|
Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung
Grundlagen, Analysen, Kritik. Band 1: Schultheorie und Schulentwicklung
Max Fuchs, Tom Braun (Hrsg.)
Juventa Verlag
, Beltz
EAN: 9783779933267 (ISBN: 3-7799-3326-8)
278 Seiten, paperback, 15 x 23cm, Juni, 2015
EUR 34,95 alle Angaben ohne Gewähr
|
|
Umschlagtext
Eine Kulturschule bietet vielfältige Gelegenheiten einer ästhetischen Praxis. Der vorliegende Band zeigt, wie ein solcher Ansatz in die schultheoretische Diskussion eingebettet und wie der Fachunterricht durch die Einbeziehung ästhetisch-künstlerischer Methoden gestaltet werden kann.
Die Konzepte der »Kulturschule« und der »kulturellen Schulentwicklung« sind noch neu in der pädagogischen Fachterminologie. Allerdings breitet sich die Praxis einer kulturellen Profilbildung von Schule, was heißt, Kunst und Kultur als Möglichkeiten der Schulentwicklung zu nutzen, immer mehr aus. Der vorliegende Band vertieft die schultheoretischen Grundlagen der beiden Konzepte, er gibt einen Überblick über zentrale Elemente dieses Ansatzes – wie etwa Theorien des ästhetischen Lernens –, und er zeigt Möglichkeiten einer ästhetisch sensiblen Unterrichtsentwicklung auf. Zudem werden aktuelle Fragen der Sozialraumorientierung und der pädagogischen und ästhetischen Qualität aufgegriffen und diskutiert.
Rezension
Schulentwicklung und Schulprofil sind in aller Munde, seitdem den Schulen von der Kultusbürokratie mehr Eigenverantwortung zugestanden und von ihnen erwartet wird. Entsprechend bringen sich die verschiedenen schulischen und außerschulischen Bereiche in Stellung: sportliche, sprachliche, musische und naturwissenschaftliche Profilbildung wird entwickelt - und eben auch kulturell-ästhetische Schulentwicklung, wie sie hier unter dem noch recht jungen Begriff "Kulturschule" darstellt wird und wie dieser Band zeigt: Kunst und Kultur als Möglichkeiten der Schulentwicklung nutzen! Dabei verdeutlicht der Sammelband neben einer Grundlegung insbesondere, wie der Fachunterricht durch die Einbeziehung ästhetisch-künstlerischer Methoden gestaltet werden kann.
Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagwörter:
Erziehungswissenschaften | Schule | Pädagogik | Kultur | Unterricht
Kategorien:
Erziehungs- und Sozialwissenschaften
Erziehungswissenschaft
Inhaltsverzeichnis
Vorworte
Winfried Kneip und Tobias Diemer (Stiftung Mercator) 7
Gerd Taube und Tom Braun (Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung) 9
Zur Einführung
Die Konzepte der Kulturschule und der kulturellen Schulentwicklung
Max Fuchs 13
Teil 1
Ästhetisches Lernen und die Sozialraumorientierung von Schule – Überblicke
Ästhetisches Lernen – eine Standortbestimmung
Sarah Kuschel 26
Zur Sozialraumorientierung von Schule
Wolfgang Mack 88
Teil 2
Theorien von Schule und Schulentwicklung und die Kulturschule
Personorientierung und kulturelle Bildung – ein Vergleich pädagogischer Ansätze zur Grundlegung
und Gestaltung von Schulen
Gabriele Weigand 118
Ganztägige Bildung und ästhetisches Lernen
Neue Herausforderungen für Theorie und Praxis der Schulentwicklung
Ludwig Duncker 134
Schulkultur durch kulturelle Bildung: Die Kulturschule als wirksame Lernumgebung
Anne Sliwka, Britta Klopsch und Aleksandra Maksimovic 151
Kulturelle Bildung – ein Motor für kulturelle Schulentwicklung
Fragen an das Konzept einer „kulturellen Schulentwicklung“
Johannes Bastian 165
Teil 3
Ästhetisches Lernen im Fachunterricht
Ästhetische Bildung als Projekt der Differenzierung der Wahrnehmung
Jürgen Hasse 178
Biologieunterricht und kulturelle Bildung –
Gedanken zum kreativen Lernen in einer fachübergreifenden Naturwissenschaft
Claudia Wulff und Ralf Rappl 199
Die Schönheit der Mathematik
Thomas Weth 222
Künstlerische Verfahren im Fach Sport
Antje Klinge 233
Englisch lernen durch Theaterspielen: Kulturelle Bildung im Fremdsprachenunterricht
Susanne Thurn 250
Schlussbemerkungen
Konsequenzen und Perspektiven
Tom Braun 273
Die Autorinnen und Autoren 277
Leseprobe:
Zur Einführung
Die Konzepte der Kulturschule und der kulturellen Schulentwicklung
Max Fuchs
1 Ausgangspunkt und Ziele des Projektes
Das Forschungsprojekt „Beratung und wissenschaftliche Vertiefung des Kulturagenten-
Programms“ wurde im Rahmen meiner Beratung des Modellprojektes
„Kulturagenten für kreative Schulen“ von der Stiftung Mercator gefördert.
