lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Die Freiheit des Verstehens Eine hermeneutisch-kritische Theorie
Die Freiheit des Verstehens
Eine hermeneutisch-kritische Theorie




Georg W. Bertram

Suhrkamp
EAN: 9783518300312 (ISBN: 3-518-30031-8)
306 Seiten, paperback, 11 x 18cm, Januar, 2024

EUR 25,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Es gilt zu begreifen, dass Verstehen von Grund auf mit einem Potential der Freiheit verbunden ist.
Rezension
Ist Verstehen als Modus der Welterschließung per se traditionalistisch und affirmativ? Stehen hermeneutische Philosophie und kritische Theorie in einem Verhältnis des unauflösbaren Gegensatzes zueinander? Beruht Verstehen auf der Prämisse der Unfreiheit? Bedarf hermeneutisches Philosophieren einer Reaktualisierung im gegenwärtigen philosophischen Diskurs?
Tiefsinnige Antworten auf diese philosophischen Fragen liefert Georg W. Bertram (*1967) in seiner Monographie „Die Freiheit des Verstehens. Eine hermeneutisch-kritische Theorie“, erschienen im Suhrkamp Verlag. Bekanntheit erlangte der Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin durch seine Werke „Kunst. Eine philosophische Einführung“(2005), „Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik“(2014) und durch den von ihm herausgegebenen Band „Gedankenexperimente“(2012). In seiner neuen Monographie nimmt er die in der analytischen Philosophie nachweisbaren Tendenzen einer Rehabilitierung des Verstehens auf.
Bertram entwickelt in seinem Buch eine „kritische Theorie des Verstehens“(S. 21). „Kritisch“ fasst er dabei nicht im speziellen Sinne der Frankfurter Schule, sondern allgemein als „grundlegende Klärung und kontextorientierte Problematisierung“(S. 22). Der Philosoph vertritt die These, dass alles Verstehen das Potential der Freiheit enthält. Das Verhältnis von Verstehen und Freiheit ist demnach gerade nicht als Gegensatz zu denken. Dazu identifiziert er unter Verweis auf die Grundstrukturen der Praxis von Menschen zentrale Strukturmomente des Verstehens: improvisatorische Praxis, Sozialität, Konflikte als Grundlage und Selbstkritik von Subjekten. Bezug nimmt er dabei u.a. auf Philosoph:innen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Hans-Georg Gadamer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Stanley Cavell, Jacques Derrida, John McDowell und Judith Butler. Mit guten Gründen kann Bertram darlegen, „dass das hermeneutische Denken von sich aus nach kritischer Theorie und dass die kritische Theorie von sich aus nach Hermeneutik verlangt“(S. 22). Hierin liegt ein entscheidender Verdienst seines Buches, nämlich aufzuzeigen, dass hermeneutische Philosophie und kritische Theorie nicht in einem antagonistischen Verhältnis zueinanderstehen.
Deshalb – auch in Abgrenzung zu den ontologisch begründeten philosophischen Hermeneutiken Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers – bezeichnet Bertram die in seinem Buch entwickelte Theorie des Verstehens als „hermeneutisch-kritische Theorie“. Nicht berücksichtigt werden in seinem Buch Arbeiten zur hermeneutischen Logik bzw. Philosophie von – im gegenwärtigen Diskurs marginalisierten- Philosophen, welche auf die „Kritik der historischen Vernunft“ Wilhelm Diltheys rekurrieren, wie Georg Misch, Hans Lipps, Josef König oder Otto Friedrich Bollnow. Manche Kritik an ontologischen Hermeneutikvarianten trifft auf lebensphilosophisch fundierte nämlich nicht zu. Zudem lassen sich Bezüge der hermeneutischen Philosophien zu der von Bertram entwickelten „hermeneutisch-kritischen Theorie“ herstellen. Lehrkräfte der Fächer Philosophie und Ethik werden durch den vorliegenden Band jedenfalls motiviert, sich in ihrem Fachunterricht mit der Philosophie des Verstehens problemorientiert auseinanderzusetzen.
Fazit: Georg W. Bertram leistet mit seinem Buch „Die Freiheit des Verstehens“ einen wichtigen Beitrag zur Reaktualisierung des Verstehens im aktuellen philosophischen Diskurs und damit zu einem hermeneutisch-kritischen Philosophieren.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Georg W. Bertram
