Ist es möglich, eine für die breite Leserschaft verständliche Geschichte Europas zu schreiben, welche den aktuellen historischen Forschungsstand berücksichtigt? Ja! Davon konnte sich jeder überzeugen, der Ian Kershaws (*1943) Bestseller „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“ (2016) gelesen hat. Der zweite Teil seiner Geschichte Europas mit dem Titel „Achterbahn. Europa 1950 bis heute“ ist nun in deutscher Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt in der „Deutschen Verlags-Anstalt“ erschienen.
Wie in seinem ersten Band erzählt der renommierte Historiker, bekannt beispielsweise durch seine exzellenten NS-Studien „Der Hitlermythos“ (1980), „Der NS-Staat“ (1985), „Hitler. 1889-1945“ (1998/2000) oder „Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45“ (2011), in seinem neuen Buch hervorragend die Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Jahresende 2017. Souverän gelingt es Kershaw, die unterschiedlichen Entwicklungen und Ereignisse in den europäischen Nationen unter die Metapher „Achterbahn“ zu subsumieren. Damit verdeutlicht er, dass die Geschichte Europas in diesem Zeitraum trotz aller langfristigen politischen, rechtlichen und sozialen Fortschritte nicht als lineare Erfolgsgeschichte zu begreifen ist, sondern als eine Kurve mit Extrem- und Wendepunkten. Als Wendepunkte gelten ihm in seiner chronologischen Darstellung die Jahre 1973, 1989, 2001 und 2008. Einen besonderen Fokus legt Kershaw dabei auf die Transformationsprozesse in Deutschland, da er diesen für die europäische Geschichte eine Schlüsselfunktion zuspricht.
Während Tony Judt (1948-2010) in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ (2006) die Bedeutung des „europäischen Gedächtnis“ anlässlich von Holocaust und Diktaturen thematisiert und Konrad H. Jarausch (*1941) in seinem Werk „Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ (2018) die Ambivalenzen der Moderne fokussiert (vgl. meine Rezension unter https://lbib.de/Aus-der-Asche-Eine-neue-Geschichte-Europas-im-20-Jahrhundert-100911), legt Kershaw in seinem Buch den Schwerpunkt auf die Globalisierung, die er als ökonomische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Transformation versteht. Gegenwärtig sieht der preisgekrönte Historiker eine „neue Ära der Unsicherheit“ in Europa anbrechen, deren größte Herausforderung die ökologische Krise ist. Die Umwelt-Thematik kommt in Kershaws großer Synthese der Geschichte Europas allerdings zu kurz. „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ (1979) des Philosophen Hans Jonas (1903-1993) hätte in der Darstellung Kershaws Erwähnung verdient.
Gemäß dem Axiom moderner Geschichtswissenschaft, der Offenheit von Geschichte, konstatiert der Historiker bezüglich der zukünftigen Entwicklung Europas: „Die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit.“ Die von Kershaw identifizierten Errungenschaften Europas im 20. Jahrhundert, nämlich Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „relative Wohlfahrt“, verdienen angesichts der Zunahme eines aggressiven Nationalismus und des Trends zu „Retrotopien“ (Zygmunt Bauman) in den EU-Staaten in Politik und Öffentlichkeit mehr Gehör.
Fazit: Ian Kershaws Buch „Achterbahn. Europa 1950 bis heute“, das zu Recht zum Standardwerk der modernen Geschichtsschreibung avancieren wird, ist eine lohnende Lektüre für jeden historisch Interessierten. Aufgrund seiner sehr guten Kombination von Narrativität und differenzierter Analyse europäischer Geschichte kann es jeder Geschichtslehrkraft nur zur Anschaffung empfohlen werden.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de

Kershaws große Geschichte Europas im 20. Jahrhundert geht weiter

In seinem Bestseller »Höllensturz« hat Ian Kershaw meisterhaft die dramatische Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt. In seinem neuen Buch »Achterbahn« nimmt der renommierte Historiker nun die Jahre von 1950 bis heute in den Blick und spannt einen großen Bogen von der existentiellen Unsicherheit, die die Staaten Europas im Kalten Krieg durchlebten, bis zu den Herausforderungen, vor denen sie heute, in Zeiten ökonomischer und politischer Krisen stehen. Trotz einer bis heute andauernden Phase des Friedens, so Kershaw, sind die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Europa eine Achterbahnfahrt – voller Aufs und Abs, voller Nervenkitzel und Ängste. Und mit ungewissem Ausgang.

»Derzeit gibt es kaum etwas Sinnvolleres als die Lektüre dieses klugen Buches.«
Ulrich Herbert, Süddeutsche Zeitung (11. März 2019)

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