Dieses Modellprojekt hat mit dem Schuljahr 2011/2012 an insgesamt
138 Schulen in fünf Bundesländern begonnen. „Insgesamt 46 Kulturagentinnen
und Kulturagenten entwickeln über einen Zeitraum von vier Jahren gemeinsam
mit den Schüler/innen, dem Lehrerkollegium, der Schulleitung, Eltern,
Künstler/innen sowie Kulturinstitutionen ein umfassendes und
fächerübergreifendes Angebot der kulturellen Bildung und bauen langfristige
Kooperationen zwischen Schulen und Kulturinstitutionen auf. Ziel des
Programms ‚Kulturagenten für kreative Schulen‘ ist es also, Möglichkeiten,
Formate und Orte für die Auseinandersetzung mit Kunst und durch Kunst
in den Schulen zu schaffen und das in der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen
und Künstlern sowie Kultureinrichtungen.“ (So die Zielformulierung auf
der Homepage des Programms: www.kulturagenten-programm.de).
Im Hinblick auf die Schule lässt sich die Zielstellung dieses Programmes
auch so formulieren, dass sich die beteiligten Schulen während der Projektlaufzeit
mithilfe externer Berater/innen ein kulturelles Profil erarbeiten.
Schulen mit einem solchen kulturellen Profil bezeichnen sich inzwischen
häufig selbst als „Kulturschulen“. Es findet zudem der Vorschlag zunehmend
Verbreitung, diesen Prozess einer kulturellen Profilierung „kulturelle Schulentwicklung“
zu nennen (siehe Zeitschrift „Pädagogik“, 6/14). Zu beiden
Konzepten gibt es seit einigen Jahren im Kontext der Akademie Remscheid
intensive Überlegungen über ihre Ausformulierung und die notwendigen
theoretischen Grundlagen. Zudem gibt es vielfältige Kontakte mit zahlreichen
Schulen, etwa über das Landesbüro Nordrhein-Westfalen des Kultur-
agentenprogramms als auch über die Arbeitsstelle „Kulturelle Bildung in
Schule und Jugendarbeit NRW“.
Neben vielen praxisbezogenen Arbeitshilfen, die in den genannten Organisationen
entwickelt werden, gibt es zudem fortlaufend theoretische Reflexionen,
die sich in bislang drei Buchpublikationen niedergeschlagen haben
(Braun/Fuchs/Kelb 2010, Braun et al. 2013 und Fuchs 2012). Eine Kulturschule
im Verständnis dieser Überlegungen ist eine Schule mit einem ausgewiesenen
kulturellen Profil. Ein ausgewiesenes kulturelles Profil zeichnet sich
dadurch aus, dass das Prinzip Ästhetik in allen Qualitätsbereichen der Schule
zur Anwendung kommt. Die nationale und internationale Diskussion über
die Qualität von Schule stimmt weitgehend darin überein, dass man – mit
Unterschieden in der Bezeichnung oder in der Zusammenstellung – im Wesentlichen
die folgenden Qualitätsbereiche unterscheiden kann (hier in der
Formulierung des Qualitätstableaus von Nordrhein-Westfalen): Ergebnisse
der Schule (damit sind insbesondere die verschiedenen Abschlüsse gemeint),
Lernen und Lehren, Schulkultur (mit den Bereichen Lebensraum Schule, soziales
Klima, Ausstattung und Gestaltung des Schulgebäudes und -geländes,
Partizipation, außerschulische Kooperation), Führung und Schulmanagement,
Professionalität der Lehrkräfte und Ziele und Strategien der Qualitätsentwicklung.
Unschwer finden sich in solchen Qualitätstableaus im Hinblick
auf die Entwicklung der Schule die drei klassischen Elemente Personalentwicklung,
Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung.
