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Komplexität der Erziehung Geisteswissenschaft – Modelltheorie – Differenztheorie
Komplexität der Erziehung
Geisteswissenschaft – Modelltheorie – Differenztheorie




Elmar Anhalt

Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781518544 (ISBN: 3-7815-1854-X)
417 Seiten, paperback, 17 x 24cm, 2012

EUR 36,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Unterstützung der Entwicklung des Menschen ist der „imaginäre Wert“, den die Pädagogik in der Gesellschaft stabil zu halten versucht.

Die Erziehungswissenschaft erfüllt eine wichtige Funktion in der Bestimmung dieses Maßes, indem sie die Beschreibungen einer spezifisch erzieherischen Unterstützung menschlicher Entwicklung in den Blick rückt und dazu beiträgt, den Kombinationsreichtum der pädagogischen Theoriebildung zu problematisieren.

Der „imaginäre Wert“, zu dessen Stabilisierung die Erziehungswissenschaft ihre Anstrengungen unternimmt, ist dabei die Wissenschaftlichkeit von Theorien der Erziehung.

Die im 20. Jahrhundert entstehende Komplexitätsforschung stand bislang nicht im Mittelpunkt des erziehungswissenschaftlichen Interesses. Entsprechend unvorbereitet steht die Erziehungswissenschaft heute vor Fragen nach einer transdisziplinären Forschungsausrichtung, nach Beachtung der Perspektivität der Forschungssituation und der Dynamik von Sachverhalten, die erforscht werden. Zur Klärung der Wissenschaftlichkeit von Theorien der Erziehung dürfte es daher sinnvoll sein, die Problemstellungen der Komplexitätsforschung genauer zur Kenntnis zu nehmen.

Mit einem Vergleich geisteswissenschaftlicher, modelltheoretischer und differenz-theoretischer Ansätze pädagogischer Theoriebildung wird ein erster Schritt in diese Richtung gemacht.
Rezension
Dieses Buch, eine Habilitationsschrift an der Universität Köln, bringt zwei Bereiche miteinander ins Gespräch, die bislang wesentlich unvermittelt zueinander stehen: Erziehungstheorien und Komplexitätsforschung. Zur Klärung der Wissenschaftlichkeit von Theorien der Erziehung ist es sinnvoll, die Problemstellungen der Komplexitätsforschung genauer zur Kenntnis zu nehmen. Dabei stehen in dieser Darstellung im Mittelpunkt geisteswissenschaftliche, modelltheoretische und differenz-theoretische Ansätze pädagogischer Theoriebildung: Wie verhalten sich die Pädagogik und die Erziehungswissenschaft zu den Anforderungen eines Zirkels der Problemgenerierung? Auch die Erziehungswissenschaften müssen sich den Komplexitäten stellen und sich interdisziplinär öffnen.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7

1 Einleitung 13

1.1 Problemstellung 13
1.2 Beitrag zur Theoriebildung des Faches 14
1.3 Warum das Thema »erzieherische Komplexität«? 15
1.4 Komplexität als Thema pädagogischer Theoriebildung 20
1.5 Ort des Vergleichs 25
1.6 Inter- und transdisziplinäres Forschungskonzept 26
1.7 Orientierung im Zirkel der Problemgenerierung 34
1.8 Problemraum 36
1.9 Grundlagenforschung der Erziehungswissenschaft 40
1.10 Mögliche Welten der Erziehung 45
1.11 Ideen und die Freiheit von Daten 48
1.12 »Haltepunkte« und die Methode der Problemgenerierung 51
1.13 Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Zusammenhängen 56

2 Komplexität: Ein Systematisierungsvorschlag 63

2.1 Auf der Suche nach Orientierung: Gesellschaften werden komplex 64
2.2 Der Begriff der Komplexität 70
2.3 Komplexität und der Zirkel der Problemgenerierung 80
3 Die Einheit der Erziehung: Geisteswissenschaftliche Pädagogik 83
3.1 Nachhaltige Wirkungen 83
3.2 Gründe für nachhaltiges Wirken 87
3.3 Das Gegebensein der Erziehungswirklichkeit für Theorie und Praxis 87
3.4 Geisteswissenschaft und »Haltepunkte« 106
3.5 Komplexität aus geisteswissenschaftlicher Perspektive 108
3.6 Perspektivität der Erziehungswirklichkeit 110
3.7 Die Perspektive der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik 120
3.8 Reduktionsformen erzieherischer Komplexität 129
3.9 Die Einheit der Erziehung 156

