 selbst Landesverrat und Tyrannenmord unter gegebenen Umständen für sittlich geboten: (…) 1941 fragte er sich, ob er als Teilnehmer an der Verschwörung dazu noch das Abendmahl austeilen dürfe. „Wir machen uns“, schließt Ferdinand Schlingensiepen, „heute von den Skrupeln, die die Verschwörer zu überwinden hatten, kaum noch eine Vorstellung.“
Hannes Schwenger, Der Tagesspiegel, 12. September 2005



Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung 9

Vorwort 11

1. Vorfahren, Kindheit und Jugend 17

Die Vorfahren 17 - Eine großbürgerliche Familie 18 - Im Schatten des großen Krieges 27

2. Studienjahre (1923-1929) 35

Vom protestantischen Tübingen ins katholische Rom 35 - Berliner Lehrer 42 - Kindergottesdienst und familiäre Geselligkeit 49 - Max Diestel als «Entdecker» Bonhoeffers 52 - Ein 21jähriger Doktor der Theologie 53

3. Wanderjahre (1929-1931) 57

Als Vikar in Barcelona 57 - Predigten und Gemeindevorträge 65 - Don Qui-jote und Stierkampf 69 - Zurück in Berlin: Prüfungen, Veröffentlichungen und eine Gedenkrede 73 — Hochzeiten und ein neuer Freund 78 — Als Stipendiat in den USA 80 - Reisen nach Kuba und Mexiko 89 - Rückkehr in unruhiger Zeit 92

4. Vor dem Sturm (1931-1932) 94

Ein Besuch bei Karl Barth 94 - Der vielbeschäftigte Berufsanfänger 95 - Ökumenische Arbeit 99 - Ökumenische Reisen 105 - «Christentum bedeutet Entscheidung» 1l1 - «Wer bin ich?» 114 - Als Außenseiter an der Berliner Universität 115 - Ein Pfarrer für Studenten und Jugendliche 121 - Predigten im «Jahr der Entscheidung» 127

5. Das Jahr 1933 132

Die «neue Zeit» und die «Deutschen Christen» 132 - «Die Kirche vor der Judenfrage» 142 - Der Beginn des Kirchenkampfes 146 - Vom Pfarrernotbund zum Betheler Bekenntnis 153 - «Mit der theologisch begründeten Zurückhaltung brechen» 158

6. London (1933-1935) 162

Als deutscher Pfarrer in London 162 — Die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln 164 — Die Bekenntnissynode von Barmen 179 — Vom «Röhm-Putsch» zur Bekenntnissynode von Dahlem 182 — Die ökumenische Konferenz von Fanö 185 - Zukunftspläne 191

7. Finkenwalde (1935-1937) 195

Ein Predigerseminar in Pommern 195 — Der Reichskirchenminister kämpft gegen die Kirche 201 - Ökumenische Aufgaben, theologische Aufsätze 204 -Zwischen Begeisterung und Bedrängnis 209 - Die «Denkschrift» der Bekennenden Kirche 215 - Die «Nachfolge» und das Ende von Finkenwalde 219

8. In den Wäldern Hinterpommerns (1938-1940) 227

Die Sammelvikariate 227 — «Sie gehören auf die andere Seite» 229 — Der Weg in den Widerstand 234