Vor dem Hintergrund des Standes der Diskussion über Schulqualität
wurde im Rahmen des oben genannten Arbeitskontextes ein eigenes (BKJ-)
Qualitätstableau entwickelt, das die Dimensionen der Struktur-, Prozessund
Ergebnisqualität sowie die Evaluation auf die drei Ebenen Mikroebene
der Lehr- und Lernsituation, die Mesoebene der Institution und die Makroebene
des politischen Rahmens berücksichtigt.
Im Mittelpunkt aller Überlegungen zur kulturellen Bildung und damit
auch bei den Überlegungen zur kulturellen Bildung im Kontext von Schule
steht das Subjekt. Letztlich kommt es darauf an, dass sich die Bildungseinrichtungen
in der Verantwortung sehen, dazu beizutragen, dieses Subjekt mit
den notwendigen Kompetenzen auszustatten, sodass es ein gutes, gelingendes
und glückliches Leben führen kann. Für die Realisierung dieses Lebenszieles
ist natürlich die Schule nicht allein verantwortlich, allerdings ist auch
sie in der Verantwortung, ihren Beitrag zu leisten. Diese konzeptionelle Setzung,
dass das (lernende) Subjekt im Mittelpunkt steht, hat auch Folgen für
die oben genannten drei Elemente der Schulentwicklung, nämlich für die
Entwicklung des pädagogischen Personals, für die Entwicklung der Organisation
und für die Entwicklung des Unterrichts.
Für die Vertiefung der wissenschaftlichen Grundlagen einer so verstandenen
Kulturschule ergibt sich so eine Reihe von Fragen und Themenstellungen,
die allerdings nur zum Teil im Rahmen dieses begleitenden Forschungsprojektes
aufgegriffen werden konnten, zum Beispiel:
• Welche Rolle spielt eine ästhetische Praxis bei Lernprozessen?
Welche Rolle spielen im Rahmen einer solchen ästhetischen Praxis
die etablierten Künste und wie weit reicht das Verständnis des Ästhetischen?
Was bedeutet es, das Prinzip Ästhetik im Hinblick auf
die Gestaltung des Gebäudes, im Hinblick auf die Gestaltung der
Schulkultur, im Hinblick auf die Organisation des Sozialen in der
Schule anzuwenden?
• Welche unterschiedlichen Theorien von Schule gibt es, in denen
ähnliche Zielstellungen verfolgt werden? Welches sind die theoretischen
Grundlagen, auf die sich solche verwandte Schultheorien
beziehen? Welche Leerstellen im bislang entwickelten Konzept der
Kulturschule können bei einem solchen Vergleich identifiziert
werden?
• Welche Verständnisweisen von Lernen und Lehren gibt es, die eine
Affinität zum Ästhetischen haben? Wie muss die Professionalität
der Lehrenden beschaffen sein, in denen solche ästhetiknahe Lehrund
Lernformen praktiziert werden? Was bedeutet es insbesondere,
wenn das Prinzip Ästhetik in nicht-künstlerischen Fächern
zur Anwendung kommen soll?
• Wie muss die Schule organisiert sein, damit sie in der Lage ist,
nachhaltig und produktiv Kooperationsbeziehungen mit außerschulischen
Expert/innen (vor allem mit Künstler/innen) und mit
Kultureinrichtungen einzugehen?
• Welche Konzeptionen von Schulentwicklung gibt es, die bei dem
Prozess kultureller Schulentwicklung zugezogen werden können?
2 Umsetzung und Arbeitsweise
Die Perspektive der bisherigen Konzeptentwicklung zur Kulturschule wurde
dadurch erweitert, dass zum einen eine Reihe von vier Symposien zu ausgewählten
Schwerpunktthemen aus den oben angeführten Fragestellungen
durchgeführt wurde (Schultheorie, Unterrichtsentwicklung, pädagogische
Ästhetik, Kunstbegriff). Zudem konnten drei Aufträge vergeben werden, den
Sachstand zu relevanten Fragestellungen aufzuarbeiten (ästhetisches Lernen,
ästhetisches Lehren, Sozialraumorientierung).
Vor dem Hintergrund dieser Debatten und Arbeitsergebnisse wurde weiter
an den grundlegenden Begriffen, Konzepten und Prinzipien gearbeitet,
wobei durch Gespräche, Beratungen und Fortbildungen ein enger Kontakt
mit der Praxis der betroffenen Schulen gehalten wurde. Eine systematische
Evaluation der Kulturschulentwicklung war nicht Teil des Projektes. Diese
wurde im Rahmen des Kulturagentenprogramms gesondert in Auftrag gegeben.