4 Die Einheit der Wissenschaft: Modelltheorie 161

4.1 Nachhaltige Wirkungen 161
4.2 Gründe für nachhaltiges Wirken 164
4.3 Denken in Modellen und mit Hilfe von Modellen als Erkenntnisprogramm 169
4.4 Die Einheit der Wissenschaft 187
4.5 Komplexität der Modellbildung 200
4.6 Modellbildung als Abstraktionsleistung 202
4.7 Orientierung durch Modellbildung 211
4.8 Modell der Erziehung 219

5 Die Einheit der Unterscheidung: Differenztheorie 223

5.1 Nachhaltige Wirkungen 225
5.2 Gründe für nachhaltiges Wirken 244
5.3 Differenztheorie der soziologischen Systemtheorie 249
5.4 Identität und Selbstreferentialität 258
5.5 Differenztheorie als Logik der Systemtheorie 266
5.6 Kombinatorik von Unterscheidungen 307
5.7 Eigentümliche Reflexionsverhältnisse 308
5.8 Adäquate Komplexität 312
5.9 Abstrahierbarkeit der Realität 319
5.10 Komplexität der Erziehung 328

6 Schluss: Geisteswissenschaft – Modelltheorie – Differenztheorie 343

6.1 »und« 344
6.2 Differenzen 347
6.3 Komplexität 351
6.4 »Haltepunkte« 355
6.5 Zirkel der Problemgenerierung 357
6.6 Konstruktivität der Theoriebildung 359
6.7 Anfangen 360
6.8 Alternativen sehen 363
6.9 Neue Problemstellungen 365