9. New York (1939) 243

«Wer glaubt, flieht nicht» 243 - Die Rückkehr 246

10. Im Widerstand (1939-1943) 249

Auf der Reise zur Wirklichkeit 249 - Neue Umsturzpläne 252 - Visitationsreisen durch Ostpreußen 258 - Als V-Mann in der militärischen Abwehr 260 - Bonhoeffers «Ethik» 263 - Bei den Benediktinern in Ettal 266 - Die erste Reise in die Schweiz 273 — Schreibverbot 276 — Bonhoeffer und die Juden 277 — Der Krieg im Osten und die zweite Reise in die Schweiz 278 - Die ersten Deportationen und das «Unternehmen Sieben» 284 - Unfreiwillige Erholung 287- Neue Hoffnungen und der Kreisauer Kreis 288 - Attentatspläne und Gefahren -Schuld und Verantwortung 290 - Mit Helmuth James von Moltke in Oslo 295 -Die dritte Reise in die Schweiz 302 - Das Treffen mit Bischof Bell 304 - Maria von Wedemeyer 307 - Vom Christen zum Zeitgenossen 307 - Die Fortsetzung des «Kriegs hinter dem Krieg» 310 - Die Wedemeyers 314 - Der Freiburger Kreis 3 16 - Der Beginn einer schwierigen Verlobung 318 - Der Anfang vom Ende 320-Die Verlobung 324-Die Attentatsversuche vom März 1943 325

11. Die Haft (1943-1945) 328

Verhaftungen und erste Verhöre 328 - Im Militärgefängnis Tegel 336 - Weitere Verhöre und das Scheitern Roeders 342 - «Ich träume zum Himmel hinauf»: Die Brautbriefe 348 - Ein Seelsorger und Schriftsteller in Zelle 92 355 -Theologie für eine religionslose Zeit 363 — Der 20. Juli 1944 370 — Ein Rettungsplan 372 - In der Gewalt der Gestapo 373

12. Das Ende 381

Buchenwald 381 - Der Untergang von Patzig 383 -Die letzten sieben Tage 384


Epilog 391
Dank 394

Anhang

Anmerkungen 399 - Zeittafel 415 - Die Familie Bonhoeffer 421 - Bildnachweis 422 -
Personenregister 423



Leseprobe:

11. Die Haft (1943–1945)
Verhaftungen und erste Verhöre

Der Chef der Wehrmachtsrechtsabteilung, Lehmann, hatte Canaris noch in den ersten Apriltagen versichert, innerhalb der nächsten Tage werde in der Sache Dohnanyi nichts Gravierendes geschehen; er hoffe, den Fall der Geheimen Staatspolizei entziehen zu können. Was er nicht sagte, war, daß Kriminalkommissar Franz-Xaver Sonderegger bereits im Februar einen Bericht über den Fall Schmidhuber erstellt hatte, durch den Josef Müller, Dohnanyi und Bonhoeffer erheblich belastet wurden. Heinrich Müller, der Gestapo-Chef, vereinbarte mit Oberstkriegsgerichtsrat Roeder, er werde den Bericht Himmler geben, während Roeder ihn an Keitel weiterleiten sollte. Auf dem Dienstweg war Sondereggers Bericht zuerst an Lehmann gelangt, der zwei Kollegen einschaltete, die mit ihm der Meinung waren, das Ganze ziele auf Canaris. Am 8. März vereinbarte er darum telefonisch mit Keitel, der Sache müsse zwar nachgegangen werden, aber sie solle, wenn irgend möglich, von der Militärjustiz und nicht vom RSHA bearbeitet werden. Er empfahl Keitel, Roeder mit der Untersuchung zu beauftragen, weil das die Zustimmung des RSHA finden und die Angelegenheit so beim Reichskriegsgericht bleiben werde.
Am nächsten Morgen erschien Roeder mit Sonderegger bei Canaris und erklärte, er sei gekommen, um Dohnanyi festzunehmen. Der sichtlich erschütterte Chef der Abwehr zeigte ihm den Weg, und da man nur durch Osters Büro in Dohnanyis Zimmer gelangen konnte, erfuhr auch Oster, was Roeder vorhatte, und forderte ihn in schroffer Form auf, er möge ihn gleich mit verhaften; Dohnanyi habe nichts getan, wovon er keine Kenntnis habe. Dohnanyi wiederum hatte zwar gründlich aufgeräumt – ein größerer Geldbetrag, der der Bekennenden Kirche gehörte, war noch wenige Tage vorher in Sicherheit gebracht worden –, aber daß Roeder, Sonderegger, Oster und Canaris unangemeldet in sein Zimmer kamen, wirkte wie ein schwerer Schock auf ihn. Noch, als er abgeführt wurde, sei er ganz bleich gewesen, hat seine Sekretärin später berichtet.
Roeder erklärte Dohnanyi kurz, er sei verhaftet, und begann mit der Durchsuchung des Zimmers. Dabei kam es zu einem Zwischenfall, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den verschiedensten Fassungen als «Zettelaffäre» kolportiert worden ist. Obwohl Dohnanyi sein Zimmer von belastenden Unterlagen gesäubert hatte, fand Roeder einen grauen mit Z gekennzeichneten Aktendeckel mit drei Vermerken, die Dohnanyi sich für ein Gespräch am Nachmittag zurechtgelegt hatte. Einer befaßte sich mit der Lage der Bekennenden Kirche; mit dem zweiten sollte die für den 9. April vorgesehene Reise Müllers und Bonhoeffers nach Rom «abwehrdienstlich legitimiert» werden, während der dritte noch genauer auf Bonhoeffers Aufgaben dort einzugehen schien, für Eingeweihte aber die Arbeit der Freiburger Professoren beschrieb. Während die beiden Emissäre in Rom das Ausbleiben der Attentate vom 13. und 21. März erklären sollten, stand auf den Vermerken, die Roeder mit einem Bündel von Akten auf Dohnanyis Schreibtisch gelegt hatte, daß der «Vertreter eines mit der Diskussion des Friedenskonzeptes befaßten Kreises deutscher protestantischer Geistlicher in Rom Einfluß auf die Weihnachtsbotschaft des Papstes nehmen» solle, «in der erwartungsgemäß die weltweit beachteten Friedensvorstellungen der katholischen Kirche niedergelegt sein werden.»2 Dohnanyi wollte diese «Sprachregelung» noch von Canaris absegnen lassen und versuchte, die Akte mit dem Zettel über die Romreise aus dem Stapel, den Roeder auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, herauszuziehen, wurde aber von Roeder daran gehindert. Weil aber Dohnanyi kurz zuvor Oster zugeflüstert hatte: «Meiner Frau einen Zettel schicken!», und Oster wohl nur «Zettel» verstanden hatte, wollte dieser sie vorsichtig an sich bringen und in seine Rocktasche stecken. Sonderegger machte Roeder darauf aufmerksam. Oster mußte die Zettel herausgeben und wurde aus dem Zimmer gewiesen. Noch am selben Tag erreichte Roeder bei Keitel, daß Oster wegen des Verdachts auf Begünstigung im Amt suspendiert und unter Hausarrest gestellt wurde. Am 16. April wurde er als Stabschef der Abwehr entlassen und zur militärischen Führerreserve versetzt. Ohne es zu ahnen, hatte Roeder die Zentrale des Widerstandes lahmgelegt.