Die Freiheit des Verstehens
Eine hermeneutisch-kritische Theorie
Theorien des Verstehens und kritische Theorien werden häufig als Gegenpositionen begriffen. Georg Bertram zeigt in seinem neuen Buch, dass dies nicht so sein muss. Verstehen ist seinem Entwurf zufolge konstitutiv mit Prozessen der Kritik und Selbstkritik verbunden – mit Prozessen, die ihrerseits in Konflikten wurzeln. Aus diesem Grund ist Verstehen, wo es sich einstellt, nicht selbstverständlich, sondern Teil einer in umfassender Weise improvisatorischen Praxis. Von dieser hermeneutischen Praxis der Freiheit aus lässt sich erkennen, was Subjekte ausmacht.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung 9
Einleitung 11
Kapitel I Die Selbstverständlichkeit des Verstehens und
das Problem der Freiheit 28
1. Gadamer: Verstehen als Frage-und-Antwort-Geschehen 31
2. Davidson: Verstehen als radikale Interpretation 41
3. McDowell: Die Verpflichtung zur Reflexion 50
4. Was ist zu tun? – Ein Zwischenstand 59
5. Ausblick auf eine Hermeneutik der Freiheit 66
Kapitel II Der improvisatorische Charakter des Verstehens –
eine programmatische Rekonstruktion 69
1. Improvisation als normative Praxis 72
1.1 Auf dem Weg zu einem Vorbegriff der Improvisation 75
1.2 Die Grundstruktur von Improvisationen:
Einzelaktion versus Interaktion 78
1.3 Normen in statu nascendi 85
1.4 Improvisatorische Fähigkeiten und die evaluative
Dimension improvisatorischer Praktiken 90
2. Verstehen als improvisatorisches Geschehen:
drei grundlegende Aspekte 96
2.1 Die Wandelbarkeit des Verstehens (Chomsky/Davidson) 97
2.2 Verstehen als Antwortgeschehen
(Wittgenstein/Gadamer/Kleist) 104
2.3 Die Plastizität der Fähigkeiten sprachlichen Verstehens
(Malabou) 111
3. Die offene Normativität des Verstehens 117
3.1 Konstante Weiterentwicklung von Normen
(Hegel/Wittgenstein) 119
3.2 Normen des Verstehens und die Spannung zwischen
Individuen und überindividuellen
Praxiszusammenhängen 124
3.3 Strukturen des Verstehens und ihr mögliches Erstarren
als Grundlage von Freiheit 129
Kapitel III Konflikte als Grundlage des Verstehens 136
1. Die soziale Grammatik von Konflikten 138
1.1 Anerkennung als konfliktive Praxis 141
1.2 Asymmetrische Anerkennungsverhältnisse im Konflikt 147
1.3 Die Notwendigkeit der Reflexion und die Herstellung
von Gemeinsamkeit im Konflikt 153
1.4 Die Weltorientierung im Konflikt 160
2. Konflikte im Verstehen 166
2.1 Wiederholungsketten des Verstehens 168
2.2 Konflikte, Verunsicherung und die Öffnung
der Sprache zur Welt 175
2.3 Gemeinsamkeiten in Konflikten über Verständnisse
(Arendt/Cavell) 179
2.4 Das Ringen um Kriterien 184
3. Radical Interpretation Revisited 191
3.1 Gemeinschaft des Konflikts 191
3.2 Freiheit aus dem Konflikt 194
3.3 Reibung an der Welt 196
Kapitel IV Subjekte als Instanzen von Selbstkritik 198
1. Auf dem Weg zu einem
hermeneutisch-kritischen Begriff der Subjektivität 203
1.1 Vier Modelle der Einheit des Subjekts 204
1.2 Integration und Öffnung 221
1.3 Die Unganzheit des Subjekts 225
1.4 Die Distanzierung von Subjekt und Objekt 229
2. Die Struktur der für Subjekte konstitutiven Selbstkritik 233
2.1 Zur Kritik der existenzphilosophischen Deutung
von Selbstkritik 234
2.2 Zur Kritik der psychoanalytischen Deutung
von Selbstkritik 238
2.3 Die Entwicklung von Distanz und Nähe
in der Selbstkritik: das engagierte Subjekt
(Taylor/Foucault/Schmitt) 242
2.4 Selbstkritik als Selbstverunsicherung (Hegel) 248
3. Subjekte des Verstehens – ein letzter Zwischenstand 255
Kapitel V Das Potential der Freiheit 264
1. Freiheit als Aufgabe: Die konstitutive Rolle von
Anerkennungskonflikten (Fichte/Hegel) 266
2. Freiheit aus dem Umgang mit … (McDowell/Butler) 272
3. Zwang und Freiheit im Verstehen (Rousseau/Freud) 281
4. Der soziale und geschichtliche Charakter des
Zusammenhangs von Zwang und Freiheit im Verstehen 290
5. Freiheit und die Kritik der Macht des Verstehens 297