7 Literatur 367


Vorwort
Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Teils meiner Habilitationsschrift,
die im Sommersemester 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität
zu Köln angenommen wurde. Der andere Teil wird unter dem Titel »Komplexität der
Forschung. Wissenschaft in der modernen Welt« erscheinen. Dort wird ein Forschungsprogramm
vorgestellt, das in der ursprünglichen Habilitationsschrift als Allgemeine Theorie
der Komplexitätsforschung bezeichnet worden war und dazu diente, die Komplexitätsforschung
der Erziehungswissenschaft als disziplinspezifische Grundlagenforschung
in den allgemeinen Zusammenhang einer inter- und transdisziplinär konzipierten wissenschaftlichen
Komplexitätsforschung einzuordnen, der selbst gerahmt wird von zahlreichen
außerwissenschaftlichen Kontextbedingungen. Die verschiedenen Kontexte stehen
in gegenseitigen Abhängigkeiten und beeinflussen wechselseitig die Veränderungsprozesse
in den einzelnen Wissenschaften, die mit disziplinär zur Verfügung stehenden Instrumenten
auf die Veränderungen reflektieren und im Dauerkontakt mit den kontextuellen
Bedingungen auf das reagieren, was mit diesen Instrumenten für sie sichtbar wird.
Die vorliegende Untersuchung stellt eine eigenständige Veröffentlichung dar, zu deren
Verständnis der andere Text nicht bekannt sein muss. In der Einleitung wird das allgemeine
Forschungsprogramm soweit nötig erläutert. An dieser Stelle möchte ich durch
wenige allgemeine Hinweise lediglich eine grobe Skizze der grundlegenden Annahmen
zeichnen, um die Einordnung deutlich zu machen.
Die Auffassung, dass die wissenschaftliche Forschung der Komplexität ihrer Gegenstände
Rechnung zu tragen habe und dass die Komplexität bearbeitende Theorie selbst einen
angemessenen Grad der Komplexität aufweisen müsse, ist nicht von Anbeginn an in der
Klarheit und Deutlichkeit erkannt worden, wie es für das Wissenschaftsverständnis der
letzten Dekaden geradezu charakteristisch geworden ist. Dies hatte mindestens zwei
Konsequenzen von allgemeiner Relevanz:
1. Einerseits verloren »einfache« Denk-, Beschreibungs- und Argumentationsmuster
deutlich an Reputation (was nicht heißen soll, dass sie sich in schwierigen Konfliktlagen
nicht doch faktisch durchzusetzen vermochten). Gegenüber Beschreibungen, die das unvorhersehbare
Zusammenspiel von Vielem mit Vielem in seinen Einzelheiten thematisieren,
wirken Beschreibungen, die von klar umgrenzten Aufgaben geradlinig zu Lösungen
mit eindeutig prognostizierten Erfolgsaussichten führen, wenig überzeugend. Es
stellt sich unwillkürlich der Verdacht ein, es werde in solchen Beschreibungen der Komplexität
der Sachverhalte und Situationen nicht genügend Beachtung geschenkt. Folglich
sei auch nicht zu erwarten, dass die Lösungsvorschläge ihre Versprechen einlösen könn-
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ten. Schließlich zeige doch die vorherrschende Erfahrung, der sich niemand zu entziehen
vermag, dass es so überschaubar geradlinig in allen Themen von Relevanz nirgends zugeht.
Es bleiben stets Fragen offen.
Mit Fragen, die das Denken herausfordern, weil Antworten nicht sogleich greifbar sind,
Fragen, die Probleme in den Horizont unserer Aufmerksamkeit rücken, für die zufriedenstellende
Lösungen nicht auf der Hand liegen, setzt die Forschung sich selbst und uns
der Ungewissheit und Unsicherheit aus. Sie trägt damit dazu bei, uns den Boden unter
den Füßen zu entziehen, und führt uns immer wieder neu vor Augen, wie fragil das
Selbst- und Weltverständnis werden kann, mit dem eine verlässliche Orientierung zuvor
gegeben war. In der Forschung werden die wie selbstverständlich in Anspruch genommenen
Voraussetzungen – auch der wissenschaftlichen Theorien selbst – prinzipiell als
bearbeitbare Probleme behandelt. Wer eine solche Einstellung einnimmt, kann alles –
nicht alles auf einmal, aber prinzipiell alles – mit einem Fragezeichen versehen und versuchen,
Antworten zu finden, die bislang noch nicht gefunden worden sind.
Die Unsicherheit, dass alles in Frage gestellt werden kann, und die Ungewissheit angesichts