Dohnanyi wurde unter strengster Geheimhaltung in das Offiziersgefängnis beim Lehrter Bahnhof gebracht und dort unter falschem Namen eingewiesen. Sein Verfahren sollte als «geheime Kommandosache» durchgeführt werden. Roeder glaubte, in den Zetteln den Beweis für hochverräterische Aktionen Dohnanyis entdeckt zu haben, und sah sich bestätigt, als Oster bei einem Verhör erklärte, er habe die Zettel nie gesehen, geschweige denn einen von ihnen mit O. abgezeichnet.
Bonhoeffer hatte am 5. März mittags versucht, mit seiner Schwester Christine zu telefonieren; und als sich eine fremde Männerstimme meldete, durchzuckte ihn der Gedanke: dort findet eine Hausdurchsuchung statt. Ohne seine Eltern zu stören, ging er ins Nachbarhaus und ließ sich von seiner Schwester Ursula ein kräftiges Essen zubereiten. Dann prüfte er, ob seine Mansarde für eine Durchsuchung bereit war, und wartete mit Ursula und Rüdiger Schleicher ab, was kommen würde. Gegen 16 Uhr kam sein Vater herüber und sagte: «Zwei Männer möchten dich oben in deinem Zimmer sprechen.» Es waren Roeder und Sonderegger, die bereits seine Schwester Christine verhaftet hatten und wenig später mit ihm davonfuhren. In München waren am selben Tag Josef und Anni Müller festgenommen worden.
Maria von Wedemeyer war als Schwesternschülerin des Roten Kreuzes in Hannover. Sie hat damals ein Tagebuch geführt, das sie wenig später versiegelt hat, und das erst nach ihrem Tod geöffnet worden ist, als die Ausgabe der Brautbriefe Zelle 92 vorbereitet wurde. Unter dem 5. April 1943 fand sich die Eintragung: «Ist etwas Schlimmes geschehen? Ich fürchte, daß es etwas sehr Schlimmes ist.» (Bbr. 284) Am 18. April durfte sie zur Konfirmation ihres Bruders Hans-Werner nach Pätzig fahren. Dort erklärte sie ihrem Schwager Klaus von Bismarck bei einem Spaziergang, sie sei, allen Abmachungen zum Trotz, entschlossen, Dietrich zu sehen. Als die beiden ins Haus zurückkehrten, trafen sie auf Marias Onkel, Hans-Jürgen von Kleist, der ihnen sagte, Bonhoeffer sei verhaftet worden. Um sich zu ihrem Verlobten zu bekennen, bestand sie darauf, daß die Verlobung veröffentlicht würde. Ihre Mutter stimmte ihr zu. Auch sie fand, ihre Tochter könne jetzt gar nicht anders handeln.
Die Verschwörer, deren Aktionszentrum mit Dohnanyis Verhaftung und dem Hausarrest Osters von einem Augenblick zum andern weggefallen war, wußten, daß ihre persönliche Sicherheit davon abhing, wie die Verhafteten sich bei ihren Verhören verhalten würden. Auf das juristische Geschick von Hans von Dohnanyi und Josef Müller war Verlaß; und ihre Frauen konnten glaubhaft versichern, sie wüßten von nichts. Aber würde ein Pfarrer, der seine Beteiligung nicht abstreiten konnte, raffiniert gestellte Fangfragen eines Mannes wie Roeder durchschauen? Bonhoeffer war bei wichtigen Gesprächen dabeigewesen. Sein Treffen mit Bell war von Beck nicht nur genehmigt worden, der Generaloberst selbst hatte angeordnet, daß er dem englischen Bischof die Namen aller führenden Männer des Widerstands nennen sollte. Roeder galt als geschickt und brutal. Es konnte keine Frage sein: Für die Verschwörer war Bonhoeffer jetzt das schwächste Glied in der Kette. Nur wenn er richtig reagierte, konnte man ein neues Aktionszentrum aufbauen und von vorn anfangen; wenn nicht, würden sie alle vor den Volksgerichtshof kommen. Würde Bonhoeffer physischem Druck standhalten? Sobald Roeder herausfand, daß er jemanden vor sich hatte, der Wesentliches verschwieg und nur so tat, als sei er ein ahnungsloser Pfarrer, würde er den Häftling foltern lassen. Bonhoeffer wäre nicht das erste Opfer Roeders, dem es so erginge. Für die nächsten Wochen hing das Schicksal der Widerstandsbewegung von Dietrich Bonhoeffer ab.