Die durchgeführten Symposien waren geschlossene Veranstaltungen, an
denen die Mitglieder einer seit Jahren existierenden „Arbeitsgruppe kulturelle
Schulentwicklung“ in der Akademie Remscheid sowie gezielt eingeladene
Expert/innen zu den diskutierten Fragestellungen teilgenommen haben.
Eine weitere Facette der Forschungsarbeit war die Verstärkung der Beteiligung
an der internationalen Diskussion. Insbesondere hat der mit Tom
Braun gemeinsam verfasste Artikel „The development of culture schools“
(2015) für ein internationales Diskurs- und Handbuchprojekt (initiiert von
Shifra Schonmann, Universität Haifa, Projekt „Wisdom of the Many“) mehrere
interessante Arbeitskontakte zu Kolleg/innen in Norwegen, Kanada,
England und Dänemark eröffnet, die an ähnlichen Fragestellungen arbeiten.
3 Einige Ergebnisse
An dieser Stelle konzentriere ich mich auf die schulbezogenen Ergebnisse, so
wie sie in dem vorliegenden Band durch die einzelnen Beiträge nahe gelegt
werden. Der zweite Band wird mit seinem Schwerpunkt Ästhetik die zu dieser
Thematik gehörenden Fragen und Ergebnisse aufgreifen.
Es sollen dabei die einzelnen Beiträge nicht im Detail referiert werden,
was auch deshalb schlecht möglich wäre, weil jeder einzelne von ihnen in einem
umfangreichen Forschungskontext steht. Es sollen vielmehr einzelne
Aspekte und Dimensionen herausgegriffen werden, bei denen ein unmittelbarer
Vergleich mit den theoretischen Grundlagen der Konzeption einer
Kulturschule der kulturellen Schulentwicklung nahe liegt.
Das Subjekt im Mittelpunkt und die Kulturschule
als Schule der Person
Ein roter Faden aller Beiträge kann in einer kritischen Haltung gegenüber
einem eindimensionalen Verständnis von Schule gesehen werden, das diese
einseitig sowohl auf eine kognitive Dimension reduziert, das die Schule zu
stark an Bedürfnissen der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft ori-
entiert, und das zudem die kognitive Ausrichtung auch noch in einer unzureichenden
Weise umsetzt. Dieses geteilte Grundverständnis findet sich auch
in den Beiträgen im dritten Teil, in dem Vertreter/innen der so genannten
MINT-Fächer Biologie und Mathematik sowie der Fächer Geografie, Sprachen
und Sport sehr deutlich die kulturelle und ästhetische Dimension der
jeweiligen Fachgebiete herausarbeiten und diese als Grundlage für ein nichtreduktionistisches
Verständnis von Lernen und Lehren nehmen.
Es geht in allen Beiträgen ebenso wie im Konzept der Kulturschule um
eine Respektierung der Unhintergehbarkeit und Unverfügbarkeit der Individualität
und der Subjektivität des/r Einzelnen, insbesondere des/r einzelnen
Schülers/in. Gabriele Weigand verwendet in diesem Kontext das Konzept der
Person für eine anthropologische Grundlegung der Institution der Schule.
Sie entwickelt in ihrem Beitrag auf der Basis ihrer umfassenden Studien zu
diesem Thema wesentliche Bestimmungen des Menschseins, auf die eine
Schule der Person reagieren muss, und sie zeigt, dass der anspruchsvolle Begriff
der Person, der mit den Leitbegriffen der philosophischen Ethik wie
etwa Verantwortung und Freiheit aufs engste verbunden ist, in ganz praktischer
Weise für die Entwicklung und Evaluation der Institution Schule verwendet
werden kann.
Dieser Beitrag erinnert daran, dass die Pädagogik ursprünglich ein Teil
der praktischen Philosophie war und dass die alltägliche Arbeit der Lehrer/
-innen in besonderer Weise einem Ethos verpflichtet sein muss. Weigand
kommt zu dem Ergebnis, dass auf konzeptioneller Ebene eine Kulturschule
eine große Verwandtschaft mit einer Schule der Person in ihrem Sinne hat.
Sie stellt zudem die wichtige Frage danach, wie sich das Verhältnis zwischen
Ethik und Ästhetik in einer solchen Schule gestaltet. Diesen Aspekt findet sie
in den von ihr verwendeten Texten zur Kulturschule zu wenig thematisiert.
