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Ambivalenz und Glaube Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss
Ambivalenz und Glaube
Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss




Michael Klessmann

Kohlhammer
EAN: 9783170344556 (ISBN: 3-17-034455-2)
289 Seiten, paperback, 16 x 23cm, 2018, 6 Abb.

EUR 34,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Postmoderne ist charakterisiert durch ein "Ende der Eindeutigkeit" (Zygmunt Bauman). Auf die ständige Begegnung mit Vielfalt (Ambiguität) in den gegenwärtigen pluralen Lebenskontexten müssen Menschen mit der Fähigkeit zur Ambivalenz, der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Gefühle und Gedanken, reagieren. Auch der Glaube, die religiöse Einstellung ist davon betroffen. Psychologische und soziologische Ambivalenzkonzepte sowie anthropologische und hermeneutische Beobachtungen legen es nahe, Ambivalenzen im Vollzug und im Blick auf die Inhalte des Glaubens aufzuspüren und für die Praxis des Glaubens, für die Praxis der Kirche fruchtbar zu machen. Ambivalenz bezeichnet nicht länger einen zu überwindenden Makel, sondern eine Ressource für Kreativität auch im Glauben. Ein Literaturverzeichnis zu dem Band finden Sie unter "Zusatzmaterialien" auf der Verlagshomepage.

Prof. em. Dr. Michael Klessmann lehrte Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und ist Lehrsupervisor in der DGfP.
Rezension
Konflikte zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung sind nicht neu, sie werden jedoch zunehmend als unversöhnlich wahrgenommen, weil es keine alles tragende und verbindende religiöse Basis mehr gibt. Glaube baut traditionell auf (Glaubens-)Gewissheit (certitudo / nicht: securitas = Sicherheit) auf; angesichts des "Endes der Eindeutigkeit" (Zygmunt Bauman) in der pluralistischen Postmoderne ist aber auch der Glaube aufgefordert, seine Gewissheit(en) zu überdenken und sich der Ambivalenz, der Ambiguität oder auch dem Zweifel zu öffnen, wie der protestantische Theologe Paul Tillich bereits vor mehr als 50 Jahren forderte ... Dieses Buch fordert diese Neu-Positionierung von Glaube und Theologie in praktisch-theologischer Perspektive und zielt auf Ambivalenz: für einen lebendigen, widersprüchlichen und konfliktfreudigen Glauben in Theologie und Kirche mit einem vom »entweder – oder« zum »sowohl – als auch« (vgl. Kap. 9). Der Begriff des Glaubens muss in postmodernen Zeiten erweitert und differenzierter gedacht werden. Die bisherigen Konnotationen des Glaubens im religiösen Verstehenszusammenhang – Vertrauen, Gewissheit, Festigkeit, Sicherheit, im Bild gesprochen: Der Fels in der Brandung – passen zum einen nicht mehr zu einer Welt, die in zunehmendem Maß durch Flexibilität, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit gekennzeichnet ist. Das erscheint mehr als überfällig (auch für die Religionspädagogik) und bietet ein schlüssiges Gegenkonzept zu jeder Form von religiösem Fundamentalismus. Was in der Vergangenheit im Verständnis des Glaubens als zu überwindende Ausnahmeerscheinung galt – Zweifel, Unsicherheit, Anfechtung angesichts der Weltverhältnisse – muss inzwischen als »normaler«, dauerhafter, ja als notwendiger Bestandteil des Glaubens gelten. In der Ambivalenz kommt Glaube in Kontakt mit dem ganzen Leben, mit seinen Schönheiten und mit seinen Grausamkeiten. Die These wird plausibilisiert (nach einer Darstellung der psychologischen und soziologischen Begriffsentwicklung) mit exemplarischen Durchgängen durch Anthropologie, Entwicklungspsychologie, Hermeneutik und Theologie.