von Fragen, für die es nicht sofort Antworten gibt, werden in der Forschung methodisch
kontrolliert erzeugt, also mit sicherem Tritt. In gesicherter Form arbeitet die
Forschung sich in die Unsicherheit und in das Ungewisse hinein. Sie produziert Unsicherheiten
und Ungewissheiten durch die von ihr kontrollierte methodische, d.h. sichere
und gewisse, Vorgehensweise.
Wie stark dieser Anspruch der Forschung in andere Bereiche der Gesellschaft hineinwirkt,
ist daran zu erkennen, dass man sich in weiten Teilen arrangiert hat mit der Erwartung
von dem, was nicht erwartet werden kann. Wir sind darauf eingestellt, uns überraschen
zu lassen und mit der Ungewissheit zu leben. Selbst Überzeugungen tragen wir
mit dem Index des Vorbehalts etwaiger Korrektur oder Verbesserung vor, weil davon
auszugehen ist, dass sie durch Fragen irritiert werden können. Wir wählen heute das Essen
aus und wissen, dass wir nicht wissen können, ob es verträglich und der Gesundheit
zuträglich ist. Möglich, dass uns morgen die Nachricht überraschen wird, dass wir uns
gefährden, wenn wir den Verzehr dieser Nahrungsmittel beibehalten. Wir können dann
noch die Hoffnung haben, dass diese Nachricht ihrerseits überrascht wird von der Nachricht,
dass es auch anders sein könnte.
Dies ist typisch für Lagen, in denen ein Überblick nicht mehr zur Verfügung steht. Damit
wird das Problem der Orientierung aufgeworfen. Es findet Ausdruck in der Frage:
Wie und woran kann noch Orientierung gefunden werden, wenn es nicht mehr möglich
ist, die Situation, in der man sich um Orientierung bemühen müsste, so zu ordnen, dass
der Mensch wieder »Herr der Lage« ist? Ein solches Vorhaben scheint aussichtslos zu
sein, seitdem wir uns daran gewöhnt haben, die Situation, in der man dies versuchen
müsste, nicht mehr nur aus einer Perspektive allein zu bestimmen. Es stehen immer
gleich mehrere Perspektiven gleichzeitig zur Beschreibung einer Situation bereit. Diese
Perspektiven unterscheiden sich in verschiedenen Hinsichten, weshalb der moderne Akteur
sich nicht nur in unsicheren und ungewissen Lagen verortet, sondern auch der Anspruch
an ihn herantritt, der Perspektivität Rechnung zu tragen, in der er steht.
Der Akteur wird zum teilnehmenden Beobachter eines Geschehens, das er erkunden
muss, um zu erkennen, dass er sich in gleichermaßen sicherem und unsicherem, bekanntem
und unbekanntem Terrain bewegt. Dem modernen Selbst- und Weltverständnis ent-
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spricht es daher, sein eigenes Vorhandensein in Relationen zu beschreiben und von absoluten
Bestimmungen Abstand zu nehmen. Es setzt sich in Beziehung zu dem, was es erfasst,
und vermag sich aus diesen Beziehungen nicht herauszulösen.
So aus dem Aktionszentrum des Geschehens herausgerückt, findet sich der Beobachter
inmitten von allem und allen anderen als Aspekt eines Zusammenhangs wieder, den er
wohl erahnt und partiell in konkreten Verbindungen zu bestimmen vermag, der ihn aber
in der Weise übergreift, dass sein Bemühen um Klärung der Verbindungen, Ordnungen,
Zuständigkeiten nicht mehr mit der Gewissheit vorangetrieben werden kann, wie es für
»einfachere« Ausgangslagen noch möglich zu sein schien.
Dem modernen Selbst- und Weltverständnis tut sich der Blick in die Unergründlichkeit
des Zusammenhangs auf, in dem es selbst sich verortet. Es ist ein ambivalent-prekäres
Verständnis. Ambivalent ist es, weil es keine eindeutig gesicherte Verortung für es gibt,
prekär ist es, weil alles Wissen sich die Rechtfertigung von dem Nichtwissen leiht, das
sich hinter jenem auftut. Dieses Nichtwissen tritt in verschiedenen Erscheinungsformen
auf: z.B. als zunehmende Ungewissheit in existentiell bedeutsamen Fragen, als Rätselhaftigkeit
des Daseins oder als Angst vor Risiken und gesteigerter Geschäftigkeit.
Die Komplexitätsforschung nimmt das Nichtwissen systematisch ernst. Sie nimmt das
Nichtwissen als Nichtwissen ernst, indem sie nicht beim Wissen des Nichtwissens stehenbleibt,
sondern die Grundlagen unseres Selbst- und Weltverständnisses systematisch
in Frage stellt, um Alternativen zum bereits Bekannten zu suchen. Hinterfragt wurden in
