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Stadtforschung als Gesellschaftsforschung Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt
Stadtforschung als Gesellschaftsforschung
Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt




Johanna Rolshoven

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EAN: 9783839459959 (ISBN: 3-8394-5995-8)
330 Seiten, paperback, 15 x 22cm, Oktober, 2021

EUR 37,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In Städten werden plurale gesellschaftliche Alltage und Konflikte gemeistert und Soziales über Kommunikation und Handlung hergestellt. Welche zeitgenössischen gesellschaftlichen Konturen lassen sich daraus ablesen? Wie könnten zukünftige Gesellschaftsmodelle aussehen? Johanna Rolshovens kulturanalytischer Zugang schlägt eine Lesart vor, die an der Komplexität von Gesellschaft ansetzt. In Form eines illustrierten Lehrbuches werden eine historisch-kritische, akteurszentrierte und raumtheoretische Perspektive eingenommen und aufschlussreiche Akzente für Stadtforschung, Architektur und Kulturpolitik gesetzt.
Rezension
Städte unterliegen einem steten Wandel. Sie haben es „mit hochmobilen Situationen und Verhältnissen zu tun, die sich am Festen, Gebauten und Tradierten reiben“. Deshalb müssen in jeder Generation die Methoden zu ihrer Erforschung den Situationen, dem Raum und der Zeit angepasst werden. Rolshoven erteilt stringent allen Objektivitätsansprüchen der Vergangenheit eine Absage. Denn „Offenheit, Fragmentarisches, Flüchtiges, die Mobilisierung der Sinne und Aufmerksamkeit“ bilden in der Gegenwart die Basis für einen von ihr vorgeschlagenen „Prozess der schwebenden Stadtbetrachtung“, die sich im Gehen ausdrückt. Sie will im Folgenden die Stadt als Gesellschaftsanalyse den Lesenden nahe bringen.

Im Kapitel „Parcours der Erkenntnisinteressen“ breitet sie die Komplexität von Sichtweisen auf die Stadt vor den Lesern aus.
Tourismus, Verkehrs- und Wirtschaftsstärke, historische Architektur, Bildungschancen und Kulturangebote lassen sie zu Sehnsuchtsorten weit über ihre Grenzen werden. Nicht zuletzt ziehen sie deshalb auch Flüchtlingsströme an. Außerdem üben u.a. Zweitwohnsitze, bedingt durch die hohe Mobilität im Arbeitsmarkt Druck auf die Situation am sozialen Wohnungsmarkt aus. Städte führen ihr Entstehen auf Migration und daraus resultierende Konflikte zurück. Im Zentrum der kulturanalytischen Stadtforschung steht nun „das Veränderliche, und Transitorische in einer Gesellschaft, das sich in der Transformation von individuellen Rollen. Identitäten, Netzwerken und Beziehungen zeigt“. Schlussfolgernd müssen die Methoden interdisziplinär sein. Statistiken, bebaute und unbebaute Räume, Macht- und Ohnmachtskonzentrationen in verschiedenen Stadtvierteln, Kriminalität u.v.m. lenken den Blick auf das Alltagshandeln, denn Struktur und Handeln sind miteinander verknüpft. Eine „trialektische“ methodische Analyse nimmt die „Großstadt als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Komplexität, an der sich das ‚Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Kontrolle‘ zeigen lässt“, wahr. Die Triade umfasst drei Fokussierungen:
- „Stadt als Lebensraum für das Lebendige“ (der soziale Raum von Menschen, Tiere, Pflanzen),
- „als „diskursiver (…) Raum der Repräsentationen und Ideologien“
- „als konkreten materialen, gebauten Raum“ zu dem auch die Infrastruktur gerechnet werden muss
Umfasst wird das räumliche Handeln von dem Faktor Zeit.

