Gedankenexperimente werden von Philosoph:innen in ihren Werken zum Erkenntnisgewinn eingesetzt. Zu den Meisterstücken der Philosophiegeschichte zählen der Ring des Gyges von Platon, der Schleier des Nichtwissens von John Rawls oder das chinesische Zimmer von John Searle. Es lassen sich unterschiedliche Varianten von Was-wäre-wenn-Überlegungen identifizieren, je nachdem wie die Realität verändert wird. So gibt es solche mit logischen Umkehrungen, mit der Addition bzw. Subtraktion von Fähigkeiten oder der Multiplikation von Personen. Eine relativ einfache kontrafaktische Annahme wäre zum Beispiel, dass man mit einem Klon von sich selbst zusammenleben müsste.
Ein diesem strukturähnliches Gedankenexperiment wird literarisch verarbeitet in dem internationalen Bestseller von Hervé Le Tellier (*1957), der 2020 im französischen Original unter dem Titel „L` Anomalie“ erschien. Der Roman des französischen Schriftstellers und Präsidenten der Autorengruppe OuLiPo gewann im gleichen Jahr dafür den Prix Goncourt; mittlerweile wurde er in 34 Sprachen übersetzt und sogar schon verfilmt. Im August 2021 erschien das Werk in einer hervorragenden deutschen Übersetzung von Jürgen Ritte (*1956) und Romy Ritte (*1957) unter dem Titel „Die Anomalie“ im Rowohlt Verlag. Bereits im Oktober 2021 erreichte es die sechste Auflage.
Das Setting des im Roman literarisch beschriebenen Gedankenexperiments ist folgendes. Eine Boeing 787 fliegt im März 2021 von Paris nach New York. 106 Tage später landet das Flugzeug erneut in der amerikanischen Metropole. Der Clou ist nun, dass bei beiden Landungen dieselben Passagiere das Flugzeug verlassen. Und das Personentableau hat es in sich. An Bord waren Menschen, die alle ein Doppelleben führen, nämlich ein Architekt mit seiner Geliebten, ein Familienvater und Auftragskiller, ein nigerianischer Popsänger, ein Schriftsteller und eine amerikanische Schauspielerin. Nun werden sie mit einem Klon von sich selbst konfrontiert. Dabei ergeben sich komplexe Situationen und witzige Dialoge. Das Buch von Le Tellier liest sich wie ein Thriller, wie eine Komödie und wie ein philosophischer Roman. Zurecht wurde es als ein Werk der Weltliteratur gewürdigt. Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Ethik und Französisch mögen sich überlegen, ob sie den Roman nicht mit ihren Schüler:innen im Unterricht lesen, interpretieren und diskutieren.
Fazit: Hervé Le Tellier ist mit seinem jüngsten Buch „Die Anomalie“ ein literarisches Meisterwerk gelungen, dass allen an Gedankenexperimenten Interessierten ein intellektuelles Lesevergnügen bereitet.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de

Die Anomalie
Übersetzt von: Romy Ritte, Jürgen Ritte
Der spektakuläre Bestseller aus Frankreich: eine brillante Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur. Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt − sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt.
Hochkomisch und teuflisch intelligent spielt der Roman mit unseren Gewissheiten und fragt nach den Grenzen von Sprache, Literatur und Leben. Facettenreich, weltumfassend, ein literarisches Ereignis.

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