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9

Einleitung: Glaube – Zweifel – Ambivalenz 12

1. »Es wackelt alles« (Ernst Troeltsch) 12
2. Glaube als Vertrauen und fraglose Gewissheit? 16
3. Zweifel/Anfechtung im Glauben 21
4. Glaubensambivalenz: »Zum Amen gehört das Aber« 24
5. Zielsetzung des Buches 29

Teil I: Psycho-soziale Perspektiven

1. Das Ende der Eindeutigkeit 35

1.1 Ambivalenz als Signatur der Postmoderne 35
1.1.1 Der Konstruktivismus: Wirklichkeit als menschliche Konstruktion 39
1.1.2 Ein Blick auf die Hirnforschung: Wir konstruieren unsere Welt im Gehirn 40
1.1.3 Rezeptionsästhetik: Die Vielschichtigkeit des Verstehens 42
1.1.4 Identitätstheorie: Wer bin ich und wenn ja wie viele? 45
1.1.5 Die Begriffe: Ambiguität und Ambivalenz 47
1.2 Fundamentalismus als Gegenbewegung 52
1.3 Das Ende der Eindeutigkeit auch im Glauben?! 58

2. Ambivalenz und Ambivalenztoleranz: psychologische Aspekte 63

2.1 Zur Vorgeschichte in Mythologie und Literatur 63
2.2 Eugen Bleuler (1857–1939) 66
2.3 Carl Gustav Jung (1875–1961) 68
2.4 Sigmund Freud (1856–1939) 69
2.4.1 Psychoanalyse als Hermeneutik und ihre Ambivalenzen 69
2.4.2 Ambivalenz als Ausdruck eines innerpsychischen Konflikts 71
2.5 Psychoanalytische Entwicklungspsychologie 74
2.6 Else Frenkel-Brunswik und die Ambivalenztoleranz 79
2.7 Kommunikation und Ambivalenz 81
2.8 Schluss: Ambivalenztoleranz als Autonomiegewinn und Quelle von Resilienz 86

3. Soziologische Aspekte der Ambivalenz 88

3.1 Individualisierung als Voraussetzung von Ambivalenzwahrnehmung 88
3.2 Soziale Strukturen generieren Ambivalenz 91
3.2.1 Rolle und Ambivalenz 92
3.2.2 Ambivalenz in Generationenbeziehungen 95
3.2.3 Patchwork-Identität und Ambivalenz 97
3.3 Ambivalenz als Oszillieren 101
3.4 Gesellschaftliche Abwehr von Ambivalenz 103
3.5 Thesen: Ambivalenz gestalten 106
3.6 Exkurs: Zum Umgang mit strukturell bedingter Ambivalenz am Beispiel der Krankenhausseelsorge 109

4. Der Mensch im Widerspruch: Anthropologische Grundlagen von Ambiguität und Ambivalenz 113

4.1 Der Mensch als Leib und Seele 114
4.2 männlich – weiblich – transgender 116
4.3 Der Mensch als Individuum in der Gesellschaft 117
4.3.1 Die »Gemeinschaft der Heiligen« (Kirche) und Individualität 119
4.4 Der Mensch zwischen Abhängigkeit und Streben nach Autonomie 121
4.5 Der Mensch als dialogischesWesen 124
4.6 Der Mensch als Konfliktwesen 126
4.6.1 Intrapersonale Konflikte 126
4.6.2 Interpersonale Konflikte 128
4.6.3 Rollenkonflikte 129
4.6.4 Strukturelle Konflikte 129
4.7 Der Mensch zwischen Sein und Sollen 131
4.8 Die vieldeutige Sprache des Menschen 132
4.9 Schluss 136

Teil II: Theologische Perspektiven

5. Die Dynamik des Glaubens – aus entwicklungspsychologischer Sicht 139
5.1 Glaube und »die Modernisierung der Seele« 140
5.2 Glaube und die Einsichten der Entwicklungspsychologie 141
5.2.1 Die Anfänge: Eriksons epigenetische Theorie und der Glaube 142
5.2.2 Der psychologische Ursprung Gottes im Menschen nach Ana-Maria Rizzuto 146
5.2.3 Stufen, Stile und Domänen des Glaubens (James Fowler, Heinz Streib) 148
5.2.4 Die Glaubenslebenslaufimaginationen nach Konstanze Kemnitzer 152
5.3 Zusammenfassung 153