den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Überzeugungen, die Menschen haben, um in ihrem
Alltag zurechtzukommen, sondern auch die Bestände wissenschaftlichen Wissens,
die als unumstößliche Wahrheiten galten. Dies gilt nicht nur für die sogenannten »weichen
« Wissenschaften, sondern insbesondere in den »hard sciences«, wie den Naturwissenschaften
Physik, Chemie und Biologie, wurden bahnbrechende Einsichten in das ambivalent-
prekäre Verhältnis des Menschen zur und seines Wissens von der Welt erlangt.
Diese Einsichten wurden von zahlreichen Forschern, die sich mit dem Phänomen des
Komplexen befassten, systematisiert und in weiterführende Forschungsfragen eingebunden,
so dass nun von Komplexitätsforschung nicht mehr nur in den naturwissenschaftlichen
Disziplinen auszugehen ist, sondern auch in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften
Komplexität als Thema bearbeitet werden kann.
Die Komplexitätsforschung operiert an der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen,
bleibt aber diesseits dieser Grenze auf der Seite des Wissens stehen. Jenseits dieser
Grenze kann sie als Wissenschaft sich nicht aufhalten. Das Wissen des Nichtwissens ist
ja kein Nichtwissen, sondern Wissen. Durch Forschung erworbenes Wissen des Nichtwissens
ist methodisch gewonnenes Wissen.
In diesem Buch mache ich den Vorschlag, für eine Beschreibung der Situation, wie sie
hier skizziert wurde, die Kategorie Komplexität der Situation zu verwenden. Ich werde
beschreiben, wie die Erziehungswissenschaft darauf reagiert, dass die Situation der Erziehung
und ihrer Beschreibungen in den zurückliegenden Dekaden zunehmend als
komplex beschrieben worden ist. Dazu gehe ich der Frage nach, wie der Begriff der
Komplexität in drei prominenten Positionen pädagogischer Theoriebildung des 20. Jahrhunderts
gehandhabt wird.
2. Ebenfalls lässt sich beobachten: Großformatige Problemstellungen erzwangen in der
Vergangenheit zunehmend kosten- und personalintensive Anstrengungen, was neben
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vielem anderen in nicht unerheblichem Maße auch durch die Entwicklung modernster
Computertechnik begünstigt wurde. Diese hat die Denk- und Arbeitsgewohnheiten zahlreicher
Wissenschaftler gravierend beeinflusst.
Großformatige Problemstellungen führten zum einen in die Welt der »Diskurse«, in denen
die Urheberschaft von Gedanken, Einsichten und Argumenten in einer Art und Weise
wie ein chemisches Gemisch behandelt wird, dass Grenzziehungen nur noch auf weichem
Meeresstrand vorgenommen werden und die Zuschreibung von Verantwortung zu
einem müßigen Glasperlenspiel gerät. Die Informationsströme fließen heute nicht mehr
nur in den engen Schranken des gedruckt vertriebenen Wortes, sondern breiten sich in
ungeahnter Geschwindigkeit auch in den Netzen der globalen Internetweiten aus. Ausfindig
machen wir bestenfalls noch »Spuren«, die auf die Perspektivität der Situationen
zurückführen, in denen wir die Vergangenheit unseres jeweiligen Selbst- und Weltverständnisses
uns historisch vergegenwärtigen. Wir bestimmen Redeweisen und Rituale
der Verdichtung von Informationen, mit denen in einer Disziplin Wissen angereichert
wird, und spüren dem nach, was zur Sprache kommt, wenn in der Wissenschaft zu einem
Thema Stellung genommen wird, und merken, dass bald schon wieder ein neuer Gedanke
auftaucht, dessen Ursprung sich aber wiederum in den Fährten verlieren wird, denen
Beobachter nachgehen.
Auch diese Einsicht hat breite Kreise gezogen. Das moderne Selbst- und Weltverständnis
beschreiben wir nicht mehr als vergangenenheitsbestimmt, sondern als zukunftsgerichtet.
Es geht davon aus, dass es nicht in der Vergangenheit die Ursachen und Gründe
findet, die sein heutiges Handeln bestimmen. Es geht vielmehr davon aus, dass es dazu
bestimmt ist, die Zukunft zu gestalten, um den Veränderungen nicht tatenlos zuschauen
zu müssen, die dauernd, auch ohne unser Zutun stattfinden. Im unüberblickbaren Netz
von Verweisungen sollen unsere Errungenschaften »Spuren« hinterlassen, damit wenigstens