In der Tat scheint dies eine Lücke in der bisherigen Konzeptentwicklung zu
sein, wobei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen wird, dass meine Einführung
in die Ästhetik „Kunst als kulturelle Praxis“ (Fuchs 2011) ein langes
Kapitel zu genau dieser Fragestellung hat und ich auch in mehreren Beiträgen
immer wieder die Überzeugung vertrete, dass der Autonomiebegriff der Ästhetik
oft zu leichtfertig in pädagogischen (und kulturpolitischen) Kontexten
verwendet wird und gerade in der Pädagogik bei allem Respekt vor der Eigenständigkeit
ästhetischer Fragen die ethische Dimension die relevantere ist
(siehe Bd. 2 „Zur ästhetischen Dimension von Schule“).
Eine vergleichbare kritische Auffassung über die derzeitige bildungspolitische
Ausrichtung im Hinblick auf die Entwicklung von Schule vertritt
Ludwig Duncker (2007). Er zeigt insbesondere im Hinblick auf die anstehende
Bedeutung der Ganztagsschule im deutschen Schulsystem, dass eine
Überwindung einer von ihm beobachteten Funktionalisierung der Schule
einseitig zugunsten angeblich ökonomischer Bedürfnislagen unabdingbar
ist, wenn die Interessen der Schüler/innen – durchaus als Personen im Sinne
von Weigand – berücksichtigt werden sollen.
Noch ein Stück näher an der konkreten Entwicklung einer Schule ist der
Beitrag von Anne Sliwka und ihren Kolleginnen. Dieser Beitrag thematisiert
die hohe Bedeutung der Schulkultur als Lernumgebung. Gerade bei einem
Verständnis von Schule als Haus des Lernens, so wie es die Bildungskommission
Nordrhein-Westfalen (1995) seinerzeit formuliert hat, muss das Verständnis
des Lernens (verbunden mit einem angemessenen Konzept des Lehrens,
vgl. die Texte von Kuschel in diesem Band, S. 26 ff. und Klepacki/
Klepacki/Lohwasser in Bd. 2: „Zur ästhetischen Dimension von Schule“) bei
der Gestaltung von Schule eine zentrale Rolle spielen. Dies gilt insbesondere
auch für den Beitrag von Johannes Bastian mit seinem Konzept einer pädagogischen
Schulentwicklung. Dass zudem das Wesen des Menschen durch
seine Fähigkeit zum Lernen zumindest mitbestimmt wird, ist Kernthema einer
pädagogischen Anthropologie.
Der Beitrag von Sliwka et al. erschließt zudem eine aktuelle Bestandsaufnahme
der Organisation for Economic Co-operation and Development
(OECD), die in sieben Prinzipien des Lernens verdichtet wird (Dumont/
Istance/Benavides 2010). Der Beitrag untersucht, inwieweit das vorliegende
Konzept einer Kulturschule dieser aktuellen Bestandsaufnahme über zeitgemäße
Konzeptionen des Lernens entspricht – mit einem positiven Ergebnis.
Die besondere Rolle leiblichen Lernens, die Bedeutung des Lernmilieus, die
Bedeutung der Motivation, die insbesondere dann entsteht, wenn die von
Edward L. Deci und Richard M. Ryan formulierten drei Bedingungen erfüllt
sind (sich mit einem sozialen Milieu verbunden zu fühlen, in diesem Milieu
effektiv zu wirken und sich dabei persönlich autonom und initiativ zu erfahren)
sind kompatibel; nicht nur mit den Prinzipien einer Kulturschule und
den dort realisierten kulturpädagogischen Arbeitsprinzipien, sie entspricht
auch den Grundsätzen, die den Beiträgen von Bastian und Weigand zugrunde
liegen.
Hilfreich sind in diesem Kontext die Fragen, die Bastian auf der Basis der
von ihm mitentwickelten Theorie der pädagogischen Schulentwicklung an
die Kulturschule stellt. Kern dieses Ansatzes ist die Forderung, das Kerngeschäft
von Unterricht in den Mittelpunkt der Schulentwicklung zu stellen
(„unterrichtzentrierte Schulentwicklung“).