6. Theologische Hermeneutik: Ambiguitäten und Ambivalenzen in Auslegungsvollzügen 155

6.1 Glaube als deutende Antwort auf Erfahrung 155
6.2 Überlieferung und Auslegung 156
6.3 Die Ambivalenz des Hörens auf die Worte der Schrift 160
6.4 Die Notwendigkeit der Auslegung 164
6.5 Die Wertschätzung der Vieldeutigkeit: Rabbinische Schriftauslegung 166
6.6 Die Tendenz zur Eindeutigkeit: Christliche Textauslegung 171
6.7 Verlust und Wiedergewinn der Glaubensambivalenz 173

7. »Ich glaube, dass ich glaube« – Ambiguitäten und Ambivalenzen im Vollzug des Glaubens (fides qua creditur) 176

7.1 Glaube: Überzeugungen/Deutungen/Annahmen über die Wirklichkeit 177
7.2 Glaube und Religion 181
7.3 Glaube und (Symbol-)Sprache 183
7.4 Glaube und Erfahrung 185
7.5 Glaube und Denken/Wissen/Lernen 186
7.6 Glaube und Meinen/Annehmen/Vermuten/Für-wahr-halten 191
7.7 Glaube und Vertrauen 193
7.8 Glaube und Gefühl 196
7.9 Glaube und Angst 199
7.10 Glaube – Liebe – Hoffnung 202
7.11 Glaube und Gewissheit/Sicherheit 203
7.12 Glaube und Gehorsam/Sich Ergeben 205
7.13 Glaube und Entscheidung 209
7.14 Glaube und Bekenntnis 210
7.15 Glaube und Gebet 212
7.16 Glaube und Zweifel/Anfechtung 213
7.17 Glaube und Handeln 215
7.18 Fazit: »Ich glaube, dass ich glaube« (Gianni Vattimo) oder die Poesie des Glaubens 217

8. Woran/was glaube ich eigentlich? Ambiguitäten und Ambivalenzen der Glaubensinhalte (fides quae creditur) 219

8.1 Menschen glauben an Gott – und können »IHN« prinzipiell nicht erkennen 222
8.2 Die Vielzahl der Gottesbilder und das Bilderverbot 227
8.3 Der verborgene und der offenbare Gott 230
8.4 Der zornige und der liebende Gott 232
8.5 Der dreieine Gott 235
8.6 Der historische Jesus und der geglaubte Christus 237
8.7 Der Geist weht, wo er will 239
8.8 Sichtbare und unsichtbare Kirche 242
8.9 Eschatologie: Hoffnung auf Erlösung von allen Ambivalenzen? 244
8.10 Der Mensch als Sünder und Gerechtfertigter zugleich 246
8.11 Fazit: Die Notwendigkeit offener, ambiguitärer Konstrukte von Gott und vom Menschen 248

Teil III: Ambivalenz im Glaubensleben

9. Ein Lob der Ambivalenz: für einen lebendigen, widersprüchlichen und konfliktfreudigen Glauben in Theologie und Kirche. Oder: Vom »entweder – oder« zum »sowohl – als auch« 253
9.1 Produktive Glaubens-Ambivalenz 253
9.2 Religiöse Identität im Zeitalter des Chamäleons 256
9.3 Ambivalenzen des Glaubens – noch einmal anders 261
9.3.1 Ambivalente Auswirkungen von Religion und Glaube 261
9.3.2 Hermeneutik der Gewissheit und des Verdachts 262
9.3.3 Glaube als negative capability 263
9.3.4 Ungewissheitsmanagement im Glauben 265
9.3.5 Glaube ist kein dauerhafter Regressionsraum 266
9.4 Ambivalenz in Gotteserfahrungen – Zuspitzungen aus der Theologiegeschichte 267
9.5 Glaubensambivalenz in der Praxis der Kirche 271
9.5.1 Ambivalenz in der Predigt 272
9.5.2 Ambivalenz in der Seelsorge 275
9.5.3 Ambivalenz in der Liturgie 278
9.5.4 Ambivalenz in Kasualien 280
9.5.5 Ambivalenz im Religionsunterricht 281
9.6 Glaubensambivalenz individuell wahrnehmen und gestalten 283
9.7 Schluss: Die »Mystik« der Ambivalenz 288