Der Entwicklung der Volkskunde und der erst spät einsetzenden Stadtforschung widmet sich Johanna Rolshoven im Kapitel „Stadtgeschichte: Wurzeln und Episteme werden zu Rhizomen“. Beginnend von der Bewahrung der schwindenden Traditionen im ländlichen Raum, spart sie die Rolle der Volkskunde im Nationalsozialismus nicht aus und führt stringent zur „Falkenstein“-Erklärung, die einen Wandel im Verständnis der Europäischen Kulturanthropologie erwirkt – das nun als Vielnamenfach firmiert. Vielseitige Impulse werden in der Darstellung der Forschungsansätze im anglophonen Raum, der Chicagoer Schule, dem Hull House, der estnischen, finnischen, schweizerischen sowie österreichischen Stadtforschung aufgezeigt. Hinweise auf neu zu setzende Schwerpunkte, Desiderate und Impulse aus der Vergangenheit der Stadtforschung runden das Kapitel ab.
Den Methoden der Stadtforschung nähert sich die Autorin in Form eines eigenen Erlebens. Die pulsierende Dynamik der Stadt erfordert eine „schwebende Methode“, die den Impuls des Augenblicks einfangen kann. Sie fängt die Begegnung ein, die sich in Alltagsgesprächen und der Erkenntnis einer Forschungsfrage nähert. Klassische Formen der Interviews wechseln sich mit der Suche nach Grund-/Kontextwissen und einer ersten Analyse ab, die in Forschungsnotizen reflektiert werden. Exzerpte festigen die Erkenntnis und werfen neue Fragen auf. Empirische Datengewinnung wird von multidisziplinärer Gruppenforschung getragen, die durch Verstehen und Verständnis im politischen Engagement gipfeln kann.

Der Kontextualisierung widmet sie zwei Kapitel. Im ersten, „Kontextualisierung I“, zeigt sie, wie im Raum der Stadt die jeweilige Zeit und die Gegenwart der Forschenden durch das Studium der Medien wie Tagesnachrichten (lokal, international), Gespräche zum Zeitgeschehen, Besuche von Kunst und Kultur und das Lesen der Literatur engagierter Impulsgeber das Geschehen kontextualisiert. Mit dem Nachsinnen über Gesellschaft verweist sie auf die Verquickung des Einzelnen innerhalb der sozialen und politischen Machtverhältnisse. Jene strukturieren wiederum seine „Handlungsmöglichkeiten und -freiheiten“. Die daraus resultierenden Konflikte ergeben das notwendige Spannungsfeld, dass die Dynamik der Städte gebiert.

Mit „Kontextualisierung II“ nimmt sie sich der Erläuterung wichtiger theoretischer Grundbegriffe an, um Erkanntes zeiträumlich und politisch zu situieren und eine Reflexion sowie Diskussion „auf begrifflich abstrakten Metaebenen“ anzuregen. Ein absolutes Grundprinzip einer Stadt ist ihre Offenheit dem Fremden an sich gegenüber. Offenheit als ein demokratisches Prinzip gilt dem bebauten Raum, den Bewohnern, ihren Partizipationschancen und der Pluralität gegenüber. Eine „geschlossene“ Stadt widerspräche den demokratischen Prinzipien. Sie schlösse Pluralität, Stadtgerechtigkeit, Wachstum an sich und Genderorientierung aus. Ein Exkurs zur „Historizität der Stadt“ leitet zu den Formen der Lesbarkeit derselben über. Anhand der erläuternden Beispiele eröffnen sich weitere Methoden der Stadtforschung, um ihre Textur zu entziffern, ihren Habitus zu erkennen. Mit „Soundscapes- und Smellscape Studies“ erschließen sich den Forschenden die Atmosphäre, die Wahrnehmung und die „Rhetorik des Gehens“ innerhalb einer mobilen Stadt. Ein weiters Augenmerk richtet sie auf die innere und äußere Urbanität, ihre Chance der Emanzipation, ihre Gefahren, Möglichkeiten, die Anonymität und dem sozialen Gefälle.