Roeder, der Mann, dem der «Fall Dohnanyi» übertragen worden war und mit dem auch Bonhoeffer seine Sache ausfechten mußte, gehörte der Luftwaffe an und ließ bei Gesprächen gern einfließen, daß er in «Karinhall», Görings Palast in der Schorfheide, verkehrte. Er war zuvor Chefankläger beim Prozeß gegen die «Rote Kapelle» gewesen, und nur mit dem Hinweis auf ihn hatte Göring bei Hitler durchsetzen können, daß dieser Prozeß vor dem Kriegsgericht und nicht vor dem Volksgerichtshof geführt werden durfte. Auch für Dohnanyi und Bonhoeffer war das Kriegsgericht zuständig; aber die SS hatte Roeder vorab volle Unterstützung zugesagt. Für das RSHA war es nur ein Nebenzweck, diese Männer als Staatsfeinde «eliminieren» zu lassen. Der entscheidende Stoß sollte gegen das Amt Canaris geführt werden, damit der militärische Geheimdienst endlich in das RSHA eingegliedert werden konnte. Für Roeder, der mit mehreren hohen SS-Führern liiert war, hatte man darum ein Dienstzimmer im RSHA zur Verfügung gestellt, und Sonderegger, der in München den Fall Schmidhuber untersucht hatte, war ihm zugeteilt worden.
Roeder hat 45 Todesurteile im Prozeß gegen die «Rote Kapelle» erwirkt und war noch nach dem Krieg stolz darauf. Skrupellos, wie er war, hatte er erreichen können, daß Liane Berkowitz wenige Tage nach der Geburt ihres ersten Kindes enthauptet wurde, und nach dem Kriege ist ihm sogar die Hinrichtung schwangerer Frauen angelastet worden. In den Prozeß war auch der ehemalige preußische Kultusminister und spätere Intendant des NWDR, Adolf Grimme, verwickelt. Er hat nach dem Kriege ausgesagt, Roeder habe sich «als einer der unmenschlichsten, zynischsten und brutalsten Nationalsozialisten erwiesen», die ihm überhaupt begegnet seien. Bei der «Roten Kapelle» handelte sich um eine Widerstandsgruppe, die nach 1945 lange Zeit als solche nicht anerkannt worden ist, weil sie Kontakte zur Sowjetunion unterhalten hatte, um mit ihrer Hilfe das NS-Regime zu stürzen. Weil sie mit Geheimsendern operiert hatte und solche Leute in Nachrichtenkreisen «Pianisten» genannt wurden, hatte man der Gruppe den Namen «Rote Kapelle» gegeben. Aufgeflogen war sie durch unzureichend verschlüsselte Anweisungen der Sowjets, die Adressenangaben enthielten.
Als es der Gestapo gelungen war, den Code zu entschlüsseln, war die Gruppe aufgeflogen. Die ersten zwölf Todesurteile waren am 19. Dezember 1942 ergangen und drei Tage später in Plötzensee im Dreiminutentakt vollstreckt worden, nachdem Hitler zuvor die Fälle von Mildred Harnack und Erika Gräfin Brockdorff an einen anderen Senat des Reichskriegsgerichts überwiesen hatte, um ihre Zuchthausstrafen in Todesurteile umwandeln zu lassen.
Während der Verhöre von Dohnanyi und Bonhoeffer lief der Prozeß gegen Untergruppen der «Roten Kapelle» weiter. Dohnanyi mußte sich also auf einen harten Kampf gefaßt machen, und alles kam darauf an, daß Bonhoeffer sich genau an die Spielregeln hielt, die sein Schwager ihm für einen solchen Fall eingeschärft hatte. Dazu gehörte, daß Bonhoeffer alles, was ihm irgendwie gefährlich schien, auf Dohnanyi schieben sollte, der es durchschauen und abwehren würde.
Roeder sah in Dohnanyi den eigentlichen Gegner und hat vermutlich gedacht, ein Pfarrer sei ihm sowieso nicht gewachsen. Den Gefangenen hat er damit in die Hände gespielt. Die erste Periode von Bonhoeffers Haft spiegelt die Situation seines Schwagers, von der darum zuerst die Rede sein muß. Um sich klar als den eigentlich Verantwortlichen hinzustellen, verzichtete Dohnanyi darauf, einen Osterbrief an seine Familie zu schreiben, und verfaßte statt dessen am 23. April einen Brief an seinen Schwager, der in erster Linie für den mitlesenden Roeder gedacht war.

S. 328 - 332; Copyright Verlag C.H.Beck oHG