etwas bleibt, wenn ansonsten schon nichts mehr festgehalten werden kann. Das moderne
Selbst- und Weltverständnis löst sich damit zusehends aus den adressierbaren Bindungen
verantwortlichen Handelns.
Großformatige Problemstellungen führten zum anderen dazu, dass zunehmend mehr
»Rechenprozesse«, die früher noch von Menschen ausgeführt werden mussten, an Apparate
abgegeben wurden. Gegenüber der Rechenleistung dieser Apparate ist das menschliche
Denkvermögen zu langsam, kapazitativ zu eingeschränkt, zu fehleranfällig, zu
schnell erschöpft, zu sehr mit Skrupeln behaftet und alles in allem zu leicht irritierbar
und ablenkbar. Diese Entwicklung führte auch dazu, dass die menschliche Urteilsfähigkeit
sich in immer mehr Sachfragen auf Ergebnisse der Datenproduktion und softwarebasierten
Sachverhaltsanalyse verlassen musste, um vertretbare Entscheidungen in existentiell
bedeutsamen Lagen treffen zu können. Mittlerweile ist dieser Vorgang soweit
fortgeschritten, dass die menschliche Urteilsfähigkeit die Eigendynamik technologischer
Prozesse ins Kalkül ziehen muss (wie z.B. bei globalen finanziellen Transaktionen im
Bankenwesen), um überhaupt noch wissen zu können, was vor sich geht.
Dem modernen Selbst- und Weltverständnis scheint damit klar vor Augen zu stehen,
dass es seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände richtet, die sich der vollständigen Analyse
und Synthese mit menschlichen Mitteln entziehen. Hatte René Descartes noch den
Vorschlag unterbreitet, auf klare und eindeutige sowie nicht weiter aufteilbare Momente
zurückzugehen, um letzte Fundamente zu ergründen, die dann in der aufsteigenden Syn-
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these wieder zum Gesamtbild zusammengefügt werden, so können wir heute wissen,
dass dieses Verfahren weder für die Selbstanalyse noch für die Bestimmung von Sachverhalten,
mit denen wir umgehen, als ein erwartbar erfolgreiches Vorgehen anzusehen
ist. Nirgends finden wir letzte, für sich stehende Teile, die nur noch passgenau mit anderen
zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden müssten. Weder in mir findet sich ein
»Ich«, »Selbst« oder »Subjekt« von dieser Qualität noch außerhalb von uns ist etwas wie
»Gesellschaft«, »Umwelt«, »Natur« oder »Welt« zu entdecken, die sich in letzte Teile
auflösen und zusammenbauen ließen.
Auch die Gegenstände werden in Relationen bestimmt. Wie betrachten sie als Orte in
größeren Zusammenhängen und attestieren diesen Zusammenhängen, dass sie sich nach
Gesetzen verändern, die wir (heute) nicht zu durchschauen vermögen. Die Zusammenhänge
sind ausschlaggebend für die Veränderungen an den Orten in ihnen. Deshalb verlangen
wir von angemessenen Beschreibungen, dass sie den jeweiligen Gegenstand nicht
vorab in Kategorien »einfrieren«, die keinen Raum für Prozesse lassen, die sich in der
Zeit der Beobachtung ereignen können. Vielmehr soll auch beachtet werden, dass die
Beschaffenheit des Gegenstandes sich nach Gesetzmäßigkeiten wandeln kann, die nicht
von den Beschreibungskategorien abhängen, die wir anzuwenden gewöhnt sind. Wir attestieren
den Gegenständen, die wir thematisieren, deshalb eine »Eigendynamik«, die einen
Beobachter immer wieder überraschen kann.
Wer diese Annahmen teilt, richtet seine Aufmerksamkeit auf die Komplexität des Sachverhalts.
Dieser Begriff bezeichnet Sachverhalte, die sich anhand klar angebbarer Kriterien
von einfachen und komplizierten Sachverhalten unterscheiden lassen. In diesem
Buch gehe ich der Frage nach, ob und, wenn ja, wie die pädagogische Theoriebildung
auf den Umstand reagiert (hat), dass die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts sich zunehmend
der Erforschung komplexer Sachverhalte zugewandt hat.
Die hier nur grob skizzierte Ausrichtung der Komplexitätsforschung hat nicht nur mit
dazu beigetragen, dass die Differenz zwischen einer wissenschaftlichen Einstellung zur
Welt und anderen Einstellungen immer deutlicher in den Blick geriet. Sie hat vor allem
die Wissenschaft selbst einem Anspruch ausgesetzt, der ihren Fortgang bis in die Einzelforschungen