Die zentralen Parameter eben dieser Kontextualisierungen und Konstellations-analysen arbeitet sie in dem Kapitel „Stadt und Gesellschaft, in der Gegenwart“ sehr engagiert heraus. Eine Vielzahl von technischen, sozialen und ökonomischen Mobilitäten führt zu einer „Zeit-Raum-Kompression“. Gleichzeitig erhöht sich der Individualisierungsprozess, der sich in einer Raumrelativierung durch „Ortspolyzentrik und Multilokalität“ niederschlägt. Einen knappen Abriss der historische Entwicklung dieses Geschehens wird mit „Etappen ökonomischen Wandels: Fordismus, Postfordismus Neoliberalismus, Gouvernementalität“ überschrieben und stellt eine glasklare Situationsanalyse bis hin zur Pandemie dar. In zwei weiteren kleinen Artikeln entfaltet Johanna Rolshoven ihre komprimierte Darstellung und plastiziert sie am Beispiel der Stadtentwicklung Marseilles. Es ist ein einziger Genuss ihre Ausführungen zu lesen und mit ihr zu durchdenken.

Mobilität, Migration und die daraus zwangsläufig resultierenden Konflikte sind impulsgebend für die Entwicklung einer Stadt. Im Kapitel „The wohle way of conflict“: An der Stadt als Ort der Greifbarkeit gesellschaftlicher Konflikte“ entfaltet die Autorin an einzelnen Kulminationspunkten wie der Stadtangst, der auch selbst produzierten Verunsicherung, der Kriminalität, der „Produktivkraft des Verbrechens“ die zerstörenden und aufbauenden, ja integrierenden Seiten von Krisen. Sie deutet das Raum-Zeitgeschehen auf globaler, regionaler und lokaler Ebene, wobei sie die gegenseitig durch die Stadtbevölkerung angenommene und wahrgenommene Durchdringung der Ebenen als eine weitere Krise herauskristallisiert. Auf der Folie der weltweit zu findenden Megastädte geht sie näher auf Entwicklungen europäischer Metropolen ein. Sie legt die ambivalenten Begriffe der Integrationsfähigkeit und der interkulturellen Urbanität auf die Waage, um das Thema einer „offenen Stadt“ zu diskutieren.

Im Kapitel “People make cities, but cities make citizens.“ Ausblicke: Stadtbürger_innenschaft“ stellt sie noch einmal ihre aufgezeigten Positionen zur Diskussion und eröffnet Perspektiven der Stadtforschung. Eine Möglichkeit des Fazits sieht sie im Gedanken des „ius domicile“, einem „Bürgerschaftsrecht, das an den Wohnraum gebunden ist“ und die nationalstaatliche Sichtweise ablösen oder doch zumindest ergänzen könnte. Damit würde ein weiterer „Schritt in Richtung Entnationalisierung des Zivilrechts“ unternommen werden. Ihre Forderung ist, Stadt und Gesellschaft in jeder Gegenwart neu und nach vorn hin offen zu denken. Im Jetzt sieht sie die Bürgerschaft in der Auflösung der nationalstaatlichen Horizonte und Grenzen, die nicht mehr obsolet, sondern hinderlich für die Fragen und Antworten der Zeit werden.

Johanna Rolshoven bleibt konzentriert an der akteurszentrierten, kulturanalytischen Perspektive auf die Stadt als die Konstituierung von Gesellschaft. Sie öffnet mit ihrer Arbeit die Augen und die Sichtweise auf das, was europäische Ethnologie mit ihren Methoden zur gesellschaftlichen Analyse der Zeit beizutragen vermag.
Diese Schrift ist in erster Linie für die Hand der Lehrenden und Studierenden gedacht. Einzelne Auszüge können sehr gut im gesellschaftsbezogenen Unterricht der oberen Klassen und der Berufsschulen zur Gesellschaftsanalyse bzw. dem sich Eindenken in lebendige Strukturen und den daraus erwachsenden Aufgaben für die einzelnen Fachrichtungen genutzt werden.
Ich bin von dem Buch begeistert. Es ist sehr fundiert, fordert zur Diskussion heraus und ist ausdrücklich offen für neue Gedanken.