Dieser Gedanke entspricht den Erfahrungen mit der Umsetzung des Kulturschulkonzeptes
in der Praxis, dass nämlich Entwicklung eines kulturellen
Profils von Schule nur dann gelingt, wenn alle Beteiligten in ihrer alltäglichen
Praxis erfahren, dass dieses Konzept von Nutzen für sie ist. Es handelt sich
hierbei nicht um einen oberflächlichen Utilitarismus, sondern um einen
legitimen Anspruch an die alltägliche Lebensführung in der Lebenswelt
Schule für beide Seiten: für Lehrer/innen und für Schüler/innen. Die kritischen
Rückfragen, die Bastian an das Kulturschulkonzept stellt, betreffen dabei
nicht bloß eine kohärente Konzeption auf der theoretischen Ebene, sondern
sie fragen, ob sich in der Praxis die in der Theorie formulierten Prinzipien
und Leitlinien auch belegen lassen. Einzelne dieser Fragen lassen sich auf
der Basis des bisher vorliegenden empirischen Materials bislang noch nicht beantworten
(etwa die Frage nach einer Verschiebung der Schülerklientel bei der
Entwicklung eines kulturellen Profils in Richtung Mittelschicht).
Eine weitere Frage von Bastian, inwieweit das „Prinzip Ästhetik“ sich
nicht nur in den künstlerischen Fächern, in den Arbeitsgemeinschaften und
in den Kooperationen mit Künstler/innen sowie Kultureinrichtungen realisieren
lässt, sondern inwieweit es insbesondere bei den nicht-künstlerischen
Fächern eine Rolle spielt, beantwortet u. a. Teil drei dieses Buches. Es sind
gerade kunstaffine Fachdidaktiker/innen aus den nichtkünstlerischen Fächern,
die die Verbindung ihres jeweiligen Faches mit der Dimension des
Ästhetischen nicht bloß auf theoretischer Ebene aufzeigen, sondern die auch
veranschaulichen, inwieweit diese ästhetische Dimension Eingang in die entsprechende
praktische Unterrichtsgestaltung finden kann. Hierbei ist es insbesondere
die leibliche und ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung (siehe
Hasse, S. 178 ff., Klinge, S. 233 ff. und Wulff/Rappl, S. 199 ff. in diesem Band),
die geradezu zu einem Kernbegriff der Didaktik wird und somit zwanglos
eine Verbindung zu den im 2. Band „Zur ästhetischen Dimension von
Schule“ thematisierten ästhetischen Fragestellungen herstellt (siehe auch den
Text von Kuschel, S. 26 ff. in diesem Band sowie Göhlich/Zirfas 2007). Damit
wird zumindest gezeigt, dass ein ästhetischer Weltzugang nicht auf die
Künste im engeren Sinne begrenzt ist, sondern Teil der generellen Selbstund
Weltverhältnisse des Menschen ist. Auch dieser Gedanke lässt sich mit
einer entsprechenden Anthropologie, wie sie etwa von Gabriele Weigand
entwickelt worden ist, begründen. Mir scheint hierbei die Philosophie der
symbolischen Formen von Ernst Cassirer eine geeignete Anthropologie und
Kulturphilosophie zu sein (Fuchs 2008).
So wichtig es ist, dass man zeigen kann, dass im Grundsatz das Ästhetische
ein Element jedes Weltzuganges ist, so genügt dies für die Alltagspraxis
von Lehrer/innen nicht. Bedeutsam ist daher der Hinweis von Bastian, dass
es notwendig ist, sehr viel umfangreicher als bisher mit Arbeitshilfen die Arbeit
der Lehrer/innen zu unterstützen.
Einige Konsequenzen
Wie oben erwähnt geht es in diesem begleitenden Forschungsprojekt nicht
um eine Evaluation der Praxis kultureller Schulentwicklung. Es finden sich
allerdings viele Hinweise für eine Ausgestaltung einer solchen empirischen
Untersuchung in den vorgestellten Texten.
Auf konzeptioneller Ebene lässt sich das vielleicht immer noch nicht für
alle hinreichend deutlich gewordene Konzept einer Kulturschule durch weitere
Bestimmungsmerkmale konkretisieren und präzisieren. So kann man
die Kulturschule, gerade dann, wenn sie als Ganztagsschule einen größeren
Platz im Leben, sowohl der Schüler/innen als auch der Lehrer/innen einnimmt
(siehe Bastian 2007), als eine Lebenswelt mit eigenen Prinzipien und
Gesetzmäßigkeiten verstehen. Die Kulturschule ist ein eigenständiger Kulturraum,
der ein anregungsreiches Milieu bereitstellt, in dem man vielfältige ästhetische
Erfahrungen machen kann. Eine Kulturschule sollte ein Ort der Anerkennung
und Wertschätzung sein, der Lust auf Lernen und Leben macht.