hinein prägt. Das Verständnis, das wir heute von wissenschaftlicher Forschung
haben, unterscheidet sich daher grundlegend von dem Verständnis, das noch bis
zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegengebracht
wurde. Komplexität ist dabei geradezu zu einem Gravitationszentrum der verschiedenen
Entwicklungen geworden.
Die Einleitung erläutert die wichtigsten Begriffe, mit denen die angedeutete Umorientierung
in der Wissenschaft beschrieben werden kann. Es ist der Zirkel der Problemgenerierung,
in dem sich die wissenschaftliche Forschung aufhält und ihre Erkenntnisse gewinnt,
indem sie in vorhandenen wissenschaftlichen Theorien »Haltepunkte« ausfindig
macht, auf die diese zurückgreifen müssen, um ihre Beschreibungen anfertigen zu können.
Da die Kritik an Theorien ihrerseits »Haltepunkte« voraussetzen muss, bietet sie
selbst wiederum Anknüpfungspunkte für eine Kritik.
Im Fortgang solcher Kritik an »Haltepunkten« entfaltet sich eine Situation, in der notwendig
verschiedene Perspektiven Berücksichtigung finden müssen, wenn über einen
Sachverhalt nachgedacht wird. Dies hat nicht nur zu der Forderung nach mehr Interdis-
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ziplinarität geführt, sondern auch die Forderung nach Transdisziplinarität mit sich gebracht.
Jetzt sollen schon bei der Formulierung von Problemstellungen auch die Erkenntnisse
einbezogen werden, die nicht nur in der eigenen Disziplin gewonnen worden
sein können. Es gilt vielmehr, dass eine Problemstellung umso gehaltvoller ist (und die
an sie anknüpfende Forschung einen entsprechend gehaltvolleren Erkenntnisfortschritt in
Aussicht stellt), je besser es ihr gelingt, die Problemsicht anderer Disziplinen fruchtbar
in die eigene Forschungsfrage zu integrieren. Dies hat nicht nur die überkommene Einteilung
der Wissenschaft in Fächer und Disziplinen fragwürdig werden lassen, sondern
offenkundig wurde auch, dass Gegenstandsmarkierungen aufbrachen und Problemstellungen
an Prominenz gewannen, die sich der Zuordnung zu einzelnen Fächern und Disziplinen
entziehen. Die Erziehungswissenschaft kennt solche Problemstellungen zur Genüge,
da sie sich der Ausweitung ihres Gegenstandsgebietes noch nie nachhaltig entgegenzusetzen
vermochte.
Der Umstand, dass eine wissenschaftliche Beschreibung in einer Situation der Perspektivität
angefertigt wird, ist ein nicht wegzudenkendes Kennzeichen des modernen Verständnisses
von Wissenschaft. Als Folge der Selbstkritik der Wissenschaft geriet die Differenz
wissenschaftlich | außerwissenschaftlich in postmodernen Zirkeln unter die Räder,
was zu einer neuen Herausforderung für wissenschaftliche Beschreibungen führte.
Schien es früher möglich zu sein, einen Raum der scientific community relativ trennscharf
und stabil von anderen communities abzugrenzen, wird heute die Forderung erhoben,
bereits bei der Formulierung von Forschungsfragen sollten außerwissenschaftliche
Perspektiven zur Geltung kommen.
Wie die pädagogische Theoriebildung auf diese Veränderungen reagiert hat, thematisiere
ich durch einen Vergleich zwischen geisteswissenschaftlichen, modell- und differenztheoretischen
Ansätzen. Eine der Frage, der ich dabei nachgehe, betrifft das Verhältnis
von Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft und Zirkel der Problemgenerierung: Wie
verhalten sich die Pädagogik und die Erziehungswissenschaft zu den Anforderungen des
Zirkels der Problemgenerierung?
Die Fertigstellung der ursprünglichen Habilitationsschrift wäre ohne die Unterstützung
verschiedener Personen nicht möglich gewesen. In nicht einfachen Phasen konnte ich
stets auf diese Unterstützung bauen. Diese Menschen an dieser Stelle namentlich zu
nennen, würde dem nicht gerecht werden. Sie wissen nur zu gut, wer gemeint ist.
Dass ein Teil der Habilitationsschrift in überarbeiteter Form in der Reihe der Kommission
Wissenschaftsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im
Klinkhardt Verlag erscheinen kann, freut mich sehr. Dafür gilt mein Dank besonders
dem Vorstand, namentlich Edwin Keiner und Volker Kraft.
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