Claudia-Maria Maruschke für die Lehrerbibliothek Lbib.de
Verlagsinfo
In Städten werden plurale gesellschaftliche Alltage und Konflikte gemeistert und Soziales über Kommunikation und Handlung hergestellt. Welche zeitgenössischen gesellschaftlichen Konturen lassen sich daraus ablesen? Wie könnten zukünftige Gesellschaftsmodelle aussehen? Johanna Rolshovens kulturanalytischer Zugang schlägt eine Lesart vor, die an der Komplexität von Gesellschaft ansetzt. In ihrem illustrierten Lehrbuch nimmt sie eine historisch-kritische, akteurszentrierte und raumtheoretische Perspektive ein und setzt aufschlussreiche Akzente für Stadtforschung, Architektur und Kulturpolitik.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Seiten 7 - 10

PARCOURS DER ERKENNTNISINTERESSEN: PERSPEKTIVIERUNGEN VON STADT
Spätmoderne Stadterfahrung 11
Stadtforschung als Gesellschaftsanalyse 15
Kulturanalyse als Relativierungsarbeit 17
Stadtforschung als Beschreibung von Kulturdynamik 20
Die Macht der Zahlen: Urbanität in Größenordnungen 22
Doing City: Die Stadt aus der Perspektive des Alltagshandelns 27
Stadt – trialektisch – in Räumen denken 35
Stadttentakel und andere Metaphern 39

STADTGESCHICHTE: WURZELN UND EPISTEME WERDEN ZU RHIZOMEN
Von der »Volkskunde« zur Kulturanalyse. Kurze Geschichte einer disziplinspezifischen
Stadtforschung 45
Urban Studies: Interdisziplinäre Schulen und Ansätze 64
Camouflage: Investigation und alltagsnahe kreative Methoden 72


METHODEN DER STADTERFORSCHUNG
Wie Stadt erforschen? 81
Eine Spur verfolgen: Marseille-Algier 83

KONTEXTUALISIERUNG I: ZEIT UND RAUM
Zeitgenossenschaft 101
Gesellschaft 104

KONTEXTUALISIERUNG II: THEORETISCHE GRUNDBEGRIFFE EINER ENGAGIERTEN STADTFORSCHUNG
Offenheit als demokratisches Prinzip 111
Die Vielfalt des Städtischen: Pluralität und Stadtgerechtigkeit 125
Genderinformierte Stadtforschung 128
Historizität: die Geschichte der Gegenwart 141
Textur und Habitus einer Stadt 161
Atmosphäre, Wahrnehmung und Bewegung 172
Stadt als Ort der Bewegung: Die Rhetorik des Gehens 179
Urbanität und das Städtische 184

STADT UND GESELLSCHAFT IN DER GEGENWART
Mobilitäten 213
Zeit-Raum-Kompression 215
Die epistemischen Herausforderungen der Individualisierung 216
Raumrelativierungen durch Ortspolyzentrik und Multilokalität 218
Etappen ökonomischen Wandels: Fordismus, Postfordismus, Neoliberalismus, Gouvernementalität 221
Gentrifizierung und Kulturalisierung 225
»Das unternehmerische Selbst« und die Befreiung aus der Überlagerungsmentalität 229
Die Eigenwilligkeit der Stadt Marseille 232

»THE WHOLE WAY OF CONFLICT«: DIE STADT ALS ORT DER GREIFBARKEIT GESELLSCHAFTLICHER KONFLIKTE
Kriminalität als Gefahr und Diskurs: Gesellschaftliche Verunsicherungen 243
Krise, Migration und Integration 254

›PEOPLE MAKE CITIES, BUT CITIES MAKE CITIZENS.‹ AUSBLICKE: STADTBÜRGER_INNENSCHAFT
Die Debatte 277
Kosmopolitische Demokratie 281
Kosmopolitisch und multikulturell: zwischen Alltagsrealitäten und charismatischer Erzählung 283
Plurale Gesellschaften und ihre Gleichgewichtssysteme 286

Bibliographie 293