Dabei ist insbesondere die Rolle der Teilhabe und Partizipation von großer
Bedeutung, ganz so wie es der amerikanische Philosoph und Pädagoge John
Dewey beschrieben hat: die Schule sei eine demokratisch organisierte embryonic
society. Die Kulturschule als Schule der Person ist ein Ort, in dem
sich starke Subjekte entwickeln können, die nicht bloß mit vorgefertigtem
Wissen konfrontiert werden, sondern die bei gemeinsamen Problemlösungen
wichtige Impulse für ihre Entwicklung erhalten.
Die Entwicklung von Lebensführungskompetenzen in der Lebenswelt Schule
Die Auseinandersetzung insbesondere mit den Arbeiten der Wissenschaftler/
innen, die an dem Projekt beteiligt waren, hat dazu geführt, die eigenen
konzeptionellen und theoretischen Grundlagen zu hinterfragen, zu konkretisieren
und zu präzisieren. Es ist insbesondere der Gedanke, die praktische
Philosophie als traditionelle Heimat der Pädagogik erneut zu ihrem Recht
kommen zu lassen. Dies zeigt sich etwa daran, dass der Gedanke des Heranwachsenden
als Subjekt seiner Verhältnisse (in meinen Augen von seinen Ergebnissen
her weitgehend identisch mit dem Konzept der Person, so wie es
Gabriele Weigand im Jahr 2004 entwickelt hat, allerdings mit zum Teil unterschiedlichen
historischen und philosophischen Bezügen) durch entsprechende
Untersuchungen im Bereich der Ethik und der Philosophischen
Anthropologie präzisiert werden kann. Insbesondere ist es die systematische
Grundlegung einer Ethik von Volker Gerhardt (1999), die den Einzelnen in
seinem sozialen Kontext versteht („Das Prinzip der Individualität“, so der
Untertitel seines Buches) und wesentliche Elemente der Personalität bzw.
Subjektivität identifiziert: Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Selbstherrschaft,
Selbstbestimmung und Selbstzweck, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein,
Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetz-
gebung und Selbstverwirklichung. Diese Begriffe werden zunächst auf einer
philosophischen (und damit abstrakteren) Ebene eingeführt, sie finden sich
aber auch als selbstverständliche Leitlinien und Prinzipien in den hier wiedergegebenen
Texten.
Mir scheint daher der Ansatz plausibel zu sein, diese zunächst noch abstrakten
Begriffe auf in der Praxis handhabbare Konzepte zu transformieren,
die auch als Basis für eine empirische Evaluation dienen können. Ansätze für
eine solche Transformation in die Praxis habe ich in einigen Texten in den
vergangenen Monaten vorgeschlagen (Fuchs 2015a, Teil 1). Es erscheint zudem
ertragreich zu sein, an die Debatten anzuschließen, die wir seinerzeit im
Rahmen der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung
(BKJ) rund um das Konzept der „Lebenskunst“ geführt haben, bei denen es
auch darum ging, eine Ethik individueller Lebensführung auf der Basis einer
entsprechenden Anthropologie für eine kulturpädagogische Praxis nutzbar
zu machen.
Aus der damaligen Debatte, die sich zum Teil auch aus einem Widerstand
gegen ein technokratisches Denken bei der Erfassung der Wirksamkeit von
Bildungsangeboten ergeben hat (es ging um das damalige „Neue Steuerungsmodell“
und das damit verbundene Verständnis von Evaluation) hat sich die
Idee entwickelt, die Qualität kulturpädagogischer Arbeit auf eine angemessenere
Weise erfassen und bewerten zu können. Das Ergebnis war der Kompetenznachweis
Kultur (KNK), ein außerschulischer Bildungspass, der auf
der Realisierung des dialogischen Prinzips basierte: Der/die betroffene Jugendliche
sollte mit dem/r pädagogisch-künstlerischen Experten/in seine
persönlichen Entwicklungen in dem Kulturprojekt beschreiben und reflektieren.
Ein Grundgedanke hierbei war, dass die betroffenen Jugendlichen
selbst Subjekte ihres Lernprozesses sind und daher auch selbst über ihre
Lernprozesse nachdenken können.
Im Anschluss an diese Debatten habe ich das Konzept der Lebensführung
und der Lebensführungskompetenzen erneut aufgegriffen, wobei ich zum
einen auf theoretische Ansätze einer subjektorientierten Soziologie (Projektgruppe
Alltägliche Lebensführung 1995), dem Alterswerk von Klaus
Holzkamp (1995) sowie neuere Arbeiten etwa zur Kritik von Lebensformen
(Jaeggi 2014) zurückgreifen konnte. Die bislang vorliegenden Arbeiten zu
dieser Thematik, die sowohl philosophische und pädagogische Grundlagenfragen,
die die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Dimension pädagogischer
Angebote und die schließlich Beobachtungen und Beratungen der
konkreten kulturellen Schulentwicklungspraxis betreffen, wurden an verschiedenen
Stellen veröffentlicht und sind jetzt gesammelt online verfügbar
(Fuchs 2015a). Insbesondere scheint mir für die weitere Forschungsarbeit
von Bedeutung zu sein, dass mit diesem Ansatz weitere relevante Diskurse
und Forschungen rund um das Thema des Wohlbefindens und des guten,
gelingenden und glücklichen Lebens nutzbar gemacht werden können, so
wie es Olaf-Axel Burow bereits in seiner „Positiven Pädagogik“ (2011) tut
oder wie es insbesondere im „13. Kinder- und Jugendbericht“ des Bundes
(BMFSFJ 2009; Leitung: Heiner Keupp) geschieht. Dazu gehören etwa Konzepte
wie Salutogenese (Aaron Antonovsky), das Konzept der Selbstwirksamkeit
(Albert Bandura), das Konzept der positiven Entwicklung (R. Lerner), der
capability-Ansatz (Matha Nussbaum und Amartya Sen), die Konzeption der
„Big Five“ aus der Persönlichkeitspsychologie und die auch von Sliwka verwendeten
Konzepte von Deci und Ryan (vgl. insgesamt Brandtstädter 2011
und Brandtstädter/Lindenberger 2007 sowie Fuchs 2015b).
Literatur
Bastian, Johannes (2007): Einführung in die Unterrichtsentwicklung. Weinheim/Basel: Beltz.
Bildungskommission NRW (1995): Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Neuwied:
Luchterhand.
BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009): 13. Kinderund
Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 2. Aufl. Berlin: Selbstverlag.
Brandtstädter, Jochen (2011): Positive Entwicklung. Zur Psychologie gelingender Lebensführung.
Heidelberg: Spektrum.
Brandtstädter, Jochen/Lindenberger, Ulman (Hrsg.) (2007): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne.
Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.
Braun, Tom/Fuchs, Max (2015): The development of culture schools. In: Schonmann, Shifra
(Ed.): Wisdom of the Many. Key issues in arts education. Münster: Waxmann (in appear).
Braun, Tom/Fuchs, Max/Kelb, Viola (Hrsg.) (2010): Auf dem Weg zur Kulturschule I. München:
kopaed.
Braun, Tom/Fuchs, Max/Kelb, Viola/Schorn, Brigitte (Hrsg.) (2013): Auf dem Weg zur Kulturschule
II. München: kopaed.
Burow, Olaf-Axel (2011): Positive Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz.
Dumont, Hanna/Istance, David/Benavides, Francisco (Eds.) (2010): The Nature of Learning.
Paris: OECD.
Duncker, Ludwig (2007): Die Grundschule. Weinheim/München: Juventa.
Fuchs, Max (2008): Die Macht der Symbole. Ein Versuch über Kultur, Medien und Subjektivität.
München: Utz.
Fuchs, Max (2011): Kunst als kulturelle Praxis. München: kopaed.
Fuchs, Max (2012): Die Kulturschule. München: kopaed.
Fuchs, Max (2015a): Kulturelle Bildung, die Schule und die Kunst. Aufsätze und Vorträge
2013/2014. Wuppertal [Download unter: www.maxfuchs.eu].
Fuchs, Max (2015b): Lebensführungskompetenzen und die Schule. In: Ders. (2015): Kulturelle
Bildung, die Schule und die Kunst. Aufsätze und Vorträge 2013/2014. Wuppertal [Download
unter: www.maxfuchs.eu].
Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam.
Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg (2007): Lernen. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart: Kohlhammer.
Holzkamp, Klaus (Hrsg.) (1995): Lebensführung. Klaus Holzkamp zum Gedächtnis. Das Argument
212, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 37. Jg., Heft 6, November/
Dezember 1995.
Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Pädagogik. Heft 6/14. Schwerpunkt: Kulturelle Schulentwicklung. Weinheim: Beltz.
Projektgruppe Alltägliche Lebensführung (1995): Alltägliche Lebensführung. Opladen: Leske +
Budrich.
Weigand, Gabriele (2004): Die Schule der Person. Würzburg: Ergon
|
|
|